Dringend: Stimmrechtalter Null

In der Schweizer Politik vertieft sich der Graben zwischen Jung und Alt. Die Rentner verlieren derzeit kaum eine Abstimmung, während sich die Jungen bei gewissen Fragen nur schwer durchsetzen können. Dies zeigen die Vox- und Voto-Analysen zu den Urnengängen der jetzigen Legislatur. Demnach hat die Gruppe der über 60Jährigen nur einmal den Kürzeren gezogen, beim Nein zur Abschaffung der Heiratsstrafe. Die Jungen wurden demgegenüber bei jedem fünften Urnengang in die Minderheit versetzt. Sie hätten etwa die letzte AHV-Reform, den fixen Atomausstieg und die Initiative für eine grüne Wirtschaft angenommen. Umgekehrt wehrten sie sich erfolglos gegen Sozialdetektive und neue Überwachungsmittel für den Nachrichtendienst.

(NZZ am Sonntag, 24. Februar 2019)

Niemanden scheint es zu interessieren, ob der 85Jährige, der seinen Stimmausweis ausfüllt, noch in vollem Besitz seiner geistigen Kräfte ist und ob er die Vorlage, über die er abstimmt, wirklich verstanden hat oder ob er bloss von seinem Sohn oder seiner Tochter dazu gedrängt wurde, so oder anders abzustimmen. Wenn aber jemand auf die Idee kommt, das Stimmrechtsalter auf 16, 14 oder gar auf Null herabzusetzen, dann ertönen von allen Seiten kritische Stimmen: Unter 18 Jahren sei doch niemand reif, sich eine glaubwürdige eigene Meinung zu bilden, und viel zu stark wäre das Abstimmungsverhalten eines 14- oder 16Jährigen von seinen Eltern, älteren Geschwistern oder anderen Erwachsenen beeinflusst. Führen wir uns die gegenwärtige Klimastreikbewegung, die ausschliesslich von Jugendlichen initiiert wurde, vor Augen, kommen wir zu einem gänzlich anderen Bild: Sehr wohl sind Kinder und Jugendliche in der Lage, sich mit politischen Fragen ernsthaft auseinanderzusetzen. Vor allem aber sind sie es, die Entscheidungen, welche heute getroffen werden, noch am längsten ausfressen müssen, zu einem Zeitpunkt noch, wenn die Älteren, die heute abstimmen, längst schon gestorben sind. Wenn ich mir die kleine Samira, die jetzt fünfeinhalb Jahre alt ist, vorstelle, dann kann man mit ihr schon ganz vernünftig über gewisse «politische» Themen sprechen, es gibt Abstimmungen, bei denen sie schon eine ganz klare Meinung hätte. Weshalb sollte sie ihre kindliche Stimme nicht abgeben dürfen? Sie müsste ja nicht zu allen Abstimmungen Stellung nehmen, das tun Erwachsene übrigens auch nicht. Freilich setzt das voraus, dass Eltern ihre Kinder nicht einseitig beeinflussen, sondern möglichst objektiv über die Vor- und Nachteile der betreffenden Sachvorlage informieren. Das soll nicht möglich sein? Dann muss man es eben möglich machen, zum Beispiel durch spezifische Elternkurse zum Thema «Demokratie in der Familie und Demokratie in der Gesellschaft». Das Gleiche gilt für die Schule: Es wäre die Kunst der Lehrkräfte, die Kinder in einfachen Worten über den Inhalt einer Abstimmungsvorlage aufzuklären, ohne ihnen dabei die eigene Meinung aufzudrängen. Eine anspruchsvolle Aufgabe, aber unerlässliche Voraussetzung einer umfassenden Demokratisierung der Gesellschaft, welche keine Diskriminierungen kennt, weder nach Hautfarbe, nach sozialem Status, nach Religion, noch nach Alter.