Die Sozialdemokratische Partei der Schweiz und die Überwindung des Kapitalismus

 

Die Sozialdemokratische Partei der Schweiz hat am 5. Februar 2022 ihren digitalen Parteitag abgehalten. Themenschwerpunkte: Stromversorgungssicherheit, Klimafonds, AHV-Reform, Arbeitsbedingungen der Kitaangestellten. Vergeblich suche ich in der Themenliste das Ziel einer Überwindung des Kapitalismus, obwohl diese Forderung explizit im Parteiprogramm der SP festgehalten und angesichts der aktuellen Weltlage, der zunehmenden Kluft zwischen Arm und Reich und des drohenden Klimawandels vordringlicher wäre denn je. Ein kurzer Blick in die jüngste Geschichte Europas zeigt, dass sich auch in jenen Ländern, wo Sozialdemokratinnen und Sozialisten über kürzere oder längere Zeit die Regierung bildeten – so etwa in Frankreich, Grossbritannien, Deutschland, Österreich, Spanien oder Schweden -, an den grundlegenden ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnissen, der sozialen Ungleichheit, der systematischen Umverteilung von der Arbeit zum Kapital, an der Ausbeutung von Mensch und Natur mit dem Ziel grösstmöglicher Profitmaximierung, am unbeirrbaren Glauben an ein permanentes Wirtschaftswachstum und an den Grundstrukturen der kapitalistischen Klassengesellschaft nicht wirklich tiefgreifend etwas verändert hat. Böse gesagt, dient eine solche pragmatische “Linke”, unabhängig davon, ob sie an der Macht oder in der Opposition steht, bestenfalls als “Feigenblatt” des kapitalistischen Machtsystems, das noch viel brutaler wäre, wenn es diese “Linke” nicht gäbe, die wenigstens die schlimmsten Auswüchse abzufedern versucht. Wenn die Linke aber mehr sein will als ein kapitalistisches Feigenblatt, dann muss sie aus dem Schatten des Kapitalismus heraustreten und Visionen einer von Grund auf neuen Welt der sozialen Gerechtigkeit, des respektvollen Einklangs zwischen Mensch und Natur und des guten Lebens für weltweit alle Menschen entwickeln. Die Frage ist nur: Auf welchem Weg kann eine so umfassende, alles Bisherige weit übertreffende Herausforderung in die Tat umgesetzt werden? Hierzu bedarf es einer Art “Doppelstrategie”: Auf der einen Seite muss die Linke ihre Realpolitik der geduldigen, beharrlichen kleinen Schritte zum Wohle von Mensch und Natur weiterverfolgen. Ebenso hartnäckig aber muss, auf der zweiten Ebene, auch die Überwindung des Kapitalismus vorangetrieben werden, damit, wenn das kapitalistische System eines Tages an seinen inneren Widersprüchen endgültig zerbrechen wird, eine brauchbare Alternative zur Verfügung steht. Die politische Arbeit auf dieser zweiten Ebene muss aber, im Gegensatz zur ersten Ebene, länderübergreifend erfolgen – der globalisierten Macht des Kapitals muss die globalisierte Macht der sozialen Gerechtigkeit und des guten Lebens für alle entgegenstellt werden. Wie das aussehen könnte, zeigt uns die Klimabewegung, wo sich junge Menschen über alle Grenzen hinweg gemeinsam für eine lebenswerte Zukunft engagieren. Ebenso müssten auch all jene Politikerinnen und Politiker der Linken, die ihre Wurzeln in der Bewegung der Jungsozialistinnen und Jungsozialisten haben, zu diesen Wurzeln zurückkehren und sie nicht länger als pubertäre Schwärmerei abtun, die man möglichst schnell hinter sich lassen möchte. “Im Jugendidealismus”, sagte Albert Schweitzer, “erschaut der Mensch die Wahrheit. Mit ihm besitzt er einen Schatz, den er gegen nichts in der Welt austauschen sollte.” Und das Gleiche, mit anderen Worten, sagte auch der amerikanische Schriftsteller Mark Twain: “Trenne dich nie von deinen Illusionen und Träumen. Wenn sie verschwunden sind, wirst du weiter existieren, aber aufgehört haben zu leben.” Und so träume auch ich voller Hoffnung weiter: Davon, dass jeder zweite Parteitag der SP der Überwindung des Kapitalismus gewidmet ist. Davon, dass über die Ursprünge, Zusammenhänge und Folgen des Kapitalismus an möglichst vielen Orten öffentlich und vorurteilslos debattiert wird und die irrige Meinung aus der Welt geschafft wird, der Kapitalismus sei das beste, einzig mögliche und endgültige Modell für das Zusammenleben der Menschen auf diesem Planeten. Davon, dass auch meine Enkelkinder und alle anderen Kinder der Welt eine lebenswerte Zukunft haben, ein gutes Leben für alle Menschen Wirklichkeit geworden ist und der Kapitalismus nur noch als vergangenes Zeitalter in Museen und an anderen Denkstätten seiner schlimmsten Auswüchse in Erinnerung bleibt.