Die Coronapandemie und die Frage nach der Zukunft des Kapitalismus

 

Die Coronapandemie, so Nikolaus Piper im heutigen Tages-Anzeiger vom 10. Dezember 2020, liefere keine Argumente gegen den Kapitalismus. Im Gegenteil: Nur die Milliarden, über welche die Staaten dank ihrer kapitalistischen Wirtschaft verfügten, hätten das Schlimmste verhindert. Und schliesslich hätten die G-20-Staaten beschlossen, die Impfdosen weltweit möglichst gerecht zu verteilen. Man könne nur hoffen, so Piper, dass es durch die Coronapandemie nicht zu einer Abkehr vom Kapitalismus komme. Was Piper hier vertritt, ist eine sehr einseitige Sicht der Dinge. Logisch, dass ein Bewohner jenes Landes, das von der Globalisierung und dem weltweiten kapitalistischen System dermassen profitiert wie die Schweiz, mit der Idee einer Abkehr vom Kapitalismus kaum etwas anfangen kann. Würden wir aber einen indischen Landarbeiter, eine brasilianische Köchin oder einen afrikanischen Minenarbeiter fragen, dann wäre die Antwort wohl eine ganz andere. Der gleiche Kapitalismus, der bei uns viel Wohlstand, eine hohe Lebensqualität und eben auch ein hervorragendes Gesundheitssystem ermöglicht hat, dieser gleiche Kapitalismus hat eine umso schmerzlichere und leidvollere Kehrseite: Armut, Hunger und Elend in weiten Teilen der südlichen Länder – und eben auch viel schlechtere Gesundheitssysteme, was dazu führt, dass beispielsweise ganze afrikanische Länder mit mehreren Millionen Einwohnern und Einwohnerinnen nicht einmal über ein einziges Beatmungsgerät verfügen. Und wenn Piper die gerechte Verteilung der Impfstoffe erwähnt, so mag dies ja eine begrüssenswerte Absichtserklärung der G-20-Staaten sein. Tatsächlich aber haben sich die wohlhabenden Länder des Nordens längst so grosse Mengen an Impfstoff unter den Nagel gerissen, dass für die ärmeren Länder nicht mehr viel übrig bleibt, ganz abgesehen davon, dass die Verteilung der Impfdosen mittels Kühlketten von minus 70 Grad in unwegsamem Gelände über Hunderte von Kilometern fast ein Ding der Unmöglichkeit ist. Tatsache ist: Der Reichtum der reichen Länder und die Armut der armen hängen aufs Engste zusammen. Am Beispiel der Schweiz lässt sich dies auf besonders eindrückliche Weise zeigen: Ein Land, das sich nur zur Hälfte aus eigener Erde ernähren kann und über keinerlei Bodenschätze verfügt, ist dennoch das reichste Land der Welt. Während mit dem Kaufen und Verkaufen von Erdöl und andere Rohstoffen und Bodenschätzen Milliardengewinne gemacht werden, verharren die Länder, aus deren Erde diese Rohstoffe und Bodenschätze stammen, nach wie vor in bitterster Armut. Das Gleiche gilt für Kaffee, Kakao, tropische Früchten und viele andere Produkte, mit denen Lebensmittelkonzerne und Supermärkte ihre Gewinne erzielen, während all die Arbeiterinnen und Arbeiter, welche in den südlichen Ländern diese Produkte herstellen, kaum genug zum Leben haben. Rohstoffe billig einkaufen und zu teuren Fertigprodukten verarbeiten – diese Devise hat der Schweiz und den anderen kapitalistischen Ländern des Nordens über Jahrhunderte jenen Reichtum verschafft, auf den sie heute so stolz sind. Kann es ein Ziel sein, dass die Welt so bleibt, wie sie ist? Oder müsste uns nicht im Gegenteil genau die Coronapandemie die Augen dafür öffnen, dass die Welt eben gerade nicht so bleiben sollte, wie sie ist? Wäre es nicht höchste Zeit für ein Wirtschaftssystem, das nicht mehr auf Ausbeutung beruht, sondern auf einer gerechten Verteilung aller Güter und einem guten Leben für alle, ganz unabhängig davon, ob sie in Mali, Bangladesch oder eben in der Schweiz geboren wurden?