Die internationale Finanzwelt entdeckt die deutschen Pflegeheime

Wenn ihre Frühschicht mal besonders schlimm ist, wenn dauernd das Handy klingelt, während sie mit einem Demenzpatienten redet, wenn sie eine alte Frau aus dem Bett in den Rollstuhl wuchtet, währenddessen eine andere nach ihr wegen Schmerztabletten klingelt, und ein alter Mann sie zum dritten Mal nach seiner Frau fragt, obwohl sie ihn bereits zweimal zu ihr ins Zimmer gebracht hat, während einer solchen Schicht also, wo sie bereits nach zweieinhalb Stunden schweißgebadet über die Flure rennt, möchte sich Verena Kaiser am liebsten nur noch hinsetzen und heulen.

Aber sie heult nicht. Sie will es auch nicht. «Ich muss den Leuten doch eine positive Stimmung vermitteln. Ich muss doch sagen, dass wir das schaffen», sagt sie. Aber sie schafft es nicht. Eigentlich. Seit längerem denkt sie darüber nach, ob sie den Beruf hinschmeißt. Verena Kaiser ist Mitte 50, arbeitet seit über 30 Jahren in einem Pflegeheim. Sie mag ihren Job. Sie mag es, dass sie die Leute anstrahlen, wenn sie mal länger weg war und sagen: «Da bist Du ja wieder. Du kannst mir den Rücken einschmieren.» Am Morgen kommt sie eine halbe Stunde früher, bevor die Frühschicht um 6.30 Uhr beginnt. Das ist ihre Freizeit, aber sie arbeitet dann bereits. Unbezahlt. Sie macht es, weil sie sonst keine Zeit hat, einen Bewohner des Pflegegrads 5 zu betreuen. Die schwersten Fälle. Dann kann jemand nicht mehr stehen oder gehen, liegt meist im Bett, oft desorientiert, kaum ansprechbar. Verena Kaiser reinigt die Haut, massiert die Gelenke, dreht den Körper, damit keine Druckgeschwüre (Dekubitus) entstehen. Das Ganze ist eine Prophylaxe gegen Altersleiden, wie Versteifungen, Lungenentzündungen oder eben Dekubitus, aber diese Vorsorge braucht Zeit, 40 Minuten, und die hat Verena Kaiser in der Frühschicht nicht. Auf ihrer Station kümmert sie sich zu zweit um 37 Bewohner. Doch manchmal muss ihre Kollegin auf einer anderen Station aushelfen, weil der Personaleinsatz so knapp kalkuliert ist, denn Personalkosten machen 70 bis 80 Prozent der Kosten eines Heimes aus, weshalb viele Anbieter möglichst wenig Leute beschäftigen wollen. Verena Kaiser schmiert dann für 17 Bewohner allein die Brote, räumt Tische ab, bringt Hilfsbedürftige zur Toilette, während stets das Handy schrillt. «Ich laufe wie ein Karnickel über die Flure, das von einem Wolf gejagt wird», sagt sie. An ihren eigenen Ruhestand will sie gar nicht denken. Sie fürchtet sich davor. Mit ihrer 30-Stunden-Woche verdient sie etwa 1900 Euro brutto im Monat, eine Lohnerhöhung gab es seit 2002 nicht. Ihre Rente wird niedrig ausfallen, vermutlich sogar Grundsicherung, wie die Sozialhilfe im Alter heißt. Einen Platz im Vitanas-Heim wird sie sich nicht leisten können, denn da müsste sie etwa 1800 Euro im Monat zuzahlen…

Verena Kaiser arbeitet in einem Ableger der Heim-Kette Vitanas. Sie gehört dem US-Finanzinvestor Oaktree, der sie vor anderthalb Jahren für 500 Millionen Euro übernommen hat. Mit fast 8400 Betten und knapp 6000 Beschäftigten zählt der US-amerikanische Fonds, der über 100 Milliarden Dollar verwaltet, zu den größten Pflegeheim-Anbietern Deutschlands. Oaktree ist nicht der einzige Abgesandte des großen Geldes, der aus der Betreuung alter Menschen Gewinn ziehen will.  Der schwedische Investor EQT sicherte sich in großem Stil Pflegeheime in Bayern und Nordrhein-Westfalen, sein Konkurrent, der schwedische Investor Nordic Capital, kaufte Alloheim, den zweitgrößten Heimanbieter, der französische Pflege-Konzern Korian übernahm Curanum und Casa Reha stieg zur Nummer eins unter den deutschen Pflegekonzernen auf. Und die deutsche Wohnen, einer der größten Vermieter Deutschlands, kaufte 45 Prozent des Hamburger Anbieters Pflege und Wohnen wiederum von Oaktree. Die internationale Finanzwelt entdeckt die deutschen Pflegeheime. Laut einer Studie der Beratungsfirmen Deloitte, dem RWI Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung und dem Institute for Health Care Business liegt das Risiko für die Pleite eines Heimes bei zwei Prozent. Bei Kliniken sind es zehn Prozent. Goldene Zeiten für Investoren. Kurz nach der Übernahme von Oaktree tauchten die Berliner Vitanas-Heime in den Medien auf. Von unzufriedenen Bewohnern berichteten die Zeitungen, von liegengebliebenen Fahrstühlen, die nicht repariert wurden, von Mittagessen, die nicht abgeräumt wurden, von verkoteten Zimmern, die nicht gesäubert wurden. Angehörige schrieben Briefe, die Berliner Heimaufsicht wollte prüfen. Das internationale Geld will die letzte Zeit eines Menschen auf Erden offenbar ziemlich traurig gestalten. Fragt man Verena Kaiser, was sich durch den Einstieg von Oaktree geändert hat, sagt sie: «Es ist alles viel schlimmer geworden, die Arbeitsverdichtung, die Hetze, der Zeitdruck.»

(Stern, 7/2019)

Wie immer im Kapitalismus. Unten wird geschuftet bis zum Tod, oben halten sie die Hände auf und das Geld sprudelt ganz von selber vom Himmel. Die beiden Kehrseiten der kapitalistischen Medaille: Schweiss und Tränen der einen verwandeln sich in das Gold der anderen…