Die “Sonntagszeitung” vom 4. August 2024 und der Nahostkonflikt: Haben bald nur noch Hardliner das Wort?

Gleich zwei absoluten Hardlinern in Sachen Nahostkonflikt erteilt die “Sonntagszeitung” vom 4. August 2024 das Wort und lässt damit jegliche Ausgewogenheit und demokratische Vielfalt auf geradezu fahrlässige Art vermissen. Es handelt sich einerseits um Shira Kaplan, ehemaliges Mitglied des israelischen Nachrichtendienstes (ausführliches Interview auf Seiten 2 und 3), anderseits um den Publizisten Markus Somm (Kolumne auf S. 17).

Schon der Titel des Interviews mit Shira Kaplan: “Was Israel durchmacht, wird auch auf die Schweiz zukommen” spricht Bände. Einmal mehr das Beschwören der Opferrolle Israels ohne Hinweis darauf, dass die palästinensische Bevölkerung im Gazastreifen seit dem 7. Oktober 2023 wohl unvergleichlich viel mehr mitgemacht und unvergleichbar viel mehr Opfer erbracht hat als die Bevölkerung Israels während dieser Zeit. Und einmal mehr die Solidarisierung der Schweiz mit Israel: Was Israel durchmacht, könnte schon bald auch die Schweiz durchmachen müssen…

Zur gezielten Tötung des Hizbollah-Kommandanten Fuad Shukr und des Hamas-Führers Ismail Haniya meint Kaplan: “Der Schlag zeigte: Wir sind doch zu etwas fähig.” Das mag sich auch die Regierung der USA nach den Atombombenabwürfen von Hiroshima und Nagasaki gedacht haben: Wir sind doch zu etwas fähig. Was für ein Armutszeugnis, wenn die beste eigene “Fähigkeit” bloss darin besteht, andere vernichten oder demütigen zu können, statt etwa darin, eine menschenwürdige Politik zu betreiben, sich um gewaltlose Konfliktlösungen zu bemühen, Menschenleben zu retten. Genau das alles aber hat Israel mit diesen “präzisen Vernichtungsschlägen” verhindert, indem Ismail Haniya ausgerechnet in dem Augenblick, als ein von ihm initiierter Vorschlag für einen Waffenstillstand im Gazastreifen kurz vor dem Durchbruch stand, “eliminiert” wurde. Haben Kaplan und ähnlich Denkende nicht einen einzigen Funken psychologischen Verständnisses? Ist ihnen wirklich nicht bewusst, dass mit jeder Demütigung des “Gegners” dessen Wut und Hass nur immer weiter angestachelt wird und das, was man angeblich zu vernichten versucht, dadurch nur immer noch stärker und mächtiger wird? Aber vermutlich wollen sie ja genau das und träumen schon von der letzten und grössten aller Schlachten mit dem Endsieg des “Guten” gegen das “Böse”.

Nach zehn Monaten Gazakrieg und den quälenden Fragen “Was machen wir da eigentlich? Ist es gut oder schlecht?” hätte nun, so Kaplan, glücklicherweise wieder das befreiende Gefühl Oberhand bekommen, “wir können etwas erreichen.” PR-mässig, so Kaplan, sei die Tötung des Hamas-Führers in Teheran ein “Coup” gewesen, den man zum Beispiel mit der Erschiessung von Osama bin Laden 2011 durch die USA vergleichen könne, und der “in aller Bescheidenheit” gezeigt habe, wie “kreativ” Israelis sind, wenn es darum ginge, “gute Lösungen zu finden”. Man kann nur noch leer schlucken…

Vehement wehrt sich Kaplan gegen jede Kritik an Israel “aus der sicheren europäischen Warte”: “Sorry, wir befinden uns zufälligerweise im Nahen Osten und stehen damit an der vordersten Front der westlichen Zivilisation.” Einer westlichen Zivilisation, die unter Führung der USA seit 1945 über 40 völkerrechtswidrige Kriege und Militärschläge geführt hat und 50 Millionen unschuldige Todesopfer und 500 Millionen Verletzte, Verstümmelte und für den Rest ihres Lebens Traumatisierte zurückgelassen hat…

Noch bunter treibt es Markus Somm in seiner Kolumne unter dem Titel “Von Israel lernen heisst siegen lernen”. Von Michael Gorbatschow und seinem weltberühmten Zitat, wonach man Kriege nicht gewinnen, sondern nur verlieren kann, und echte Siege nur im Schaffen von Frieden bestehen, scheint er noch nie etwas gehört zu haben. “Diese Woche”, so Somm, “hat Israel von neuem bewiesen, dass es vermutlich die schlagkräftigste und intelligenteste Militärmacht der Gegenwart ist.” Wie pervers muss man denken, dass man eine Militärmacht, die innerhalb von zehn Monaten über 40’000 unschuldige Kinder, Frauen und Männer auf dem Gewissen hat, als “Intelligent” bezeichnen kann…

Wie für Kaplan, scheint auch für Somm das höchste Ziel die Demütigung des Gegners zu sein – ungeachtet aller daraus möglicherweise resultierender Gegenreaktionen in Form von Wut, Hass, Verbitterung, allfälligen Terroranschlägen oder gar kriegerischen Rachefeldzügen: “Was für eine Demütigung”, frohlockt Somm, “für das Regime der tödlichen Maulhelden in Teheran!” Die Botschaft sei zwar “primitiv”, doch: “Manchmal ist primitiv besser als kompliziert.” Merkt Somm eigentlich nicht, dass er mit seinen Ausführungen in höchstem Grade genau das betreibt, was er dem vermeintlichen “Gegner” unterstellt, nämlich Hass, Aufruf zu Gewalt, Kriegstreiberei? Ist Somm nicht selber das krasseste nur vorstellbare Spiegelbild jener Feinde, die er an die Wand malt? “Wer meint, mit ihnen philosophische Verhandlungen führen zu können ohne ihnen die Hölle heiss zu machen”, so die offensichtlich höchste Stufe seiner Erkenntniskraft, “bleibt besser in der Kaninchenzucht.” Krieg oder Frieden, so Somm, sei ja gar keine Frage mehr: “Der Krieg ist sowieso schon längst da. Wenn der Westen ihn gewinnen will – ob im Nahen Osten, in der Ukraine oder vielleicht bald in Asien -, dann helfen uns weder humanitäres Völkerrecht noch die UNO, regelbasierte Ordnungen oder gesundbetende Diplomatie, sondern allein eine hochgerüstete Armee und Politiker, die auch bereit sind, sie in Marsch zu setzen.”

Glücklicherweise ist Markus Somm keiner dieser Politiker, sonst wären wir vermutlich schon heute mitten im dritten Weltkrieg. Dass er regelmässig in der “Sonntagszeitung” mit seinen ewiggestrigen, hasserfüllten und geschichtsverleugnenden Theorien seine Kolumne füllen darf, ist schon schlimm genug. Besser wäre es wohl, er würde seinen eigenen Tipp befolgen und sich zukünftig ausschliesslich der Kaninchenzucht widmen, wobei einem selbst diese Tiere noch leid tun müssten. Doch fast noch schlimmer als seine sonntägliche Hasspredigt ist, dass eine der meist gelesenen Schweizer Zeitungen in der gleichen Ausgabe zwei derartig einseitigen Stimmen das Wort erteilt und weit und breit auch nicht die klitzekleinste redaktionelle Einordnung, Relativierung oder kritische Gegenfrage zu lesen ist. Selbst die Leserschaft scheint vor so viel Gewaltverherrlichung förmlich erschlagen zu sein: In der Ausgabe vom 11. August findet sich zumindest kein einziger Leserbrief, welcher der Empörung über so viel Hass und so viel Einseitigkeit Raum zu verschaffen versucht…