Die Frage heute ist, wie man die Menschheit überreden kann, in ihr eigenes Überleben einzuwilligen…

 

“Die Frage heute ist, wie man die Menschheit überreden kann, in ihr eigenes Überleben einzuwilligen.” Dieses Zitat des britischen Philosophen Bertrand Russell geht mir in diesen Tagen immer wieder durch den Kopf, wenn ich sehe, wie die Menschen wieder massenweise in alle Himmelsrichtungen fliegen, der Fleischkonsum und der Strassenverkehr von Jahr zu Jahr zunehmen und so viele Menschen ins Kriegsgeheul rund um den Ukrainekonflikt einstimmen. Eigentlich wissen wir es ja: Der von Menschen gemachte Klimawandel bedroht nichts weniger als die Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen, für die Fleischproduktion werden immer grössere, für die Produktion von Grundnahrungsmitteln dann nicht mehr nutzbare Agrarflächen verschwendet und eine Ausweitung des Ukrainekriegs bis hin zu einem möglichen Atomkrieg würde sowieso aller Voraussicht nach das Ende der Menschheit bedeuten. Wie können sich die Menschen nur so dumm verhalten? Sind wir allen Ernstes zu nichts Besserem fähig, als uns das eigene Grab zu schaufeln? Nun wird zwar oft gesagt, es seien ja nicht die “gewöhnlichen” Menschen wie du und ich, die an allem Schuld seien. Es seien vielmehr die “bösen” Konzerne, die unfähigen Regierungen, die Reichen und Mächtigen, der Kapitalismus. Einverstanden, aber alle diese “bösen” Mächte brauchen auch ganz “gewöhnliche” Menschen, die ihr übles Spiel mitmachen und damit das bestehende Machtsystem am Leben erhalten. Weder sind die “bösen” Mächte alleine an allem Schuld, noch alleine die “gewöhnlichen” Menschen, sondern alle zusammen in gegenseitiger Wechselwirkung. Deshalb ist die Frage von Bertrand Russell durchaus berechtigt: Wie könnte man die Menschheit überreden, in ihr eigenes Überleben einzuwilligen? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns damit beschäftigen, was es denn ist, was die Menschen davon abhält, vernünftiger und zukunftsgerichteter zu denken und zu handeln. Ich sehe drei mögliche Erklärungen. Erstens: Das Diktat der Mehrheit. Ich erinnere mich noch daran, wie vor vielen Jahren im Sommer unzählige reisehungrige Schweizerinnen und Schweizer nach Italien fuhren. Dann, wie wenn ein Schalter umgelegt worden wäre, ging es nach Griechenland. Und wieder ein paar Jahre später war es die Türkei, bis schliesslich Kroatien folgte. Menschen, oder zumindest ein grosser Teil von ihnen, scheinen so etwas wie einem “Herdentrieb” zu unterliegen: Was die Mehrheit tut, kann nicht falsch sein, also tue ich es auch, egal ob es sich dabei um eine Ferienreise mit dem Auto handelt, das Fliegen nach Mallorca oder zu den Malediven, den Fleischkonsum, das neue E-Bike, die Schnäppchenjagd nach möglichst billigen Kleidern und Schuhen oder um eine neue, noch verrücktere Sportart inklusive zugehöriges Equipment. Als kürzlich Herr K. sein Haus innen und aussen mit Überwachungskameras ausstattete, fragte ich ihn nach dem Grund. Seine Antwort: Auch sein Nachbar hätte sein Haus mit Kameras ausgestattet, sonst wäre er wahrscheinlich gar nicht auf die Idee gekommen. So wird fragwürdiges, schädliches oder nicht selten auch gefährliches Handeln damit legitimiert, dass es ja schliesslich alle anderen auch tun und dass es deshalb ja auch nicht so schlimm sein könne. Das eigene, kritische Hinterfragen über den Sinn und Zweck des Ganzen bleibt dabei oft auf der Strecke: “Wir sollten uns”, sagte Albert Einstein, “viel öfter die Frage stellen, ob es richtig ist, nur weil wir es alle tun.” Und ähnlich formulierte es Leo Tolstoi: “Falsch hört nicht auf, falsch zu sein, nur weil die Mehrheit daran beteiligt ist.” Zweitens: Die Macht der Gewohnheit. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit meinem Vater, als ich etwa 16 Jahre alt war. Ich vertrat die Ansicht, dass es in Zukunft keine Kriege mehr geben sollte, da diese immer bloss Leid über die Menschheit brächten. Mein Vater versuchte mich mit dem Argument zu belehren, dass es auch in Zukunft immer wieder Kriege geben werde, weil es schon seit dem Beginn der Menschheit immer wieder Kriege gegeben hätte. Mit diesem Argument kann man noch die grössten Absurditäten rechtfertigen und als “Normalität” betrachten. So zum Beispiel die Tatsache, dass weltweit über 800 Millionen Menschen unter Hunger leiden, obwohl weltweit genug Nahrung für alle Menschen vorhanden wäre – Hunger habe es schliesslich schon immer gegeben und werde es deshalb auch weiterhin geben. Oder die Tatsache, dass, so wie dies beispielsweise in der Schweiz der Fall ist, die höchsten Löhne das Dreihundertfache der niedrigsten ausmachen, als ob jemand 300 Mal länger oder härter arbeiten könnte als ein anderer – Lohnunterschiede habe es schliesslich immer schon gegeben und werde es auch in Zukunft geben. Oder die Tatsache, dass viele Menschen ein eigenes Haus besitzen, mit Garten und oft sogar einem eigenen Swimmingpool, während sich andere in enge Mietwohnungen zwängen müssen, obgleich sie doch durch ihre tägliche Arbeit ebenso einen unschätzbaren Beitrag zum gesellschaftlichen Wohlergehen leisten wie andere – das sei schon bei den alten Römern so gewesen und werde deshalb auch ewig so bleiben. Oder die Tatsache, dass die Schule weiterhin an der Benotung der Kinder festhält, obwohl längstens erwiesen ist, wie schädlich und zermürbend sich das Notensystem auf das Lernen auswirkt – Noten gäbe es schon seit über zweihundert Jahren und werde es deshalb auch in den nächsten zweihundert Jahren noch geben. Oder die Tatsache, dass es im Grunde absolut verrückt ist, zwei Tonnen Blech und Stahl in Form eines privaten Automobils in Gang zu setzen, nur um eine Person von 70 Kilogramm Körpergewicht von A nach B zu bringen, die hierfür ebenso gut ein öffentliches Verkehrsmittel benutzen könnte – Autos gäbe es schon seit über hundert Jahren und werde es deshalb auch weiterhin geben, selbst wenn die Strassen noch so verstopft sind und die Fahrzeiten jene des öffentlichen Verkehrs immer häufiger übersteigen. Oder die Tatsache, dass der Besitz von Geld in immer grösserem Ausmass dazu missbraucht wird, um Macht über andere auszuüben, statt einfach als eine Art Tauschmittel zwischen gleichberechtigten Partnern zu dienen – Zinsen, Aktien, Obligationen und Banken gäbe es schon seit Urzeiten und ein anderes Geldsystem hätte bisher noch nirgendwo funktioniert. Die Macht der Gewohnheit ist der Feind jeglichen gesellschaftlichen Fortschritts. Sie macht uns buchstäblich blind für das Allereinfachste und das Allervernünftigste. Käme der kleine Prinz aus der berühmten Geschichte von Antoine de Saintexupéry heute wieder auf die Erde, er würde sie wohl angesichts einer so grossen Fülle von Absurditäten so schnell wie möglich wieder verlassen. Drittens: Die Beruhigung des schlechten Gewissens. Irgendwo spüren wohl die meisten Menschen trotz allem, dass nicht nur Einzelnes, sondern fast alles in eine falsche Richtung läuft, vorausgesetzt, wir stellen uns die alles entscheidende Kernfrage, ob wir auf diesem Planeten überleben wollen oder nicht. Diese Diskrepanz lässt sich nur aushalten, wenn wir das eigene schlechte Gewissen auf alle mögliche oder unmögliche Art zu beruhigen versuchen. So sagen beispielsweise viele Menschen, sie würden nur sehr wenig Fleisch essen und wenn, dann solches vom Biobauern. Oder sie sagen, sie würden heute nur noch einmal pro Jahr fliegen statt wie früher drei oder vier Mal. Oder sie sagen, die Zahl hungernder Menschen sei weltweit in den letzten zahn Jahren zurückgegangen – als wäre es nicht der grösste Skandal, dass heute immer noch jeden Tag weltweit 15’000 Kinder sterben, weil sie nicht genug zu essen haben. Das Diktat der Mehrheit. Die Macht der Gewohnheit. Die Beruhigung des schlechten Gewissens. Ohne diese Denkmuster aufzubrechen, wird es schwierig oder nahezu unmöglich, der von Russell aufgeworfenen Forderung nach dem Überleben der Menschheit nachzukommen. “Der moderne Mensch”, so Albert Schweitzer, “wird in einem Tätigkeitstaumel gehalten, damit er nicht zum Nachdenken über den Sinn seines Lebens und der Welt kommt.” Was wir brauchen, ist das, worauf wir doch eigentlich so stolz sind: Freiheit! Eine Freiheit aber, die sich nicht darauf beschränkt, möglichst viele Autokilometer abzuspulen, möglichst weit zu fliegen und möglichst viel Fleisch zu essen. Sondern eine Freiheit, die sich freimacht vom Diktat der Mehrheit, von der Macht der Gewohnheit und von der Beruhigung des schlechten Gewissens. Gänzlich frei sind wir erst, wenn wir all die Denkmuster, die unser tägliches Handeln bestimmen, kritisch hinterfragen im Blick auf eine neue Lebensperspektive, die ein gutes Leben nicht nur für uns selber, sondern auch für unsere Kinder und Kindeskinder über alle Grenzen hinweg möglich machen kann. Denn wir können, wie Albert Einstein sagte, “unsere Probleme niemals mit der gleichen Denkweise lösen, durch welche sie entstanden sind.” Denn “Freiheit”, so die schwedische Schriftstellerin Astrid Lindgren, “bedeutet, dass man nicht unbedingt alles so machen muss wie alle anderen Menschen.”