Die Gelbwesten, die Bäume und der Wald

«Die Gelbwesten sind eine der breitesten Protestbewegungen seit Jahren. Und es ist das erste Mal seit langem, dass Leute ausserhalb der grossen Städte uns in Erinnerung rufen, dass etwas schiefläuft: Sie sind die Opfer der Schliessungen staatlicher Institutionen wie Spitäler, Polizeistellen, Schulen und Gemeindeämter. Gleichzeitig ist die Steuerbelastung hoch… Ich bin in einem Frankreich aufgewachsen, in dem die staatlichen Institutionen funktionierten. War eine Frau hochschwanger, war die nächste Klinik nicht weiter als eine halbe Stunde entfernt. Heute sind es zwei. Und dass die nächste Post eine halbe Stunde Autofahrt entfernt ist und doch nur zwei Stunden pro Woche offen hat, ist für die Leute wirklich ein Problem. Sie sagen: Jetzt will Paris noch den Benzinpreise erhöhen?… Die Gelbwesten finden sich in einem Land wieder, das immer weniger gut funktioniert. Sie erleben, dass es uns als Kollektiv schlechter geht als vor zwanzig Jahren… Wir haben grosses Interesse daran, Antworten zu finden, denn sonst steigt die Gefahr, dass die Proteste der Gelbwesten der extremen Rechten helfen, an die Macht zu kommen… Die Vorstellung, dass man, wenn man seinen Job gut macht, eine Wohnung, genug zu essen und seine Ferien habe, diese Vorstellung stimmt nicht mehr. Die Mieten sind gestiegen, man fliegt schneller aus der Wohnung. Auch die Arbeits- oder gar Obdachlosigkeit älterer Leute ist neu… Viele Leute rackern sich ab und sind nicht besonders erfolgreich. Wir haben uns ja auch daran gewöhnt, dass man uns als Konsumenten behandelt, denen man sagt: Ich werde dir ein gutes Gefühl geben, du bekommst, was du brauchst, der Kunde ist König! Daraus resultiert Frustration, denn wir sind nicht 24 Stunden am Tag Kunden von Coca-Cola… Die Kinder der ärmeren und schlecht gebildeten Schichten können nicht studieren. Ich glaube, dieses Gefühl der Ungerechtigkeit hat sich eingestellt, als wir gemerkt haben, dass die Idee der sozialen Würde nicht für alle gilt… Wir glaubten ans System, an die Demokratie, an die soziale Marktwirtschaft. Daran, dass man vorankommt. Jetzt merken wir, dass es komplizierter ist und wir viele Probleme haben, die wir nicht lösen können. Überall kracht es… Als wir 15 Jahre alt waren, war das Trinkwasser nicht bedroht. Der Klimawandel war keine Gefahr. Ich bin überzeugt, dass wir die Jungen bald mit radikalen Forderungen in den Strassen sehen werden. Und sie haben recht: Es geht um ihr Überleben. Kinder haben wir ja gerne gemacht, in Frankreich sind wir in dieser Beziehung wie die Kaninchen, und jetzt sagt man diesen Kindern: Ihr wart gute Haustiere, als ihr klein wart, aber was mit eurer Zukunft passiert, ist uns egal.»

(Virginie Despentes, Autorin des Bestsellers «Das Leben des Vernon Subutex», in: NZZ am Sonntag, 30. Dezember 2018)

«Überall kracht es.» Und dies im Land der Französischen Revolution, die vor 230 Jahren mit ihrer Parole «Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit» ein unüberhörbares Signal an die ganze Welt sandte. Das ist das Wesen des Kapitalismus. Er hat nicht Fehler, er ist der Fehler. Und das zeigt sich eben in unzähligen «Einzelproblemen» von der Schliessung von Spitälern über ungerechte Bildungschancen bis hin zum Klimawandel, die auf den ersten Blick keinen Zusammenhang zu scheinen haben. Die Bäume und der Wald. Wenn wir nicht die Erneuerung des Waldes – sprich des Kapitalismus – anpacken, dann werden wir auch nicht die einzelnen Bäume retten können.