Die Schweiz im Jahre 2024: Werden Fahnen bald schon besser geschützt sein als Menschen?

Weil eine Walliser Jungsozialistin in einer „Wutrede“ zum 1. August sagte, sie könnte auf alle diese Schweizer Fahnen „kotzen“, erhielt sie Hunderte böser Zuschriften, in denen sie und ihre Eltern beleidigt und bedroht wurden. Einer schrieb sogar, sie solle „brennen“. Und jetzt, wie die „Sonntagszeitung“ am 26. Mai 2024 berichtet, fordert auch der Walliser SVP-Nationalrat Jean-Luc Addor, dass die Beleidigung der Schweizer Flagge zukünftig in jedem Fall bestraft werden solle. Ein Strafmass, welches nicht einmal in den USA gilt, einem Land, in dem Patriotismus beileibe nicht gerade klein geschrieben wird.

Wir leben in seltsamen Zeiten. Menschen darf man beleidigen, man darf sogar fordern, sie sollen „brennen“. Fahnen aber soll man nicht mehr länger beleidigen dürfen. Sind Fahnen auf einmal wichtiger als Menschen? Unwillkürlich denke ich an die Bilder von ukrainischen Dörfern, welche von russischen Truppen besetzt waren. Als sie von ukrainischen Truppen wieder zurückerobert und dabei vollständig zerstört worden waren, wurde über ihren Ruinen meist als erstes eine grosse ukrainische Flagge aufgepflanzt. Das Einzige, was sich auf den triumphal gezeigten Bildern der „befreiten“ Dörfer noch bewegte, war die Flagge im Wind – das Leben der Menschen, die früher in diesen Häusern gewohnt hatten, war dagegen vollständig ausgelöscht. Hauptsache, die Dörfer bzw. das, was von ihnen übrig geblieben war, befand sich wieder auf dem eigenen Territorium. Ich denke auch an die erste Mondlandung. Auch auf jenen Bildern, die über die Medien der ganzen Welt verbreitet wurden, schien die auf dem Mond aufgepflanzte US-Flagge etwas vom Wichtigsten zu sein. Und dann sehe ich auch die Sportlerinnen und Sportler vor mir, die sich bei internationalen Wettkämpfen nach einer siegreich bewältigten Disziplin von oben bis unten in eine überlebensgrosse Fahne ihrer Nation einhüllen und so dann vor dem frenetisch klatschenden Publikum ihre Ehrenrunden drehen.

Wenn Nationalfahnen eine so geradezu heilige Bedeutung bekommen – und es liessen sich unzählige weitere Beispiele anfügen -, dann verstehe ich die Jungsozialistin, welche das zum „Kotzen“ findet, nur allzu gut. Denn Fahnen sind immer Ausdruck von Nationalismus, der nur allzu schnell in jene Übersteigerung zu kippen droht, welche dann in letzter Konsequenz im Kampf der vermeintlich „Guten“ gegen die vermeintlich „Bösen“ selbst nicht vor der Auslöschung unzähliger Menschenleben zurückschreckt. Fahnen und anderen Symbolen für Patriotismus und Nationalismus gegenüber kann man nicht genug kritisch sein. Besser als Fahnen zu heiligen, täten wir daran, uns eine Welt ohne Fahnen, ohne engstirnigen Nationalismus und ohne staatliche Grenzen vorzustellen, sind wir doch nicht in erster Linie Angehörige eines bestimmten Staates, sondern in erster Linie Bewohnerinnen und Bewohner eines uns allen gemeinsam geschenkten Planeten, für den wir auch, über alle Grenzen hinweg, die uns künstlich voneinander zu trennen versuchen, gemeinsam verantwortlich sind.

„Der Erste, der ein Stück Land mit einem Zaun umgab“, sagte Jean-Jacques-Rousseau, „und der auf den Gedanken kam zu sagen, dieses Stück Land gehöre ihm, und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der eigentliche Begründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viel Elend und Schrecken wäre dem Menschengeschlecht erspart geblieben, wenn jemand die Pfähle ausgerissen und seinen Mitmenschen zugerufen hätte, sich zu hüten, dem Betrüger Glauben zu schenken, denn niemand darf vergessen, dass zwar die Früchte allen gehören, die Erde aber niemandem“.

Ich träume von einer Zeit, in der freche, mutige und auf den ersten Blick irritierende oder gar verstörende Aussagen junger, noch nicht vollkommen angepasster Menschen nicht mehr dazu führen, möglichst rasch zum Straf- und Disziplinierungsbuch zu greifen, sondern dazu, eigene Denk- und Verhaltensmuster kritisch zu hinterfragen. Wie der Fall der Walliser Jungsozialistin zeigt, hat jedoch die Disziplinierungskeule schon bestens funktioniert: Die 28Jährige hat die Verwaltung ihrer Social-Media-Konten inzwischen vorübergehend jemand anderem übergeben und will zu ihrer damaligen Aussage, sie fände eine so grosse Anzahl von Schweizer Fahnen „zum Kotzen“, heute nicht mehr Stellung nehmen.

Den SVP-Mann wird es freuen. Wie zahlreiche Vorfälle gezeigt hätten, so wird er im Artikel der „Sonntagszeitung“ zitiert, sei die Flagge in der Schweiz „zu wenig geschützt“. Das soll sich möglichst bald ändern. Dann, hurra, werden Flaggen sogar besser geschützt sein als jene rund 25‘000 Jugendlichen, die jährlich von zuhause oder aus Heimen ausreissen, im Alter oft schon ab elf Jahren selbst mitten im Winter auf offener Strasse übernachten, dabei Drogen- und Menschenhändlern hilflos ausgeliefert sind und oft sogar für immer spurlos verschwinden. Um sich dieses Problems auf politischer Ebene anzunehmen, bräuchte es erhärtete statistische Daten – so lange diese fehlen, können keine entsprechenden Prozesse in Gang gebracht werden. Im Wissen darum und im Wissen um die Dringlichkeit des Problems, haben Menschenrechtsorganisationen schon vor längerer Zeit den Bundesrat aufgefordert, eine Erhebung der notwendigen Daten in Auftrag zu geben – bis heute ist der Bundesrat nicht auf dieses Anliegen eingetreten. Vielleicht wird er ja zuvor noch darüber befinden, ob die Schweizer Flagge zukünftig unter höheren Schutz gestellt werden soll…