Die Grünen nach der Wahl – mehr Kompromissbereitschaft?

«Wollen die Grünen ihren Wählerauftrag nicht aus der Hand geben, dann gibt es für sie nur einen Weg: Sie müssen sich entwickeln – zu einer kompromissbereiten Volkspartei. Noch immer sind die Grünen eine Partei mit Bewegungscharakter und bekunden Mühe, sich explizit von den radikalen Systemwechselforderungen mancher Klimaschützer auf den Strassen zu distanzieren.»

(Raphaela Birrer, Tages-Anzeiger, 26. Oktober 2019)

Das wäre wohl das Letzte, was den Grünen zu raten wäre: sich von den Forderungen der Klimabewegung zu distanzieren. Dies wäre geradezu ein Verrat gegenüber all jenen, welche den Wahlerfolg der Grünen überhaupt erst möglich gemacht haben. Und ein Triumph all jener, die bereits damit spekuliert haben, dass genau dies, nämlich der Einzug ins Parlament, der grünen Bewegung den Wind aus den Segeln nehmen würde, da sie nun nicht mehr an Radikalforderungen festhalten, sondern sich immer wieder auf Kompromisse einlassen müssten. Doch so sehr es im Parlament auch um das Finden von Kompromissen geht: Kompromisse schliessen kann man erst, wenn man zunächst radikale Forderungen in den Raum stellt, und nicht, indem man den Kompromiss schon vorwegnimmt. Deshalb tun die grünen Parlamentarier und Parlamentarierinnen gut daran, eine Doppelstrategie zu fahren: Einerseits klar und unmissverständlich bleiben in ihren Maximalforderungen, von denen sie keinen Millimeter abweichen sollten, denn die Erde brennt und jedes noch so kleine Abrücken von Maximalforderungen ist ein Todesstoss für zukünftige Generationen. Und doch – das ist die andere Seite der Doppelstrategie – auch kleine Schritte als Teilerfolge zu anerkennen. Werden die Grünen durch die parlamentarische Arbeit allzu brav und kompromissbereit, dann wird ihnen in vier Jahren ein Wahlerfolg wie 2019 mit grösster Wahrscheinlichkeit verwehrt bleiben. Wie sagte schon der Urwalddoktor Albert Schweitzer: «Im Jugendidealismus erschaut der Mensch die Wahrheit. In ihm besitzt er einen Reichtum, den er gegen nichts eintauschen soll.»