Die klein-grosse Geschichte eines Schulverweigerers, der heute Dozent an der Hochschule für Gestaltung in Luzern ist und als DER Experte für chinesische Buchkunst gilt…

Lieber Heinz. Die “Kleine Geschichte”, die du mir heute geschickt hast, ist für mich eine ganz wirklich Grosse Geschichte. Würde man das, was sich aus ihr lernen lässt, wirklich ernst nehmen, würde unser traditionelles, auf Jahrgangsklassen und Lehrpläne zugeschnittenes Schulsystem augenblicklich wie ein längst veraltetes und morsch gewordenes Kartenhaus in sich zusammenbrechen. Danke für deinen Mut und deine Konsequenz, sie sollten allen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, ein leuchtendes Vorbild sein…

Und das ist die klein-grosse Geschichte vom Schulverweigerer, der heute Dozent für Gestaltung an der Hochschule Luzern ist und als DER Experte für chinesische Buchkunst gilt:

Ende der 70er Jahre unterrichtete ich während zwei Jahren an einer Realschule in einer Vorortgemeinde von Luzern. Eine ältere Lehrerin hatte verlangt, nur noch Mädchen zu unterrichten, und das wurde ihr erlaubt. Unglaublich. Also hatte der Neue, also ich, nur Jungs. In meiner Klasse war der Christian, ein lieber Junge, aber das Schulische verweigerte er konsequent – allerdings gar nicht auf eine renitente Art. Er fragte mich einfach, ob er zeichnen dürfe, und zwar wandgross. Das erlaubte ich ihm und spannte ein grosses Papier auf. Wochenlang tat er nun nichts anderes, er zeichnete eine Schlacht, die Preussen gegen die Ulanen, Hunderte von Figuren. Als ruchbar wurde, dass bei mir einer nur zeichne, gab es natürlich Zoff mit der Schulleitung. Doch das war mir egal. Als Christian die Zeichnung fertig hatte, fragte er, ob er seine Nähmaschine in die Schule mitnehmen dürfe. Auch das erlaubte ich ihm, worauf er für etwa 30 Stofftiere Fussballtrikots nähte und dann auf grünem Stoff Matches nachstellte und diese fotografierte.

Auch nach der Zeit, während der er bei mir in der Schule war, hatte ich immer wieder Kontakt mit ihm. Und eines Tages eröffnete er mir, dass er gerne auf dem zweiten Bildungsweg das Lehrerpatent machen würde. Ich sagte ihm, dass er drauf achten müsse, dass die Prüfungskommission nicht merken würde, dass er „nur“ einen Realschulabschluss hatte. Tatsächlich schaffte er es, flog dann aber wegen seiner schlechten Französischkenntnisse hinaus. Inzwischen hatte er aber ein Diplom in Italienisch und Spanisch, was für einen Primarlehrer wohl mindestens so wichtig ist wie das Französische.

Irgendwann rief er mich an, ob er mir die Arbeiten zeigen dürfe, die er für die Aufnahme für den Vorkurs an der Schule für Gestaltung habe anfertigen müssen. Nach dem erfolgreich abgeschlossenen Vorkurs ging er zum Weiterstudium nach Dresden. Dann hörte ich lange nichts mehr von ihm und als er eines Tages wieder auftauchte, erzählte er mir, er sei vier Jahre lang in China gewesen und nun als Dozent an einer Hochschule in Dresden tätig.

Mittlerweile ist Christian 60 Jahre alt und Dozent an der Hochschule für Gestaltung in Luzern. Er sei, habe ich erfahren, DER Experte, wenn es um chinesische Buchkunst gehe.

Ich will absolut nichts für mich in Anspruch nehmen, aber manchmal frage ich mich schon, was wohl gewesen wäre, wenn ich ihn nicht so lange Zeit ausschliesslich zeichnen und nähen gelassen hätte…