Die Ampel: Was ist vom “Aufbruch”, “Neubeginn”, “Fortschritt” und der “neuen Geschichte” noch übrig?

 

“Neubeginn”, “Fortschritt”, “Aufbruch” – mit solchen und ähnlichen Slogans startete die Ampel anfangs Dezember 2021 in ihre Regierungszeit. Saskia Esken, Co-Präsidentin der SPD, schwärmte sogar, mit der Ampel würde “Geschichte geschrieben”. Doch keine drei Wochen später macht sich schon Ernüchterung breit. Von “Neubeginn”, “Fortschritt” oder “Aufbruch” ist nichts zu spüren und davon, dass da schon bald “Geschichte geschrieben” wird, schon gar nichts. Der Grund ist einfach: Nur scheinbar werden wir von politischen Parteien und deren Exponentinnen und Exponenten regiert, tatsächlich aber ist es der Kapitalismus, der unsichtbar ganz zuoberst auf dem Thron sitzt und die ganze Macht in seinen Händen hält. Wenn neue Politikerinnen und Politiker an die Macht gelangen, dann ist das, wie wenn man die Mannschaft eines Schiffes auswechseln würde, während das Schiff selber unbeirrt an seinem Kurs festhält. Ändern wird sich nur Kleines, Oberflächliches. Im Wesentlichen aber bleibt alles beim Alten. Die Kluft zwischen Arm und Reich wird weiterhin wachsen. Weiterhin werden vor allem jene reich, die schon reich sind, und nicht jene, die an den untersten Rändern der Arbeitswelt besonders viel und hart arbeiten. Weiterhin werden die Kinder in den Schulen dazu gezwungen, gegeneinander statt miteinander zu arbeiten und sich einen zerstörerischen Konkurrenzkampf um Noten, Zeugnisse und zukünftige Lebenschancen zu liefern. Weiterhin werden wirtschaftliche Aktivitäten vor allem darauf ausgerichtet sein, möglichst hohe Profite zu erzielen, und nicht vor allem darauf, soziale Gerechtigkeit und ein gutes Leben für alle zu schaffen. Weiterhin wird das Dogma eines unbegrenzten Wirtschaftswachstums unangetastet bleiben. Weiterhin werden, angestachelt durch den gegenseitigen Konkurrenzkampf, künstlich immer neue Bedürfnisse geschaffen und eine Unmenge überflüssiger Dinge hergestellt, die alle früher oder später auf dem Müll landen. Weiterhin wird zahllosen Tieren unermessliches Leiden zugefügt, damit sich die Aktionärinnen und Aktionäre der Fleischfabriken über möglichst fette Gewinne freuen können. Weiterhin werden Tag für Tag unzählige Tier- und Pflanzenarten für immer von der Erde verschwinden, weil Profit- und Wachstumswahn keine Grenzen kennen. Weiterhin wird auch Deutschland, wie alle anderen Industrieländer, billige Nahrungsmittel und Rohstoffe aus “Entwicklungsländern” importieren, in teure Fertigprodukte verwandeln und diese möglichst gewinnbringend weiterverkaufen – Nahrungsmittel und Rohstoffe, die nur deshalb so billig sind, weil sie unter unmenschlichen Bedingungen und zu Hungerlöhnen geerntet und aus dem Boden geschürft wurden. Weiterhin wird der Raubbau an der Umwelt und den natürlichen Ressourcen den Tag, an dem Mensch und Natur in dauerhaftem Einklang stehen werden, in immer weitere Ferne rücken lassen. Und weiterhin werden Waffen, Armeen und die irrwitzige Idee, zwischenstaatliche Konflikte durch Kriege lösen zu können, nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Wie ist diese ungeheure Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen schönen, visionären Versprechen und der knallhart kleinlichen Tagespolitik zu erklären? Es hat wohl damit zu tun, dass wir die kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung nicht als etwas erkennen, das aufgrund ganz bestimmter Interessen von Menschen aufgebaut und daher auch von Menschen wieder abgebaut und umgebaut werden kann, sondern als das sozusagen “Normale”. Als bewegten wir uns in einem Wald, den wir vor lauter Bäumen nicht mehr sehen. Als bewegten wir uns, wie Fische, im Wasser, ohne dass uns jemals in den Sinn käme, dass es ausserhalb dieses Wassers auch noch etwas anderes geben könnte. 500 Jahre Kapitalismus haben in uns allen, von Generation zu Generation weitererzählt und schon mit der Muttermilch von uns aufgesogen, tiefste Spuren hinterlassen. Wir wähnen uns zwar in einem Zeitalter, das die Religionen weitgehend überwunden hat. Aber durch die Hintertür ist uns unversehens eine neue Religion aufgestülpt werden, die gerade deshalb so mächtig ist, weil wir sie als eine solche schon gar nicht mehr erkennen, die Religion des Geldes, die Religion der schnellen Gewinne, die Religion des Reichtums auf Kosten anderer, die Religion der zunehmenden Geschwindigkeiten in allen Lebensbereichen, die Religion des unbegrenzten Wachstums, die Religion der Versklavung von Erde, Tieren und Pflanzen im Dienste endloser Profitvermehrung. Eigentlich erstaunlich, dass trotz dieser umfassenden Indoktrination dennoch, wie neueste Meinungsumfragen zeigen, eine Mehrheit der deutschen Bevölkerung, nämlich 55 Prozent, findet, der Kapitalismus richte mehr Schaden als Nutzen an. Würde man eine solche Befragung weltweit durchführen, so wäre das Ergebnis wohl noch deutlicher. Unendlich gross ist die Sehnsucht nach sozialer Gerechtigkeit, nach einem guten Leben für alle, nach einer Welt gewaltloser Konfliktlösungen, nach einer lebenswerten Zukunft auch für kommende Generationen. Nur: Wie kommen wir dorthin? Regierungen wie die deutsche Ampel bringen uns nicht wirklich vorwärts. Es bräuchte, neben der nationalen Politik der einzelnen Länder, sozusagen eine zweite Schiene: eine globale Politik, an der Menschen aus allen Ländern grenzübergreifend mitwirken, um, Schritt für Schritt, eine neue, nichtkapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu entwickeln und deren Umsetzung in die einzelnen Gesellschaften und Volkswirtschaften voranzutreiben. Es wäre die erste Revolution ohne Gewalt, allein durch Vernunft und auf der Basis neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse. Eine Revolution, in der nicht Menschen gegen Menschen kämpfen, sondern Menschen miteinander in der Sorge um die gemeinsame Zukunft. Nicht nur die Coronapandemie, sondern auch der Klimawandel, die Weltwirtschaft, zwischenstaatliche Spannungen und Konflikte und die wachsende Kluft zwischen armen und reichen Ländern sind die unüberhörbaren Alarmsignale dafür, dass keine dieser Herausforderungen von einem Land allein gelöst werden kann, sondern nur gemeinsam mit allen anderen. Oder, wie es schon der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt vorausahnend sagte: “Was alle angeht, können nur alle lösen.” Sollte diese Vision jemals Wirklichkeit werden, dann, ja dann, könnten wir wohl tatsächlich von “Aufbruch”, “Neubeginn”,  “Fortschritt” und einer “neuen Geschichtsschreibung” sprechen.