Die schweizerische Sozialdemokratie und die Überwindung des Kapitalismus

 

Die Sozialdemokratische Partei der Schweiz ist mit einem Wähleranteilsverlust von 1,9 Prozent seit 2019 mit deutlichem Abstand die grösste Verliererin sämtlicher Parteien. “Das muss”, schreibt der “Tagesanzeiger” am 9. November 2021, “Mattea Meyer und Cédric Wermuth, welche die Partei seit Oktober 2020 gemeinsam leiten, zu denken geben. Wenn die beiden nicht bald eine Trendwende herbeiführen, blicken sie düsteren Zeiten entgegen.” Es hat etwas Tragisches, dass ausgerechnet Cédric Wermuth, der in seinen jüngeren Jahren als Jungsozialist noch von der Überwindung des Kapitalismus träumte, nun mit ansehen muss, wie sich seine Partei seit zwei Jahren in einem kontinuierlichen Sinkflug befindet. Tragisch, weil nämlich genau das, die Überwindung des Kapitalismus, gegenwärtig aktueller und dringender wäre denn je. Der Traum von einer anderen, gerechteren und friedlicheren Welt, den die Jungsozialistinnen und Jungsozialisten träumten, war nicht falsch, er war bloss zu wenig stark gegen die Mauern der so genannten “Realpolitik”, die sich ihm entgegenstellte. Eine in Deutschland vom Edelman-Kommunikationsbüro durchgeführte Befragung ergab, dass 55 Prozent der Bevölkerung davon überzeugt sind, dass der Kapitalismus mehr Schaden als Nutzen anrichte. Eine entsprechende Befragung in der Schweiz würde höchstwahrscheinlich ein ähnliches Resultat erbringen. Dies zeigt, dass das Potenzial für eine konsequent antikapitalistische Politik wohl weit grösser ist als allgemein angenommen. Doch ist es, um hierfür in Abstimmungen und Wahlen Mehrheiten zu gewinnen, noch ein weiter Weg. Der Kapitalismus hat sich trotz oder vielleicht sogar wegen seiner Widersprüche über viel zu lange Zeit so tief in unseren Köpfen und Herzen festgesetzt, dass sich die meisten Menschen etwas von Grund auf Neues und Anderes schon gar nicht mehr vorstellen können. Und genau deshalb müsste eine potenziell antikapitalistische Partei wie die SP, welche sogar ganz offiziell die “Überwindung des Kapitalismus” als vorrangiges Ziel in ihrem Parteiprogramm benennt, nebst der täglichen Realpolitik sozusagen auf einer zweiten Schiene fahren bzw. ein zweites Haus bauen, wo man sich jenen Zukunftsvisionen beschäftigt, die über die tägliche Realpolitik hinausweisen. Denn ein neues, nichtkapitalistisches Gesellschafts- und Wirtschaftssystem, das frei ist von Ausbeutung, frei vom Glauben an ein immerwährendes Wachstum, frei von der Gier nach immer grösserem materiellem Gewinn und frei von der Zerstörung der Umwelt auf Kosten nachfolgender Generationen, ein solches Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das ein gutes Leben nicht nur für eine privilegierte Minderheit, sondern für alle Menschen weltweit Wirklichkeit werden lässt, ein solches Gesellschafts- und Wirtschaftssystem entsteht nicht von heute auf morgen von selber. Es muss erarbeitet, erkämpft, es muss darum gerungen werden. Aufklärung ist das entscheidende Stichwort. Aufklärung über die Zusammenhänge, Grundlagen, Mechanismen und Auswirkungen des Kapitalismus, hierzulande wie auch weltweit. So wie der Teppich des Kapitalismus weltweit über alle Länder hinweggerollt wurde, genau so muss dieser Teppich über alle Länder hinweg wieder zurückgerollt  und es muss ein neuer, unverbrauchter Teppich geknüpft werden. Wie wäre das? Mattea Meyer kümmert sich um die Realpolitik, Cédric Wermuth holt seine alten Träume von der Überwindung des Kapitalismus hervor und kümmert sich um die Aufklärung und die Visionen. Oder umgekehrt: Mattea Meyer übernimmt den Part der Visionen, Cédric Wermuth jenen der Realpolitik. Ich bin fast ganz sicher: Wenn die Menschen genug wüssten über das Wirken des Kapitalismus und seine tägliche soziale, ökonomische und ökologische Zerstörungsgewalt, dann würden sie früher oder später in grosser Mehrheit ihre Stimme einer politischen Partei geben, die sich die Überwindung des Kapitalismus auf die Fahnen geschrieben hat. Und endlich wären wir in einem Zeitalter angelangt, in dem die Träume und Visionen junger Menschen nicht mehr länger von so genannten “vernünftigen” Erwachsenen zerschlagen werden, sondern im Gegenteil nach und nach zu einer neuen Wirklichkeit würden, die in den Köpfen und den Herzen der Menschen genau so verankert wären, wie dies heute noch der Kapitalismus ist.