„Es gibt eine weltweite Tendenz, wonach die nationale Politik zunehmend von Gerichten und internationalen Abkommen bestimmt wird“, so der Historiker Oliver Zimmer in der „Sonntagszeitung“ vom 12. Januar 2025, „die gewählten Politikerinnen und Politiker haben immer weniger Handlungsspielraum. So wird die Demokratie untergraben und die Menschen haben das Gefühl, dass es eigentlich gar keine Rolle mehr spielt, wen sie wählen, denn die Bandbreite, worüber die gewählten Politikerinnen und Politiker noch bestimmen können, ist sehr schmal geworden.“
Dass in den Demokratien die Handlungsspielräume für die Politik immer kleiner werden, mag gewiss ein Grund dafür sein, dass sich immer mehr Bürgerinnen und Bürger von den etablierten Parteien abwenden und rechtsnationale Kräfte vermehrt Zulauf erhalten. Es gibt aber noch einen weiteren, vermutlich viel wesentlicheren Grund. Er lässt sich mit einem Wort auf den Punkt bringen: Kapitalismus. Denn wir leben nicht nur in mehr oder weniger schlecht funktionierenden Demokratien. Wir leben gleichzeitig auch in einem kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem und fast alle Probleme, mit denen wir uns heute immer hilfloser herumschlagen, sind unmittelbare Folgen dieses Systems, das auf den Prinzipien grösstmöglicher Profitmaximierung und unaufhörlichen Wachstums beruht: Stetige Umlagerung des Reichtums von der Arbeit zum Kapital, zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich, immer weniger Geld für öffentliche Aufgaben, maximale Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft und natürlicher Ressourcen, zunehmender Druck am Arbeitsplatz, psychische Belastungen durch Überforderung auf der einen und wachsender Arbeitslosigkeit auf der anderen Seite, Verkehrsprobleme, Umweltzerstörung und Klimakrise, negative Folgen von Migration. Kurz: Ein System, das, wie immer mehr Menschen bewusst wird, aufgrund seiner inneren Widersprüche früher oder später kollabieren muss.
Leider, und das ist das Verhängnisvolle, existiert auf der linken Seite kaum mehr die glaubwürdige Vision einer Alternative zum Kapitalismus. Umso höher auf der anderen Seite des politischen Spektrums die Gunst der Stunde, von der laufend wachsenden Unzufriedenheit der Menschen zu profitieren. Diese Entwicklung lässt sich nicht aufhalten, indem man die Parteien am rechten Rand zu bekämpfen versucht, sie werden dadurch höchstens noch stärker. Was es dringendst braucht, ist eine glaubwürdige Alternative auf der linken Seite. Wahrscheinlich wird man schon bald erkennen, dass die Grundidee des Sozialismus doch nicht ganz so schlecht war. Man müsste sie wahrscheinlich nur noch einmal von Grund auf sorgfältig durchdenken und mit dem Ideal von Freiheit und Selbstbestimmung in Einklang bringen. Das dürfte nicht einmal so schwierig sein, denn Freiheit im Kapitalismus ist schon längst keine echte Freiheit mehr, es sind je länger je mehr nur noch Privilegien der einen auf Kosten der anderen.