Die zehn nicht hinterfragten Glaubenssätze des Kapitalismus

Von “sektenähnlichen Zuständen” spricht das “Tagblatt” vom 20. September 2022 im Zusammenhang mit dem Kioskbetreiber Selecta, wo kürzlich ein auf Englisch verfasster Leitfaden mit zehn Geboten für die Manager und die Angestellten des Unternehmens eingeführt worden ist. Die zehn Gebote umfassen “Prinzipien, Werte und unseren Weg zur Grossartigkeit”. Wer bei Selecta arbeite, der werde damit “Teil eines Kults, getragen vom fanatischen Glauben an das, was wir tun, und das totale Engagement dafür.” Jeder, der zu Selecta komme, müsse demnach die Kultur, von welcher er komme, vor der Türe ablegen. Bei Schulungsmeetings würden die Angestellten dazu angehalten, die Glaubenssätze im Chor nachzusprechen. Jeder der PR-Sätze beginne dabei mit “We believe” – wir glauben.

Nun kann man sich über solcherlei entweder empören oder ganz einfach lustig machen. Doch ist nicht unser ganzes kapitalistisches Wirtschaftssystem ein riesiges, umfassendes Glaubenssystem? Ein Glaubenssystem, das wir nur deshalb nicht als solches wahrnehmen, weil es ganz und gar in unser Fleisch und Blut übergegangen ist und weit und breit keine Alternative dazu in Sicht ist, so dass wir, wie bei einer Religion, dessen Glaubenssätze gar nicht mehr hinterfragen und davon ausgehen, dass der Kapitalismus die einzige mögliche Art und Weise bildet, unsere Wirtschaft, die Arbeitswelt und das Alltagsleben zu gestalten.

Wie bei der Bibel mit ihren zehn Geboten, können wir auch beim Kapitalismus von zehn Glaubenssätzen sprechen. Jeder dieser Glaubenssätze betrifft innerhalb der kapitalistischen Wertewelt so etwas wie eine unumstössliche Wahrheit, die unser Leben bis in Einzelheiten dominiert, sich bei näherem Hinsehen aber sogleich als eine Art Seifenblase entpuppt, die mit wenigen kritischen Gedanken zum Platzen gebracht werden kann.

Der erste kapitalistische Glaubenssatz lautet, der Freie Markt sei das wirkungsvollste Mittel, um eine möglichst gerechte Abstimmung zwischen den Bedürfnissen der Menschen und der Produktion von Gütern sicherzustellen. Tatsache ist, dass genau das Gegenteil der Fall ist, denn im sogenannten “Freien Markt” fliessen die Güter in aller Regel nicht dorthin, wo die Menschen sie am meisten brauchen, sondern dorthin, wo damit am meisten Geld verdient werden kann. Der zweite kapitalistische Glaubenssatz besagt, Geld vermehre sich von selber, wenn man es nur genug geschickt anlege. Tatsache aber ist, dass jeder Rappen, den jemand durch das Besitzen bzw. Anlegen von Geld “verdient”, von einem anderen, der mit seiner Arbeit weniger verdient, als diese Arbeit eigentlich Wert wäre, hart erarbeitet werden muss. Der dritte kapitalistische Glaubenssatz behauptet, Konkurrenz führe zwangsläufig zu Innovation und zu Fortschritt. Tatsache ist, dass der gegenseitige Konkurrenzkampf, wenn wir etwa an das Automobil, an die Digitalisierung oder an die Weltraumtechnik denken, vor allem zu technologischen Innovationen führt, während wünschbare gesellschaftliche Fortschritte wie etwa die soziale Gerechtigkeit, die Bekämpfung von Armut und Hunger oder des Klimawandels fast gänzlich auf der Strecke bleiben. Der vierte kapitalistische Glaubenssatz besteht darin, dass die wirtschaftliche Leistung eines Unternehmens oder einer Volkswirtschaft existenziell auf immerwährendes Wachstum angewiesen und ohne Wachstum zum Scheitern verurteilt sei. Tatsache ist, dass unendliches Wachstum in einer endlichen Welt gar nicht dauerhaft möglich ist und daher früher oder später unweigerlich zu einem wirtschaftlichen, gesellschaftlichen oder ökologischen Kollaps führen muss. Der fünfte kapitalistische Glaubenssatz lautet, jeder könne, wenn er sich nur genügend anstrenge, reich und erfolgreich werden, und wer dies nicht schaffe, sei demzufolge selber Schuld. Tatsache ist, dass in Form des herrschenden Bildungs- und Selektionssystems so viele unüberwindbare Hürden aufgestellt sind, dass es stets nur einer Minderheit möglich ist, auf die oberen und obersten Ränge der gesellschaftlichen Machtpyramide zu gelangen. Auch verkennt dieser Glaubenssatz, dass weltweit Milliarden von Menschen täglich schwerste, körperlich und psychisch belastende Arbeit leisten, sich dabei noch so sehr abkämpfen und anstrengen können und dennoch in bitterster Armut verharren, ganz einfach deshalb, weil der Lohn dieser Arbeit nicht das Geringste zu tun hat mit der Schwere der Arbeit, die erbracht wird.

Der sechste kapitalistische Glaubenssatz besteht darin, Lohnunterschiede seien Ausdruck unterschiedlicher Leistungsbereitschaft und unterschiedlicher Wichtigkeit der jeweiligen beruflichen Tätigkeit. Tatsache ist, dass der Lohn nicht Ausdruck der effektiven Arbeitsleistung ist, sondern von der jeweiligen Stellung auf der gesellschaftlichen Machtpyramide abhängt. Wenn, wie zum Beispiel in der Schweiz, das Verhältnissen zwischen höchsten und tiefsten Einkommen das Dreihundertfache beträgt, so müssten ja die Spitzenverdiener 300 Mal länger oder härter arbeiten als jene mit den tiefsten Einkommen, was schlicht und einfach unmöglich ist. Tatsächlich ist es in aller Regel umgekehrt: Wer besonders hart und lange arbeitet, muss häufig eher mit einem geringeren Lohn Vorlieb nehmen als jene, welche über leichtere und bequemere Arbeitsbedingungen verfügen. Der siebte kapitalistische Glaubenssatz gipfelt in der Aussage, Menschen würden nur dann arbeiten, wenn man sie auf die eine oder andere Weise dazu zwinge, oder, mit anderen Worten: Der Mensch sei von Natur aus faul. Um diesen Glaubenssatz zu widerlegen, brauchen wir uns nur das Kind in seinen ersten Lebensjahren vor Augen zu führen, das sich unermüdlich handelnd mit seiner Umgebung auseinandersetzt und buchstäblich nie müde wird. Wäre der Mensch von Natur aus faul, dann würden die Kinder bloss untätig und passiv herumliegen und sich nicht immer wieder neuen Beschäftigungen zuwenden. Zwingen muss man die Menschen höchstens zu unangenehmen, belastenden beruflichen Tätigkeiten, aber nicht deshalb, weil sie von Natur aus faul wären, sondern deshalb, weil die Menschen in diesen Tätigkeiten keinen Sinn sehen und ihre ursprüngliche Kreativität, Schaffenskraft und Lebensenergie nicht verwirklichen können. Der achte kapitalistische Glaubenssatz besagt, dass schneller stets besser ist als langsamer, oder, auf eine kurze Formel gebracht: “Time is Money”. Tatsache ist, dass es genau dieser Tempowahn ist, der immer absurdere Auswirkungen mit sich bringt, wenn wir nur an die Postboten denken, die in immer kürzerer Zeit eine immer grössere Menge an Paketen auszutragen haben, oder an den Bau eines viele Millionen verschlingenden Eisenbahntunnels, nur damit die Fahrt von Stadt A nach Stadt B um drei oder vier Minuten verkürzt werden kann. Wie der Glaube an das immerwährende Wirtschaftswachstum, so ist auch der Glaube, Geschwindigkeit sei per se etwas Gutes, eine Katze, die sich letztlich in den eigenen Schwanz beisst: Denn früher oder später muss, wie beim Radrennsport oder bei den Skirennfahrerinnen, der Punkt kommen, an dem es einfach nicht mehr schneller geht, es sei denn nur noch mithilfe unmenschlicher und zerstörerischer Anstrengungen. Der neunte kapitalistische Glaubenssatz besteht darin, dass das Privateigentum die Grundlage sei für individuelle Freiheit. Tatsache ist, dass es genau umgekehrt ist: Wer über Privateigentum und überdurchschnittliches Vermögen verfügt, geniesst zwar grosse individuelle Freiheit und kann sich vieles leisten, was für andere unerschwinglich ist. Aber mit der Freiheit derer, die sich das leisten können, schwindet zugleich die Freiheit jener, welche sich dies nicht leisten können. So ist das, was der Kapitalismus “Freiheit” nennt, nicht so sehr eine echte Freiheit, sondern es sind Privilegien einer Minderheit auf Kosten einer davon ausgeschlossenen Mehrheit. Der zehnte kapitalistische Glaubenssatz ist sozusagen eine Zusammenfassung aller anderen. Er gipfelt in der Aussage, der Kapitalismus – und damit auch die Globalisierung des Kapitalismus – sei ein Segen und diene dem Wohlergehen der Menschheit. Tatsache ist, dass dies nur für eine Minderheit der Menschheit gilt., während ein grosser Teil der Menschheit nicht nur nicht vom kapitalistischen Wirtschaftssystem profitiert, sondern im Gegenteil in vielerlei Hinsicht darunter leidet. Nicht nur dass die Unterschiede zwischen Arm und Reich immer grösser werden und über 800 Menschen weltweit unter Hunger leiden, sondern auch, dass die kapitalistische Wachstums- und Profitgier letztlich die Hauptursache bildet für die zunehmende Zerstörung der natürlichen Ressourcen, das Tier- und Pflanzensterben und die existenzielle Bedrohung durch die immer gefährlichere Ausmasse annehmende Klimakatastrophe.

Aufgrund aller dieser nicht hinterfragten Glaubenssätze ist es wohl nicht übertrieben, vom Kapitalismus als einer Art von Religion zu sprechen. Ja man könnte sogar noch einen Schritt weitergehen und von einer Sekte sprechen. Denn der Unterschied zwischen Religion und Sekten wird ja in der Regel so definiert, dass Religionen eine weitaus grössere Anzahl von Anhängerinnen und Anhängern haben, während Sekten oft nur winzig, tief eingeschworene Gemeinschaften bilden. Aber der Unterschied ist kaum ein wesentlicher. Höchstens der, dass den Mitgliedern einer Sekte meist bewusst ist, einer solchen Gemeinschaft anzugehören, während die “Mitglieder” des Kapitalismus in der freiesten, besten, gerechtesten und einzigen Welt zu leben glauben, die überhaupt möglich ist.

Wie sehr sich der Kapitalismus selber heiligt und damit zur Religion oder gar zur Sekte geworden ist, beschrieb auch die Wirtschaftsjournalistin Ulrike Hermann in einem Interview mit der Zeitschrift “Kontext” unter dem Titel “Die Sekte der Ökonomen” am 9. November 2016: “Die Ökonomen sprechen immer von Wettbewerb, nur für sie selber gilt er nicht. In der herrschenden Mainstreamökonomie wird weder die Rolle der Grosskonzerne thematisiert, noch die Funktion der Spekulation, des Geldes und der Gewinne. Die Wirtschaftswissenschaftler sitzen in ihrem selbergebauten Elfenbeinturm, wo sie keinen Schaden anrichten können. Die heutige Ökonomie hat nichts mehr mit Wissenschaft zu tun – sie ist zur Religion geworden.”

Ob das neue Ritual für die Selecta-Mitarbeitenden oder der weltweite Kapitalismus im Grossen. Das religions- und sektenhafte Grundmuster ist das gleiche. Das bedeutet: Wenn wir den Kapitalismus überwinden wollen, dann müssen wir auch all die kapitalistischen Glaubenssätze, die sich über 500 Jahre hinweg in unsere Köpfe hineingefressen haben, überwinden. Um den Blick freizubekommen auf jene andere Welt, die jenseits des Kapitalismus liegen wird, jene andere Welt, in welcher die Bedürfnisse der Menschen Vorrang haben werden vor den Bedürfnissen des Geldes und der Profitmaximierung, jene andere Welt, in der Mensch und Natur im Einklang sind und ein gutes Leben Wirklichkeit zu werden verspricht, nicht für eine privilegierte Minderheit, sondern für alle Menschen auf diesem Planeten, in der Gegenwart ebenso wie in der Zukunft…