Drohende Klimakatastrophe: “Wir können jetzt gerade damit beginnen, die Welt schrittweise zu verändern.”

 

“Fleisch aus konventioneller Produktion wird für unsere Enkelkinder dereinst das sein, was für uns heute die Audiokassette ist: ein aus der Zeit gefallenes Relikt.” Das sagte nicht etwa eine Klimaaktivistin oder ein Klimaaktivist, sondern das renommierte Gottlieb-Duttweiler-Institut (GDI) aus Rüschlikon bei Zürich, eine weitgehend von der Migros finanzierte Denkfabrik. Unseren heutigen Fleischkonsum, so das GDI, könnten wir uns nicht mehr leisten, wenn wir unsere Klimaziele erreichen wollten, deshalb sollte die Schweiz, so die Folgerung des GDI, bis 2050 fleischfrei sein. Dabei geht es aber, was das GDI nicht erwähnt, nicht nur um die Klimaziele. Es geht vor allem auch um die globale Versorgung mit Nahrungsmitteln. Schon vor 50 Jahren arbeiteten Schweizer Entwicklungsorganisationen mit dem Slogan “Das Vieh der Reichen frisst das Brot der Armen”. Daran hat sich bis heute nichts geändert, im Gegenteil: Würde man sämtliche Flächen, wo heute Futtermittel für Nutztiere angebaut werden, für die Produktion pflanzlicher Nahrungsmittel verwenden, so stünde weltweit genügend Nahrung zur Verfügung, um alle Menschen ausreichend zu versorgen. Dank neuester Forschung dürfte es zwar bald schon möglich sein, natürliches durch künstliches, industriell erzeugtes Fleisch zu ersetzen, doch bleiben noch mehr als genug liebgewonnene Gewohnheiten, auf die wir – oder mindestens all jene, die es sich leisten können – ganz und gar nicht verzichten möchten, vom neuesten Elektromobil, ausgestattet mit jeglichem Komfort, einem Zweit- oder gar Drittauto, einem oder mehreren E-Bikes über Arsenale von Elektronik- und Unterhaltungsgeräten bis zum Ferienflug nach Teneriffa oder auf die Malediven. Der von Jahr zu Jahr wachsende Energieverbrauch, eine sich immer aggressiver gebärdende Werbeindustrie und der offensichtlich schon gerade “heilige” Glaube an ein unbegrenztes Wirtschaftswachstum sind Zeichen und die Folge davon, dass wir nie wirklich genug bekommen können. Und dies, obwohl die Alarmglocken an allen Ecken und Enden immer lauter klingeln. Sage und schreibe drei Mal so viel Energie und drei Mal so viele Ressourcen, wie die Erde wieder nachwachsen lässt, verbraucht die Schweizer Bevölkerung Jahr für Jahr. Es gibt nur zwei Antworten darauf: entweder Augen zu und unten durch und nach uns die Sintflut. Oder aber etwas, was man als echte “Zeitenwende” bezeichnen könnte. “Entweder”, sagte der britische Historiker Eric Hobsbawn, “hören wir mit der Ideologie des grenzenlosen Wachstums auf, oder es passiert eine schreckliche Katastrophe. Heute geht es um das Überleben der Menschheit.” Die Zeitenwende: Erkennen, dass wir uns nicht mehr, wie kleine Kinder mit vollem Wunschzettel, all das leisten können, was wir so gerne hätten. Bescheidener werden. Verzichten lernen. Mehr Teilen als Besitzen. Liebgewonnene Gewohnheiten hinterfragen. Noch schlägt all jenen, die mehr “Konsumverzicht” fordern, ein rauer Wind entgegen – von all denen, die sich nicht von ihrem hart erarbeiteten Wohlstand verabschieden wollen und die sich, vor allem, durch nichts und niemanden und schon gar nicht von Grünen oder Klimajugendlichen vorschreiben lassen wollen, wie sie zu leben haben. Sie alle berufen sich dabei auf “Freiheit” und “Demokratie” und malen das Zerrbild einer zukünftigen “Ökodiktatur” an die Wand. Dabei ist es ja gerade umgekehrt: Wer heute den Konsumverzicht und ein bewusstes Umgehen mit den natürlichen Ressourcen fordert, garantiert damit gerade dafür, dass Freiheit und Demokratie auch weiterhin möglich sind, und zwar nicht nur für ein paar wenige Privilegierte, sondern für die Menschheit als Ganzes. Wer auf immer weiter wachsenden Wohlstand nicht verzichten möchte, verwechselt Privilegien und Freiheiten. Privilegien sind das, was sich Einzelne auf Kosten anderer leisten können, die Reichen auf Kosten der Armen, die Länder des Nordens auf Kosten der Länder des Südens, die heute lebenden Menschen auf Kosten all jener, die nach uns leben werden. Echte Freiheit dagegen ist untrennbar verbunden mit sozialer Gerechtigkeit. Echte Freiheit ist die Freiheit aller. Frei bin ich stets nur in dem Masse, wie auch alle anderen Menschen frei sind und ein gutes Leben haben. “Die Welt”, sagte Mahatma Gandhi, “hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier.” Also doch die Ökodiktatur? Zuteilung und Rationierung knapp gewordener Güter und Ressourcen wie zur Zeit des Zweiten Weltkriegs? Ein Szenario, das sich wohl niemand wünscht. Ungleich viel verlockender ist die Vision eines Wertewandels, der aus Einsicht, Vernunft und auf freiwilliger Basis erfolgen würde und gleichzeitig von einer Wirtschaft, die vom Wachstumsdogma Abschied nehmen müsste, und von einer Gesellschaft, die den Unterschied übertriebener Gier und echten Bedürfnissen erlernen würde, getragen wäre. “Die Frage ist”, sagte der britische Philosoph Bertrand Russell, “wie man die Menschheit davon überzeugen kann, in ihr eigenes Überleben einzuwilligen.” Die wohl eindrücklichste und ergreifendste Antwort auf diese Frage hat Anne Frank gegeben, die im Alter von 16 Jahren im Konzentrationslager Bergen-Belsen starb und am 25. März 1944 Folgendes in ihr Tagebuch geschrieben hatte: “Wunderbar, dass niemand warten muss. Wir können jetzt gerade damit beginnen, die Welt schrittweise zu verändern.”