Dreadlocks und farbige Gewänder als “kulturelle Aneignung” – und was ist mit der ökonomischen Aneignung?

 

Am 18. Juli, so berichtet der “Tagesanzeiger” am 27. Juli 2022, bricht die Berner Brasserie Lorraine ein Konzert der Band Lauwarm ab. Der Grund: Reklamationen aus dem Publikum, wonach es sich bei den Frisuren einzelner Bandmitglieder – Dreadlocks -, den Kleidern – farbige Gewänder aus Gambia und Senegal – sowie der Musik – Reggae bis Indie World – um “kulturelle Aneignung” handle. Mit der gleichen Begründung wurde unlängst auch in Hannover die Sängerin Ronja Maltzahn, welche ebenfalls mit Dreadlocks an einem Konzert auftreten wollte, von Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten wieder ausgeladen. “Mit dem Begriff der kulturellen Aneignung”, so der “Tagesanzeiger”, “wird die Übernahme eines Bestandteils einer Kultur von Trägerinnen und Trägern einer anderen Kultur oder Identität bezeichnet.” Sozusagen ein Raubbau also an fremdem Kulturgut, was in den Augen der Gegnerinnen und Gegner einer kulturellen Aneignung verwerflich sei. Mit dieser Argumentation kann Dominik Plumettaz, Leadsänger von Lauwarm, nichts anfangen: “Wenn wir etwas aus einer anderen Kultur nutzen”, so begründet er seinen Standpunkt, “ist das etwas, was uns weiterträgt und auch bereichernd ist.” Und auch Harald Fischer-Tiné, Professor für Kolonialismus und Imperialismus an der ETH Zürich, kann dem Vorwurf der kulturellen Aneignung in Form musikalischer Ausdrucksformen nichts abgewinnen: “Würde man kulturelle Aneignung verbieten, dann wäre keine populäre Musikform mehr spielbar, weder Jazz noch Blues, Rock, Tango oder Hip-Hop. Popmusik beruht stets auf der Vermischung von unterschiedlichen musikalischen Traditionen, Stilen und Instrumentarien. Nur so kann letztlich Neues entstehen.” Man könnte in der Diskussion rund um “kulturelle Aneignung” sogar noch einen Schritt weitergehen und die Frage aufwerfen, ob solche Diskussionen um Frisuren, Modestile und dergleichen nicht von einem ungleich viel grösseren Problem ablenken, nämlich von dem, was man als “ökonomische Aneignung” bezeichnen könnte. Höchstwahrscheinlich tragen viele der Frauen und Männer, die das Konzert der Gruppe Lauwarm besuchten, Kleider, die weit fort, in Bangladesch, Südkorea oder anderswo gefertigt wurden und hierzulande nur deshalb so billig sind, weil die Arbeiterinnen und Arbeiter tausende von Kilometern von uns entfernt vierzehn Stunden pro Tag schuften müssen und erst noch kaum etwas verdienen. Die meisten Konzertbesucherinnen und Konzertbesucher werden zweifellos auch ein Handy besitzen, mit dem sie Bilder vom Konzert an ihre Liebsten schicken können – Handys, die ebenfalls fernab dank billiger Arbeitskräfte gefertigt worden sind und die ohne seltene Metalle, tief aus afrikanischer Erde geschürft, nicht eine Sekunde lang funktionieren würden. Und wie ist es mit dem Kaffee, der nach dem Konzert genossen wird, wie ist es mit den tropischen Früchten, die man am späteren Abend verzehren wird, wie ist es mit dem E-Bike oder dem Automobil, mit dem man am nächsten Tag zur Arbeit fahren wird, wie ist es mit Sportgeräten, den Spielsachen und den Schmuckstücken unter dem Weihnachtsbaum? In allem steckt billige Arbeit, Ausbeutung, “ökonomische Aneignung”. Und auch das ist längst noch nicht alles. Blenden wir um 500 Jahre zurück, dann sehen wir, dass der europäische Reichtum und damit das Fundament, auf dem der Kapitalismus und unser heutiger Wohlstand beruhen, nur möglich wurde durch millionenfache Sklavenarbeit auf den Feldern, den Plantagen und in den Minen Amerikas und durch die gnadenlose Ausbeutung Afrikas auf der unersättlichen Suche nach all jenen Rohstoffen, Bodenschätzen und Früchten, die sich nach und nach in die Goldberge und die unermesslichen Besitztümer des Nordens verwandelt haben bis zum heutigen Tag. Wer sich über “kulturelle Aneignung” empört, müsste sich über die “ökonomische Aneignung” um ein Vielfaches mehr empören, denn diese ist zwar viel weniger sichtbar, dafür aber viel umfassender, alles durchdringend. Die Brasserie Lorraine, wo das Konzert mit der Gruppe Lauwarm abgesagt wurde, plant nun eine Diskussionsrunde zum Thema. Das ist löblich. Noch löblicher wäre es, man würde eine solche Diskussionsrunde ausweiten und nicht nur von kultureller Aneignung sprechen, sondern auch von der ökonomischen bis hin zu den Grundlagen und Zusammenhängen des kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems. Solange aber sollen Musikerinnen und Musiker mit Frisuren und in Gewändern auftreten dürfen, so bunt, vielfältig und verwirrend sie auch sein mögen. Das Letzte, was wir brauchen, ist so etwas wie eine Sittenpolizei, das Beste, was wir brauchen, ist eine gründliche, systematische Auseinandersetzung mit den tatsächlichen Macht- und Ausbeutungsverhältnissen, in die wir alle, ob wir wollen oder nicht und ganz unabhängig davon, wie wir uns kleiden und frisieren, verstrickt sind und die wir daher auch nur alle gemeinsam überwinden können.