Die SP und die Bundesratswahlen in der Schweiz: Als hätte es nie die Vision einer Überwindung des Kapitalismus gegeben…

 

Eifrig wird in diesen Tagen, nicht nur innerhalb der SP, diskutiert, wer sich am besten für die Nachfolge der als Bundesrätin zurückgetretenen Simonetta Sommaruga eignen könnte. Dabei fällt auf, dass kaum eine inhaltliche Auseinandersetzung stattfindet, man reduziert die Kandidierenden fast ausschliesslich auf ihr Geschlecht, auf ihr Alter, wie viele jüngere Kinder sie haben und wie lange sie schon über Erfahrung in einer Regierungsbehörde verfügen. Ebenfalls fällt auf, dass, abgesehen von Elisabeth Baume-Schneider, der man sowieso am wenigsten Chancen einräumt, sämtliche Kandidierende dem sogenannten „Reformflügel“ der SP angehören, jener Ausrichtung also, die sich dezidiert von allzu „linken“ und gesellschaftskritischen Positionen der SP abzugrenzen pflegt.

Dabei wäre doch gerade in der heutigen Zeit eine Rückbesinnung auf die ursprünglichen Ideale der Sozialdemokratie dringender nötig denn je. Was innerhalb der Sozialdemokratie fast gänzlich eingeschlafen ist, das ist die Grundsatzdebatte, inwieweit das kapitalistische Wirtschaftssystem überhaupt noch in der Lage ist, die drängenden Probleme unserer Zeit von der zunehmenden sozialen Ungleichheit, der wachsenden Armut über den durch gegenseitigen Konkurrenzkampf sich laufend verschärfenden Druck am Arbeitsplatz bis hin zur existenziellen Bedrohung durch den Klimawandel auch nur einigermassen in den Griff zu bekommen. Ebenso fehlt fast gänzlich eine grundlegende Auseinandersetzung mit Fragen der vom kapitalistischen Weltwirtschaftssystem angetriebenen Ausbeutung der armen durch die reichen Länder wie zum Beispiel der Tatsache, dass die Schweiz im Handel mit „Entwicklungsländern“ fast 50 Mal mehr erwirtschaftet, als sie diesen Ländern in Form von „Entwicklungshilfe“ wieder zurückgibt. Alle diese Fragen werden in der „Realpolitik“, der sich auch die SP weitgehend verschrieben hat, fast gänzlich ausgeklammert und man hängt noch immer der Illusion nach, die politischen Herausforderungen innerhalb der eigenen nationalen Grenzen lösen zu können ohne den Blick auf die globalen Verflechtungen, wo alles mit allem zusammenhängt und, wie Friedrich Dürrenmatt sagte, all das, was alle angehe, „nur von allen gelöst werden kann.“ Tatsächlich wird die Notwendigkeit eines radikalen Neubeginns, einer eigentlichen „Zeitenwende“, immer unausweichlicher. Denn „man kann Probleme“, so Albert Einstein, „niemals mit der gleichen Denkweise lösen, durch welche sie entstanden sind.“

Das im Parteiprogramm der SP festgeschriebene und leider immer wieder totgeschwiegene Ziel einer „Überwindung des Kapitalismus“ ist daher alles andere als ein Fehler und hat nichts mit Nostalgie oder einer naiven, unrealistischen Weltsicht zu tun. Nein, es ist das wichtigste aller in diesem Programm genannten Ziele und müsste eigentlich über allen anderen stehen. Die, welche dafür verantwortlich sind, dass dieser Passus im Parteiprogramm Eingang gefunden hat, nämlich die Jusos, haben nichts falsch gemacht, sondern im Gegenteil das einzig Richtige. Denn „im Jugendidealismus“, so der berühmte Urwalddoktor Albert Schweitzer, „erschaut der Mensch die Wahrheit. Mit ihm besitzt er einen Schatz, den er gegen nichts in der Welt eintauschen darf.“ 

Am 19. November werden sich über 100 Jusos in Basel zu einer Parteiversammlung treffen, an der es unter anderem um die Bundesratswahlen gehen wird. Der Versammlung liegt ein Antrag der Geschäftsleitung vor, wonach sich die SP aus dem Bundesrat zurückziehen sollte, falls bei den Gesamterneuerungswahlen im Dezember 2023 nicht drei linke Bundesräte oder Bundesrätinnen gewählt würden. Eine Beteiligung an einer bürgerlich dominierten Regierung, so die Begründung des Antrags, schwäche die linken Kräfte, die zwar noch im Bundesrat vertreten wäre, aber von einer bürgerlichen Mehrheit dominiert würde. Nebst diesem Antrag der Geschäftsleitung liegt ein noch weiter gehender Vorschlag vor, welche den sofortigen Rücktritt der SP-Bundesräte bzw. SP-Bundesrätinnen aus der Regierung fordert. Die Einbindung in ein bürgerlich dominiertes Regierungsgremium bedeute nämlich stets eine Zerreissprobe für die Glaubwürdigkeit der SP-Politik, was sich jüngst bei der Abstimmung über die AHV-Revision gezeigt habe, bei der die Partei eine Nein-Parole ausgegeben, SP-Bundesrat Alain Berset aber für ein Ja gekämpft habe. Auch wenn diese beiden Anträge, wenn sie denn an der Juso-Parteiversammlung überhaupt angenommen werden, innerhalb der SP-Gesamtpartei wohl kaum eine Chance haben, so stossen sie doch eine wichtige, notwendige Diskussion an. Die Diskussion nämlich, mit welchen Methoden, Instrumenten und auf welchem Weg linke Politik am glaubwürdigsten und wirkungsvollsten vorangetrieben werden kann.

„Der vernünftige Mensch“, so der britische Schriftsteller George Bernard Shaw, „passt sich der Welt an, der unvernünftige besteht auf dem Versuch, die Welt sich anzupassen. Deshalb hängt aller Fortschritt von den unvernünftigen Menschen ab.“ Wie viel Unheil muss wohl noch geschehen, bis die Erwachsenen, so „vernünftig“ und „realistisch“ sie auch sein mögen, endlich erkennen, dass sie von den Träumen, Idealen und Visionen junger Menschen so viel mehr lernen können als diese von ihnen? Ist doch der Widerstand gegen den Kapitalismus nichts „Naives“ und „Unrealistisches“, sondern das einzige wirklich Realistische in einer Welt, in der die sozialen Gegensätze, die Profitmaximierung auf Kosten von Mensch und Natur und die Bedrohung der natürlichen Lebensgrundlagen grösser sind als je zuvor…