Die deutschen Grünen auf dem Weg zur Macht – doch welches ist der Preis?

 

Die deutschen Grünen wittern Morgenluft. Sie wollen ihre bisherige Rolle als Opposition aufgeben und ab 2021 Regierungsverantwortung übernehmen. Zu diesem Zweck, so der “Tages-Anzeiger” vom 23. November 2020, haben sie sich ein neues Grundsatzprogramm verpasst, mit dem sie “aus der früheren Ökonische in die Mitte der Gesellschaft” gelangen möchten. Hätten die grünen “Fundis der Vergangenheit” noch Radikalopposition betrieben, so spielten die Grünen heute eine ganz andere “Melodie”: “Das neue Programm lobt die Märkte für ihre Innovationskraft über den grünen Klee.” Gleichzeitig wird nicht einmal mehr am Pariser Klimaabkommens festgehalten und die Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 Grad nicht mehr als Ziel, sondern nur noch als “Pfad” formuliert, was jegliche umweltpolitische Beliebigkeit und Dehnbarkeit ermöglicht. Denn die Forderungen der Klimajugend seien ausserhalb ihres Kreises “nicht mehrheitsfähig und aus Sicht der Partei nur dazu angetan, Wähler in Massen zu vertreiben.” Doch Halt. War es nicht gerade die Klimabewegung, welche mit dem Aufmarsch Hunderttausender Jugendlicher über Monate hinweg die Bevölkerung erst so richtig wachgerüttelt und zweifellos zum Vormarsch der Grünen wesentlich beigetragen hat? Und jetzt distanzieren sich die Grünen ausgerechnet von all jenen, die ihren Aufstieg ermöglichten? Wie könnte man das nennen? Ist das der Preis, den man zahlen muss, wenn man “mehrheitsfähig” werden und sich an der Macht beteiligen will? Ist es Vernunft? Sind es die Gesetze der “Realpolitik”? Oder ist es nicht ganz einfach und brutal gesagt: Verrat? Verrat an den eigenen ursprünglichen Idealen, Verrat an all denen, die bei jedem Wetter und allen Anfeindungen zum Trotz auf den Strassen gekämpft haben, Verrat an all jenen Wählern und Wählerinnen, die ihre Stimmen immer wieder grünen Politikern und Politikerinnen gegeben haben in der Hoffnung, diese würden auch weiterhin und allen Anfeindungen zum Trotz die ursprünglichen Ziele der Klimabewegung nicht aus den Augen verlieren. “In der Mitte der Gesellschaft angekommen”: Wie gut das tönt, fast so gut wie die neue “Melodie”, die auf die Kräfte der Marktwirtschaft gesungen wird. Doch könnte man es nicht anders sehen? Die “Mitte der Gesellschaft” ist nämlich nichts anderes als die “Mitte des kapitalistischen Monsters”. Schön, da sind jetzt die Grünen endlich angekommen, wie die Spinne, die sich in ihrem eigenen Netz verwickelt hat und nicht mehr herausfindet. Von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet veröffentlichte im Januar 2020 die internationale Kommunikationsagentur Edelmann das Ergebnis einer weltweiten Befragung. Daraus geht hervor, dass 56 Prozent der Deutschen davon überzeugt sind, dass “der Kapitalismus mehr schadet als nützt”. Würden sich die Grünen – mit allen damit verbundenen Konsequenzen – als antikapitalistische politische Kraft präsentieren, so hätten sie also bereits ganz alleine die Mehrheit der Bevölkerung auf ihrer Seite und wären dann tatsächlich “in der Mitte der Gesellschaft” angelangt. Weshalb diese Ängstlichkeit, dieser Kleinmut, diese Aufgabe der ursprünglichen Ideale, dieses Anpassertum?  Ja, wir brauchen eine neue Melodie. Aber nicht die Melodie des Kapitalismus, diese hat genug Schaden angerichtet. Es braucht eine neue Melodie, eine Melodie des Friedens und der Gerechtigkeit jenseits von Machtspielen, von selbstzerstörerischem Wachstumswahn und der Ausbeutung von Mensch und Natur. Genau die Melodie, die von den Klimajugendlichen auf den Strassen gesungen wurde und hoffentlich schon bald wieder zu hören sein wird. Denn wie sagte schon wieder der berühmte Urwalddoktor Albert Schweitzer: “Im Jugendidealismus erschaut der Mensch die Wahrheit. In ihm erschaut er einen Schatz, den er um nichts in der Welt austauschen soll.”