Die “NZZ” und der Ukrainekrieg: Betreiben heutige Journalisten keine Recherchen mehr, bevor sie etwas in die Zeitung schreiben?

 

“Der Krieg in der Ukraine”, so schreibt Markus Bernath in der “NZZ am Sonntag” vom 9. Oktober 2022, “hat die Nato und ihre Mitglieder wieder zur Besinnung gebracht. Allen ist jetzt bewusst, welche Aufgabe die atlantische Allianz erfüllt: die Sicherheit ihrer Länder gegen einen Aggressor wie Russland verteidigen, gemeinsam die Ukraine unterstützen. Auch die Uno hat die Chance, erneuert und gestärkt aus dem Ukrainekrieg hervorzugehen, diesem schwersten Bruch von internationalem Recht seit Hitlers Eroberungskriegen.”

Betreiben heutige Journalisten keine Recherchen mehr, bevor sie etwas in die Zeitung schreiben? Kann sich der Autor des Artikels tatsächlich nicht mehr an den anfangs 2003 von den USA angezettelten Krieg gegen den Irak erinnern, dem über eine halbe Million von Menschen zum Opfer fielen? Claus Kress, Direktor des Instituts für internationales Strafrecht an der Universität Köln, beurteilt den Irakkrieg wie folgt: “Der Einsatz der Koalition der Willigen im Irakkrieg war nach meiner Überzeugung, die von sehr vielen Völkerrechtlern geteilt wird, völkerrechtswidrig. Dass dennoch keine Sanktionen gegen die USA und die mit ihnen Verbündeten verhängt wurden, hat damit zu tun, dass es völkerrechtlich nicht ohne weiteres möglich ist, gegen den derzeit mächtigsten Staat der Welt mit Sanktionen zu reagieren, die man sich wünschen würde. Denn die Vereinigten Staaten gehören zu den fünf grossen Mächten, die im Sicherheitsrat über ein Vetorecht verfügen, mit dem sie eine Entscheidung des Rats insbesondere in einem heiklen Konflikt, der sie selber betrifft, verhindern können.” Und auf Wikipedia lesen wir: “Der Irakkrieg gilt bei den meisten Völkerrechtlern und Historikern wegen dem fehlenden UN-Mandat als völkerrechtswidriger, illegaler Angriffskrieg. Akteure aller Seiten verübten im Kriegsverlauf und während der folgenden Besetzung des Irak Kriegsverbrechen an Soldaten und Zivilpersonen.” Damit nicht genug: Der Irakkrieg ist nur einer von 44 Militärschlägen, die von den USA seit 1945 verübt wurden, die meisten von ihnen völkerrechtswidrig, Militäranschläge sowie verdeckte Operationen, die insgesamt über 50 Millionen Todesopfer forderten. Allein der Vietnamkrieg zwischen 1960 und 1975, in dem die vietnamesische Bevölkerung unter entsetzlichen Gräueltaten zu leiden hatte, wird wohl als eines der verheerendsten Beispiele von Kriegsverbrechen in die Geschichte eingehen.

Wie kann es sein, dass dies alles vergessen wird und auf einmal nur Russland als alleiniger und schlimmster Übeltäter dasteht? Die Erklärung ist einfach: Nicht die Wahrheit, sondern die Macht der Mächtigen dominiert die öffentliche Meinung. Wie Claus Kress so treffend sagt: Sanktionen, die als Antwort auf den völkerrechtswidrigen Angriff der USA auf den Irak mehr als gerechtfertigt gewesen wären, wurden nicht ergriffen, weil die USA der “mächtigste Staat der Welt” sind. Es wäre auch niemandem in den Sinn gekommen, über US-Bürgerinnen und US-Bürger Einreiseverbote zu verhängen oder Auftritte von amerikanischen Künstlerinnen und Künstlern auf europäischen Konzert- und Theaterbühnen zu verbieten – während all dies heutzutage im Umgang mit Russinnen und Russen geradezu selbstverständlich ist. Wie sehr das Recht des Stärkeren schon längst an die Stelle allgemeingültiger Menschenrechte getreten ist, zeigte nicht zuletzt Donald Trump in seinem Wahlkampf für die US-Präsidentschaftswahlen 2016, als er prahlte, er könnte jederzeit auf die Strasse gehen und eine x-beliebige Person erschiessen und würde dennoch zum amerikanischen Präsidenten gewählt. Man stelle sich einmal vor, Wladimir Putin würde so etwas sagen! Das Recht des Stärkeren zeigt sich auch darin, wie mit “Kriegsverbrechern” und anderen “Übeltätern” umgegangen wird: Während Milosevic und Karadzic vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag landeten und sowohl Gaddafi wie auch Bin Laden zum Tode verurteilt und hingerichtet wurden, sah sich keiner all jener US-Präsidenten, die für völkerrechtswidrige Angriffskriege, Kriegsverbrechen oder die Anwendung von Foltermethoden verantwortlich waren, jemals mit einer Anklage oder einer Bestrafung konfrontiert, im Gegenteil, alle von ihnen geniessen nach wie vor höchstes Ansehen.

Damit soll nicht gesagt sein, die russische Invasion in die Ukraine sei nicht deutlich und klar zu verurteilen. Aber man braucht doch nicht deswegen gleich die ganze Geschichte auf den Kopf zu stellen. Wer all die Verbrechen, die im Namen des US-Imperialismus begangen wurden, einfach verleugnet und verschweigt, macht sich die Sache allzu einfach. Auch und gerade in den westlichen, demokratischen Ländern dürfen die Medien auf keinen Fall bloss zu Sprachrohren der Starken und Mächtigen werden. Sie sollten in allererster Linie seriöser Wahrheitsfindung dienen, dem Hinterfragen bestehender Feindbilder, dem Bau von Brücken zwischen unterschiedlichen Meinungen und dürften nie und auf keinen Fall die historischen Zusammenhänge aus den Augen verlieren.