Dringend notwendige Überwindung des Kapitalismus: Was alle angeht, können nur alle lösen

 

“Wir müssen nicht runter mit den Löhnen, sondern die anderen Länder müssen rauf mit den Löhnen. In Europa erkennt man langsam, dass ein reiner Preiskampf alle nur ärmer macht.” Das sagte nicht etwa ein Gewerkschafter oder eine Sozialdemokratin, sondern Hansuli Loosli, Verwaltungsratspräsident von Coop und Swisscom. Ein kapitalistischer Unternehmer stellt also eines der zentralen Prinzipien des kapitalistischen Wirtschaftssystems, nämlich den freien Konkurrenzkampf auf dem offenen, möglichst uneingeschränkten Feld der freien Marktwirtschaft in Frage. Ist er somit ein verkappter Linker oder gar ein heimlicher Antikapitalist? Natürlich nicht. Und doch zeigt uns dieses Beispiel, dass das Unbehagen über die Exzesse des kapitalistischen Wirtschaftssystems weit über jene paar linken “Utopisten” und Weltveränderer hinausgeht, die man in der Regel als “Antikapitalisten” zu bezeichnen pflegt. Bestätigt wird diese Beobachtung durch eine kürzlich in Deutschland durchgeführte Umfrage, wonach 56 Prozent der Befragten die Meinung vertrat, der Kapitalismus richte mehr Schaden als Nutzen an. Es sind eben nicht nur die Fliessbandarbeiter in den Schlachthöfen, die Lastwagenfahrer, die zehn Stunden hintereinander ohne Pause am Steuer sitzen, und die Zimmermädchen in den Hotels, die im Zehnminutentakt ein Zimmer nach dem andern auf Hochglanz zu bringen haben, es sind nicht nur sie alle und viele, viele mehr, die unter dem kapitalistischen Wettbewerbsdruck und gegenseitigen Konkurrenzkampf leiden. Es sind auch die Firmenchefs, Unternehmer und Betriebsleiter, die laufend höhere Umsätze auszuweisen haben und sich im Wettbewerb mit ihren Konkurrenten jeden Millimeter erkämpfen müssen, um ihre Produkte gewinnbringend abzusetzen. Es ist auch jener Personalchef, an den ich mich gut erinnere und der über Wochen hinweg nicht mehr richtig schlafen konnte, weil er im Zuge von Sparmassnahmen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen entlassen musste, mit denen er freundschaftlich verbunden war. Es gibt eben im Kapitalismus nicht die “bösen” Ausbeuter und die “armen” Ausgebeuteten. Alle werden auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlichem Ausmass ausgebeutet. Alle werden auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlichem Ausmass krank, das Rückenleiden der Amazonarbeiterin und das Burnout des IT-Managers sind bloss Symptome der alleinigen und gleichen Krankheit genannt Kapitalismus. Doch so lange die Menschen dies nicht erkennen und immer noch die Meinung vorherrscht, dieser Kapitalismus wäre gleichsam etwas Natürliches, Gottgegebenes, so lange kann sich nicht grundsätzlich etwas ändern. Die Unzufriedenheit des Arbeiters staut sich an zur Wut gegen seinen Vorgesetzten. Dieser wiederum sammelt seine Wut gegen den Firmenchef. Und jeder richtet seine Wut wiederum gegen alle seine Konkurrenten am Arbeitsplatz. Alle diese verpuffte Wut aber müsste sich nicht gegenseitig gegen Menschen richten, sondern gegen das System als Ganzes. Gleiches lässt sich zur Klimabewegung sagen: Es nützt nichts, die Wut gegen jene “bösen” Unternehmen zu richten, die mit der Gewinnung von Kohle, Erdgas und Öl ihre Profite erwirtschaften. Denn auch diese wiederum sind nur einzelne Rädchen in diesem weltweiten kapitalistischen Ausbeutungssystem, unter dem nicht nur die Menschen, sondern eben auch die Natur unsäglich leidet. “Böse” ist nicht dieser oder jener Mensch, dieses oder jenes Unternehmen. Böse ist, wenn schon, das System als Ganzes. Und deshalb kann sich nur dann dauerhaft etwas verändern, wenn wir damit aufhören, uns gegenseitig die Schuld in die Schuhe zu schieben, statt gemeinsam diese unerlässliche Aufgabe einer Überwindung des Kapitalismus und des Aufbaues einer neuen, sowohl menschen- wie auch naturgerechten Wirtschaftsordnung in Angriff zu nehmen. Denn, wie schon der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt sagte: “Was alle angeht, können nur alle lösen.”