Die Ukraine und die NATO: die andere Seite der Geschichte

 

Im Zusammenhang mit dem möglichen NATO-Beitritt der Ukraine wird von
westlicher Seite gerne behauptet, es sei schliesslich das Recht eines jeden
einzelnen freien, demokratischen Landes, welchem militärischen Bündnis es
angehören möchte und welchem nicht. Deshalb sei der Vorwurf Russlands an die
Adresse der USA, die NATO-Osterweiterung planmässig vorangetrieben zu haben,
ganz und gar aus der Luft gegriffen. Dass es, zumindest im Fall der Ukraine,
mit dieser „Freiheit“ und „Selbstbestimmung“ aber nicht allzu weit her ist,
zeigt ein kurzer Blick in die jüngste Vergangenheit. Ich beziehe mich im
Folgenden auf das Buch „Eiszeit“ von Gabriele Krone-Schmalz, ehemaliger
Russland-Korrespondentin der ARD. Zurückzublenden ist ins Jahr 2004: Bei den ukrainischen
Präsidentschaftswahlen im November wurde Viktor Janukowitsch, ein Verfechter
guter Beziehungen sowohl zum Westen wie auch zu Russland, zum Sieger erkürt,
wogegen das Lager seines unterlegenen, US-freundlichen Kontrahenten Viktor
Juschtschenko wegen angeblicher Wahlfälschungen protestierte. Es kam zu
Massendemonstrationen, die Wahlen wurden wiederholt und nun erlangte
Juschtschenko die Mehrheit. Erst später wurde bekannt, dass Juschtschenko für
seinen Wahlkampf von der US-Regierung finanzielle Unterstützung von schätzungsweise
über 50 Millionen Dollar erhalten hatte. Zu diesem Zeitpunkt wollten gerade
einmal 16 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer der NATO beitreten und nur ein
Drittel der EU. Trotzdem verfolgte Juschtschenko eine aktive Aussenpolitik in
Richtung Westen und bemühte sich intensiv um eine Mitgliedschaft in EU und
NATO. Tatkräftige Unterstützung erhielt Juschtschenko unter anderem von der
US-amerikanischen Organisation USAID, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, „in
der Ukraine die gesellschaftliche Basis der EU-Befürworter zu erweitern.“ Nicht
weniger aktiv auch das „NATO Information and Documentation Centre NIDC“, dessen
Aufgabe auf der Website der NATO wie folgt beschrieben wird: „Das NIDC in Kiew
spielt eine aktive Rolle dabei, in der Ukraine ein besseres Verständnis zu
fördern für die Prioritäten und Kernaufgaben der NATO.“ In einem Bericht vom
15. Februar 2006 beklagte der US-Botschafter in Kiew die „ungewöhnliche
Spaltung zwischen den Befürwortern einer NATO-Mitgliedschaft und der
Bevölkerung.“ Die traditionellen Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland,
so der US-Botschafter, „erschweren leider den Prozess der öffentlichen
Erziehung.“ Zu diesem Zeitpunkt sprachen sich 25 bis 30 Prozent der
Ukrainerinnen und Ukrainer für einen NATO-Beitritt aus. Zum Leidwesen der
NATO-Befürworter hatte man Ende 2005 in Ukraine damit begonnen, Unterschriften
für ein Referendum gegen einen NATO-Beitritt zu sammeln. Das notwendige Quorum
beträgt drei Millionen Unterschriften. Im Frühjahr 2006 hatte man bereits viereinhalb
Millionen zusammen. Der US-Botschafter in Kiew beeilte sich, das unerwünschte
Referendum abzuwürgen und schlug folgende Massnahmen vor: Unterschriften für
gefälscht erklären, behaupten, diese seien gekauft oder erpresst worden,
Anzweiflung der Rechtsmässigkeit der Verfassungsvorschriften, usw. Als dies
alles nichts half, nahm Präsident Juschtschenko von seinem Recht Gebrauch, den
Volksentscheid schlicht und einfach nicht durchzuführen. Die Regierung
versicherte dem US-Botschafter, keine Abstimmung zuzulassen, denn „würde das
Referendum jetzt abgehalten, würde eine überwiegende Mehrheit der Bevölkerung
sich gegen einen NATO-Beitritt aussprechen, und das gilt es zu verhindern.“
2008 erhielt die Ukraine auf dem NATO-Gipfel in Bukarest eine offizielle Beitrittsperspektive,
und dies, obwohl die damalige deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel davor
warnte, dies würde einer Kriegserklärung an Russland gleichkommen. Dennoch
wurde auf jedem weiteren NATO-Gipfel die mittlerweile auch in der ukrainischen
Verfassung verankerte NATO-Beitrittsperspektive erneut bestätigt, so dass der
endgültige Beitritt zur NATO wohl nur noch eine Frage der Zeit gewesen wäre,
wenn es nicht im Februar 2022 zum Krieg zwischen Russland und der Ukraine
gekommen wäre. Nachzutragen ist an dieser Stelle, dass bereits 1997 zwischen
der NATO und der Ukraine ein Kooperationsvertrag abgeschlossen worden war, der
die Übernahme von US-Standards durch die ukrainische Armee sowie gemeinsame
Trainings und Waffenlieferungen ermöglichte. Soviel zur „Selbstbestimmung“ demokratischer Staaten im vielgelobten
„freien“ Westen. Oder, wie es Krone-Schmalz formuliert: „Das Zerrbild, wonach
nur Russland eine zynische Machtpolitik betreibt, die noch in Einflusszonen und
geostrategischen Interessen denkt, entspricht ganz und gar nicht der Realität.
Nur wenn auch die fehlenden Teile der Geschichte erzählt werden, entsteht ein
vollständiges Bild.“