Die Blaue Moschee in Hamburg: Der “Terrorismus” in unseren Köpfen und die Frage, ob nicht alles auch ganz anders sein könnte…

“Der Aussenposten des Iran muss schliessen”, so berichtet der schweizerische “Tagesanzeiger” vom 25. Juli 2024. Gemeint ist das vom deutschen Innenministerium erlassene Verbot des Islamischen Zentrums Hamburg, welches nach Ansicht der deutschen Behörden “Terror und Islamismus” propagiere. Vermummte und bewaffnete Beamte seien um 6 Uhr früh vorgefahren, mit Trennschleifern und einer Ramme, zur Razzia in der Imam-Ali-Moschee, auch genannt “Blaue Moschee”, Sitz des Trägervereins Islamisches Zentrums Hamburg (IZH). Wenig später hätten Polizisten die ersten “Kartons mit Beweismaterial” herausgetragen, darunter “einen Sack voller Geldmünzen”. Ebenso seien fünf weitere Vereine verboten worden, die “teilweise oder komplett unter der Kontrolle des IZH” stünden. Die Polizisten hätten zudem insgesamt weitere 53 “dem IZH ideologisch nahestehende Einrichtungen in acht deutschen Bundesländern” untersucht. Das deutsche Innenministerium begründe das Verbot damit, dass das IZH “gegen die verfassungsmässige Ordnung der Bundesrepublik Deutschland und den Gedanken der Völkerverständigung gerichtet” sei und ausserdem “gegen Strafgesetze” verstosse. Dem IZH werde “Terrorunterstützung” vorgeworfen, insbesondere die Unterstützung der in Deutschland verbotenen libanesischen Hizbollah. Das IZH, so die deutsche Innenministerin Nancy Faeser, propagiere eine “islamistische, totalitäre Ideologie”, die sich “gegen die Menschenwürde, gegen Frauenrechte, gegen eine unabhängige Justiz und gegen unseren demokratischen Staat” richte. Dazu käme ein “aggressiver Antisemitismus”. Als weiterer zentraler Grund für das Verbot wird ins Feld geführt, dass das IZH den deutschen Behörden als “Aussenposten des iranischen Regimes” gelte, das “unter dem Deckmantel einer ganz normalen Moscheegemeinschaft und Bildungsinstitution” agiere.

Auch das schweizerische “Tagblatt” vom 25. Juli spricht vom IZH als “Irans Vorposten in Europa”, als “Spionagenest” und “Propagandazentrale der Mullahs”, welche “totalitäre Herrschaftsmodelle” propagiere, “gegen Juden und gegen Israel” hetze und die in Deutschland verbotene “Terrororganisation” Hizbollah unterstütze. Der Hamburger Verfassungsschutz beobachte das IZH bereits seit 1993. Anfang 2020 sei in der Blauen Moschee eine Trauerfeier für Qassem Soleimani abgehalten worden, den General der iranischen Revolutionsgarden, den das amerikanische Militär auf Befehl des damaligen US-Präsidenten Donald Trump getötet hatte. Lange Zeit aber sei das IZH zumindest von Teilen der Hamburger Politik “als Partner betrachtet” worden, bis 2022 hätte das IHZ der Schura angehört, einem Rat islamischer Gemeinschaften, mit denen Hamburg einen Staatsvertrag abgeschlossen hatte, um Fragen von beiderseitigem Interesse, wie etwa den Religionsunterricht, zu regeln. Erst 2022 seien das IZH und einige kleinere Organisationen aus der Schura ausgetreten, nachdem “Politiker von CDU und Grünen ihren Rauswurf gefordert” hätten.

Beim Lesen der beiden Artikel macht mich einiges stutzig: Wenn das IZH bereits seit 1993 unter Beobachtung des Verfassungsschutzes stand, also seit über 30 Jahren, dann können ja die Gründe für das jetzt vollzogene Verbot nicht allzu schwergewichtig gewesen sein, sonst hätte man ja dieses Verbot schon viel früher erlassen. Völlig befremdlich erscheint mir auch, dass ausgerechnet die Trauerfeier für Qassem Soleimani anstössig gewesen sein soll, während das wirklich Anstössige daran wohl eher darin bestehen dürfte, dass dieser Repräsentant der iranischen Revolutionsgarden auf Befehl der US-Regierung umgebracht worden war – man stelle sich einmal vor, die iranische Regierung würde die Ermordung des deutschen Bundespräsidenten in Auftrag geben! Ebenfalls zu denken geben muss die Tatsache, dass das IZH bis 2022 bei der Schura mitmachte und sich somit einem interreligiösen Dialog verpflichtet hatte, der erst durch die Initiative deutscher Politiker zerstört wurde. Vielsagend erscheint mir auch, dass zwar immer wieder von “totalitärer Ideologie”, “Antisemitismus”, “Verstössen gegen Menschenwürde und Demokratie”, “Verletzung der verfassungsmässigen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland” und dergleichen die Rede ist, es sich dabei aber offensichtlich bloss um Unterstellungen und Vermutungen zu handeln scheint, während sich die tatsächlichen “Beweise” für all das vorerst auf einen “Karton mit Beweismaterial” und einen “Sack voller Geldmünzen” beschränken.

Etwas differenzierter wird das Verbot der IZH in der “Zeit online” vom 24. Juli dargestellt: “Die Blaue Moschee”, so ist zu lesen, “ist nicht nur ein politischer, sondern auch ein religiöser Ort. Das, was Gläubige dort vom Imam zu hören bekommen, ist laut dem Bundesinnenministerium nicht verbotswürdig. In Verlautbarungen treten die Verantwortlichen gemässigt auf. Die Predigten lassen sich sogar auf dem YouTube-Kanal des Islamischen Zentrums abrufen. Zum Gebet kommen nicht nur Radikale, viele Besucherinnen und Besucher sind konservativ oder moderat. Man kann das Islamische Zentrum deshalb nicht verbieten, ohne einen Plan zu entwickeln, wie man die Lücke schliesst, die man damit in das religiöse Gefüge und die Glaubenspraxis von 30’000 Menschen reisst. Sollte sich bei diesen der Eindruck verfestigen, ein Verbot des IZH sei ein Angriff auf ihre Religion als Ganzes, dann könnten sich Teile der schiitischen Gemeinde radikalisieren. Die Hamburger Innenbehörde hat sich mit dem Szenario noch nicht auseinandergesetzt, wie Insider aus Behördenkreisen sagen. Das sollte sie aber – eine mögliche Radikalisierung einzelner Schiiten abseits der Blauen Moschee würde nicht vor den Augen der Sicherheitsbehörden ablaufen, sondern verdeckt in Hinterzimmern.”

Könnte es sein, dass das Verbot des Islamischen Zentrums Hamburg nicht nur mit diesem selber bzw. seiner ihm unterstellten zunehmenden Radikalisierung zu tun hat, sondern ebenso auch mit einer zunehmenden Radikalisierung deutscher bzw. westlicher Regierungspolitik, verstärkt durch eine zunehmend polarisierte, auf das Schüren von Feindbildern ausgerichtete und von den Medien systematisch geschürte öffentliche Meinungsbildung? Vieles deutet darauf hin. Es ist wohl kein Zufall, dass zum Beispiel auch die Tageszeitung “Junge Welt” seit 1998 regelmässig im Verfassungsschutzbericht erwähnt wird. Ihr wird zur Last gelegt, sich an marxistischen Gesellschaftsanalysen zu orientieren, eine Überwindung des Kapitalismus zu fordern und eine sozialistische Gesellschaftsordnung anzustreben, was angeblich gegen eine “freiheitliche demokratische Grundordnung” verstosse und deshalb als “linksextremistisch” einzustufen sei. Vergeblich klagte die “Junge Welt” unlängst gegen diese Diffamierung, welche sie sowohl bei ihrer redaktionellen Meinungsfreiheit, bei der Suche nach Autorinnen und Autoren wie auch beim Gewinnen von Werbepartnern stark einschränke: Am 18. Juli 2024 wies das Verwaltungsgericht Berlin die Klage ab und beurteilte die Beobachtung der “Jungen Welt” durch den Verfassungsschutz als gerechtfertigt, Differenzierungen zwischen Marxismus, Leninismus und Stalinismus, wie sie der “Jungen Welt” bei ihrer redaktionellen Arbeit wichtig sind, liess das Gericht nicht gelten. Ebenso, wie ganz allgemein Differenzierungen in der öffentlichen Meinungsbildung eine zunehmend schwindende Bedeutung haben: Beinahe unterschiedslos werden immer öfters Begriffe wie Islam, Islamismus und Terrorismus in den gleichen Topf geworfen, auch zwischen “links” und “linksextrem” wird kaum mehr ein Unterschied gemacht, mit dem Begriff “Nazi” wird immer inflationärer um sich geworfen und jeder, der es auch nur ansatzweise wagt, den von der israelischen Regierung im Gazastreifen begangenen Völkermord anzuprangern, wird sogleich als “Antisemit” abgestempelt. Hauptsache, wir sind die Guten und alle anderen sind die Bösen. Bezeichnend ist auch, dass die kürzlich erfolgte Zusicherung des neuen iranischen Präsidenten Massud Peseschkian, sein Land werde keine Atombomben bauen, keinerlei Eingang fand in die westlichen Mainstreammedien. Dies, nachdem die Atombombengefahr durch Iran seit Jahrzehnten von westlichen Politikern und Medien an die Wand gemalt wurde und auch als Grund für harte wirtschaftliche Sanktionen diente. Aber einer Mitteilung wert ist offensichtlich nur das, was möglichst haargenau ins bestehende Feindbild hineinpasst.

Auch der Begriff des “Terrorismus” ist, aus westlich-kapitalistischer Warte, so klar und eindeutig besetzt, definiert und tief in den Köpfen verankert, dass man sich gegenteilige Interpretationen schon gar nicht mehr zu denken wagt. Einfach gesagt: Das “Gute” ist die “demokratisch-freiheitliche” Ordnung des Westens und ihrer Wertewelt, angeführt von den USA als Weltmacht Nummer eins. Alles, was sich gegen diese Wertewelt auflehnt, ob die iranischen Revolutionsgarden, Putin, die libanesische Hizbollah, ewiggestrige Marxisten und Kommunisten oder die Blaue Moschee in Hamburg ist “Terrorismus” und daher mit allen Mitteln zu bekämpfen.

Doch könnte man das Ganze nicht auch in der genau entgegengesetzten Richtung sehen? Wo, wie und weshalb entsteht denn überhaupt “Terrorismus”? Weshalb lebten in Palästina alle Menschen friedlich miteinander und gab es dort keine “Terroristen”, bevor die jüdischen Siedler ins Land kamen und die arabische Bevölkerung aus ihren Wohngebieten zu verdrängen begannen? Entstanden “terroristische” Volksbefreiungsbewegungen in südamerikanischen Ländern nicht ausgerechnet immer gerade dort, wo Militärdiktaturen am verheerendsten wüteten? War die libanesische Hizbollah nicht eine militante Antwort auf den völkerrechtswidrigen Einmarsch israelischer Truppen in den Süden Libanons im Jahre 1982? Sind “terroristische” Verbände wie die ISIS nicht letztlich eine Folge des völkerrechtswidrigen Kriegs der USA gegen den Irak im Jahr 2003? “Terrorismus” ist die Waffe in der Hand der Ohnmächtigen, der Ausgestossenen, der Ungeliebten, der Gedemütigten, derer, die so verzweifelt sind, dass sie am Ende sogar bereit sind, ihr eigenes Leben zu opfern, bloss um die Welt ein bisschen gerechter zu machen. “Wenn man einem Menschen verbietet, das Leben zu leben, das er für richtig hält”, sagte Nelson Mandela, “hat er keine andere Wahl, als zum Rebell zu werden.”

Das grösste terroristische Netzwerk aller Zeiten ist nicht Al-Qaida, IS oder andere “islamistische” Gruppierungen. Auch nicht die Hizbollah oder die Hamas. Auch nicht die Farc oder andere lateinamerikanische Widerstandsbewegungen. Auch nicht die Blaue Moschee in Hamburg. Und schon gar nicht linke Zeitungen wie die “Junge Welt”. Das grösste terroristische Netzwerk aller Zeiten ist das zunächst von Grossbritannien, später von den USA angeführte kapitalistische Wirtschafts- und Machtsystem, das beinahe die gesamte indigene Urbevölkerung Amerikas ausgelöscht, rund 15 Millionen afrikanische Kinder, Frauen und Männer als Sklavinnen und Sklaven nach Amerika deportiert, den amerikanischen wie auch den afrikanischen Kontinent innerhalb weniger hundert Jahre seiner sämtlichen Reichtümer beraubt und die Früchte und Bodenschätze des Südens in den Luxus des Nordens verwandelt hat. Es ist das kapitalistische Wirtschafts- und Machtsystem, das mit seiner Speerspitze in Form des US-Imperialismus verantwortlich ist für über 40 völkerrechtswidrige Kriege und Militärschläge allein seit 1945, denen insgesamt rund 50 Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind und das 500 Millionen verletzte, verstümmelte und traumatisierte Menschen zurückgelassen hat. Es ist das kapitalistische Wirtschafts- und Machtsystem, das bis heute Tag still und heimlich jeden Tag rund 10’000 Kinder schon vor ihrem fünften Lebensjahr ermordet, weil all die Lebensmittel, mit denen diese Kinder ernährt werden könnten, in ferne Länder geschafft werden, wo sie möglichst gewinnbringend verkauft werden. Und es ist dieses kapitalistische Wirtschafts- und Machtsystem, das unbeirrt am Dogma eines endlosen Wachstums festhält und aus reiner Profitgier die Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen systematisch zerstört.

Wenn der Kapitalismus ins Gesicht des vermeintlichen “Terrorismus” schaut, dann schaut er ins Spiegelbild seines eigenen Gesichts. Damit aber kann er sich gleichzeitig aller seiner Verbrechen entschuldigen und entledigen, denn wenn das andere das “Böse” ist, dann muss er selber logischerweise das “Gute” sein. Und er wird, mit jeder Polizeitruppe, die frühmorgens um sechs Uhr ausrückt, mit jeder Drohne, die irgendwo über “Feindesland” abgeworfen wird, mit jeder Zeitung, die verboten wird, mit jeder Nachricht, die gezielt verschwiegen wird, mit jeder Zahl, die ins Gegenteil verdreht wird, und mit jedem Satz und jeder Schuldzuschreibung, mit der Wörter zusammengeworfen werden, die nichts miteinander zu tun haben, alles daran setzen, dass die Wahrheit so lange wie nur irgend möglich nicht ans Licht kommt.

(Dies alles soll freilich nicht darüber hinweg täuschen, dass auch im Islam – wie übrigens in jeder anderen Religion ebenso – extremistische Tendenzen oder Bewegungen nie ganz ausgeschlossen werden können und fanatische oder gar Hass predigende Wortführer durchaus eine höchst gefährliche und schädliche Wirkung entfalten können. Deswegen aber gleich ganze Kirchenhäuser zu schliessen, den Dialog abzubrechen und Beschuldigungen auf ganze Religionsgemeinschaften auszudehnen, ist zweifellos der genau falsche Weg und führt in aller Regel zu Radikalisierungen, Abspaltungen und all dem, was man eigentlich verhindern möchte. Der seit Jahrzehnten an vielen Orten der Welt höchst erfolgreich geführte interreligiöse Dialog, um sich gegenseitig besser zu verstehen und voneinander zu lernen, ist wohl eine der wichtigsten Errungenschaften unserer Zeit und darf auf keinen Fall leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden.)