Die Kellnerin von Karlsruhe

Karlsruhe, Freitagabend, in einem Restaurant in der Innenstadt. Die junge Kellnerin eilt flink wie ein Wiesel von Tisch zu Tisch, kaum haben sich neue Gäste gesetzt, schon werden sie freundlichst bedient. Ist das Glas leer, schon steht sie da und fragt dich, ob du noch einen Wunsch hättest. Und ohne je ihr Lächeln, ihre unentwegte Sorge um das Wohl der Gäste zu verlieren. Doch auf einmal fällt mir auf: An einem der Tische stehend, hat ihre Hand an einer Metallstange Halt gesucht und sie hat ihren linken Fuss über den rechten gelegt, wohl um ihm eine kleine Pause zu gönnen. Knöchelschmerzen? Brennende Fusssohlen? Das wiederholt sie immer wieder und immer ist es der linke Fuss, das kann kein Zufall sein. Auch nicht, als sie sich kurz darauf mit der rechten Hand an den Rücken greift. Und wohl auch nicht, als sie wenig später ihren linken Oberschenkel reibt. Wie viele Stunden ist sie wohl schon auf den Beinen? Und wie viele Stunden werden es wohl noch sein? Wie viele Kilometer ist sie heute schon gelaufen, schwere Tablette durch die Gästereihen hindurch balancierend, und wie viele Kilometer werden es noch sein? Wie viele Male wird sie ihren linken Fuss noch über den rechten legen und mit ihren Händen die Schmerzen im Rücken und in den Beinen ein klein wenig zu lindern versuchen, bis sie sich dann irgendwann endlich einmal setzen darf? Doch schon eilt sie zum nächsten Tisch, auf der rechten Hand ein Tablett voller Gläser und Flaschen. Am Tisch daneben räumt sie ab und während sie auf dem linken Arm fünf leergegessene Teller im Gleichgewicht behält, nimmt sie mit der rechten Hand eine neue Bestellung auf. Und nichts von ihrem zauberhaften Lächeln hat sie verloren.

Bis zu sechs Stunden müssen Kellnerinnen und Kellner arbeiten, ohne Anspruch auf eine Pause. Ab einer Arbeitszeit von sechs Stunden gibt es eine Pause von 15 Minuten. Übersteigt die Arbeitszeit neun Stunden, gibt es eine Pause von 45 Minuten. Die maximale tägliche Arbeitszeit beträgt zehn Stunden. So steht es im deutschen Gastronomie-Arbeitsgesetz. Viele Angestellte leisten aber, freiwillig oder unfreiwillig, darüber hinaus weitere Überstunden und schuften nicht selten bis zu 14 Stunden pro Tag, oft noch mehr. Das komme den Beschäftigten sehr zugute, wird oft gesagt, viele würden “mit Freude” länger arbeiten, so könnten sie den mehr als dürftigen Stundenlohn von 9,35 Euro ein wenig aufbessern und erst noch zusätzliches Trinkgeld verdienen. Wie zynisch: Würden sie pro Stunde drei Euro verdienen, dann würden sie wahrscheinlich ganz freiwillig und “mit Freude” so lange arbeiten, bis sie tot umfallen würden. Arbeitsgesetze, so heisst es offiziell, seien dazu da, um vor Ausbeutung zu schützen. Man könnte es auch anders sagen: Arbeitsgesetze scheinen vor allem hierfür da zu sein, um Ausbeutung zu legitimieren und das Verrückte – weil es ja im Gesetzbuch steht – als normal erscheinen zu lassen.

Dabei gibt es kein einziges stichhaltiges Argument dafür, dass eine Kellnerin, die einen solchen Knochenjob leistet und am Ende solcher Arbeitstage vor lauter Schmerzen vielleicht nicht einmal mehr den wohlverdienten Schlaf in Ruhe geniessen kann, soviel weniger verdient als ihr Chef, der hinter der Theke Bier ausschenkt, oder ihr Arbeitgeber, der irgendwo in einem klimatisierten Büro eines Verwaltungsgebäudes den ganzen Tag lang vor dem Computer sitzt und sich nicht im Entferntesten vorstellen kann, wie sich brennende Fusssohlen oder Schmerzen im Rücken und in den Beinen nach sechs, neun oder 14 Stunden Knochenarbeit anfühlen. Oder die meisten der Gäste, die jetzt gerade in diesem Restaurant gemütlich und entspannt auf ihren Stühlen sitzen und sich exquisiteste Speisen und teuerste Weine auftragen lassen, die sich sie, die Kellnerin, selbst dann nicht leisten könnte, wenn sie zwanzig Stunden am Tag arbeiten und ihre Füsse, ihre Beine und ihren Rücken vor lauter Schmerzen nicht einmal mehr spüren würde. Nein, wäre die Welt gerecht, dann müsste die Kellnerin wohl um einiges mehr verdienen als ihr Chef, ihr Arbeitgeber und die meisten ihrer Gäste, die sich von ihr bedienen lassen und zwar tausend Blicke haben für ihre Handys, in die sie pausenlos hineinstarren, aber keinen einzigen Blick für die Schmerzen einer Kellnerin, die, immer noch lächelnd, das Leben ihrer Gäste so bedingungslos versüsst.

Dass dies alles an einem wunderschönen Spätsommerabend in Karlsruhe und an unzähligen anderen Orten möglich ist, ohne dass es nicht längst schon zu einem Generalstreik oder einer landesweiten Revolution gekommen ist, hat wahrscheinlich vor allem damit zu tun, dass sich die Menschen über eine viel zu lange Zeit an viel zu viele Absurditäten gewöhnt haben und es ihre Phantasie schon gar nicht mehr zulässt, sich eine Welt vorzustellen, in der alles ganz anders wäre.