Deutschland – ein gespaltenes Land? Was alle angeht, können nur alle lösen…

Deutschland im Januar 2024. Ein immer tieferer Graben quer durchs Land. Immer mehr Verhärtung, Rechthaberei und die felsenfeste Überzeugung, auf der “richtigen” Seite zu stehen und die andere, die “falsche” Seite bekämpfen zu müssen. Immer weniger Bereitschaft, eigene Positionen zu hinterfragen, eigene Fehler einzugestehen, anderen zuzuhören und, vielleicht, sogar von anderen zu lernen. Immer mehr Menschen, die lautstark Parolen rufen. Und immer weniger Menschen, die leise und aufmerksam mit Andersdenkenden reden. Deutschland – ein geteiltes Land.

Dabei wäre es gar nicht ein so furchtbar langer und schwieriger Weg, um herauszufinden, wo das eigentliche Grundübel liegt. Dass es eben nicht nur ein soziales Problem ist. Nicht nur die zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich. Nicht nur die Abgehobenheit politischer “Eliten” gegenüber dem “gewöhnlichen” Volk. Nicht nur steigende Energie-, Miet-, Gesundheits- und Lebenshaltungskosten. Nicht nur der Dieselpreis und Existenzängste von Landwirtinnen und Landwirten. Nicht nur das Fiasko bei der Deutsche Bundesbahn. Nicht nur laufend zunehmende und die Allgemeinheit immer mehr überfordernde Zahlen von Asylsuchenden, Migrantinnen und Migranten. Nicht nur Jugendgewalt. Nicht nur Arbeitslosigkeit. Nicht nur der Krieg in der Ukraine. Nicht nur der Klimawandel. Nicht nur die wachsende Zahl erschöpfter, kranker, ausgebrannter Menschen. Nicht nur der zunehmende Druck am Arbeitsplatz und die zahlreichen Folgen des gegenseitigen Konkurrenzkampfs um den sozialen Aufstieg oder schlicht ums tägliche Überleben. Nicht nur eine offensichtlich völlig ratlose und “unfähige” Regierungspolitik in Form der “Ampel”. Und auch nicht nur die Fremdenfeindlichkeit und der politische “Extremismus” einer AfD. Sondern dass alle diese einzelnen Probleme nur Teile sind von einem viel, viel grösseren Problem, das über allen anderen steht und alle anderen verursacht.

Dieses über allen anderen stehende und alle anderen verursachenden Probleme ist der Kapitalismus mit seiner Ideologie eines endlosen Wirtschaftswachstums selbst auf Kosten zukünftiger Generationen, mit seiner Ideologie, gegenseitiger Konkurrenzkampf fördere das Beste im Menschen, mit seiner Ideologie, reich zu werden sei selbst dann zu rechtfertigen, wenn andere dadurch ärmer werden, mit seiner Ideologie, stetige Profitmaximierung sei jener höchste wirtschaftliche und gesellschaftliche Wert, dem alle anderen unterzuordnen seien. Die Menschen sind nicht dumm. Schon vor vier Jahren sagten in einer grossangelegten, vom Kommunikationsinstitut Edelman durchgeführten Meinungsumfrage 55 Prozent der Deutschen, der Kapitalismus richte mehr Schaden als Nutzen an, heute wären es wahrscheinlich noch viel mehr. Eigentlich wissen es die Menschen. Und doch gaukeln sich die meisten gegenseitig immer noch die vermeintliche “Wahrheit” vor, stets nur der andere, der “Böse”, der “falsch” Denkende, der linke oder der rechte “Extremist” sei an allem schuld und deshalb läge die einzige Lösung des Problems darin, das eigene politische Lager und die eigene vermeintliche “Wahrheit” so gross und so stark werden zu lassen, dass die sich auf der “falschen” Seite Befindlichen immer schwächer und kleiner werden und mit der Zeit ganz und gar von der Bildfläche verschwinden. Dass genau dies nicht funktioniert, zeigt sich dieser Tage deutlicher denn je, und man muss schon bis zur Sturheit von sich selber sehr, sehr überzeugt sein, um es nicht wahrzunehmen: Je grösser die Aufmärsche der AfD-Gegner, umso mehr Zulauf bekommen diese. Und das wird immer so weitergehen, wenn nicht möglichst bald, so ist zu hoffen, die Vernunft wieder einkehrt.

Die Vernunft, die in der Einsicht bestehen würde, dass eine Lösung niemals durch einen gegenseitigen Machtkampf gefunden werden kann, sondern nur durch ein Miteinander. Dass uns nicht gegenseitiges Niederbrüllen weiterbringt, sondern nur ein Dialog, in dem jede Seite die andere ernst nimmt, ein Dialog, in dem gemeinsam offen, ehrlich und selbstkritisch nach den tatsächlichen tieferen Ursachen der Probleme gesucht wird und gemeinsam Strategien entwickelt werden, die aus dem vorhandenen Schlamassel Wege aufzeigen könnten, mit denen sich am Ende alle einverstanden erklären und die allen einen Nutzen bringen würden. “Was alle angeht”, sagte der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt, “können nur alle lösen”. Das gilt sogar weltweit. Denn nicht nur die sozialen, ökonomischen und ökologischen Probleme innerhalb jedes einzelnen Landes hängen miteinander zusammen, sondern auch die sozialen, ökonomischen und ökologischen Probleme weltweit über alle Grenzen hinweg, auch die Migration, auch der Klimawandel, auch Kriege zwischen Völkern oder Staaten, alles hängt mit allem zusammen. Auch Migranten und Flüchtlinge können niemals unsere “Feinde” sein, auch sie und wir mit ihnen und allen anderen zusammen sind Opfer dieses gleichen einzigen, weltumspannenden Wirtschaftssystem, das seit Jahrhunderten auf nichts anderem als auf der Ausbeutung der Natur und der arbeitenden Menschen beruht und mit dessen zerstörerischen Folgen wir uns heute so schmerzlich herumschlagen müssen. “Entweder”, sagte der amerikanische Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King, “werden wir als Brüder und Schwestern miteinander überleben, oder aber, als Narren, miteinander untergehen.”

Nicht der Hass ist die Lösung, sondern, so “idealistisch” oder gar “weltfremd” dies im Moment auch klingen mag, einzig und allein die Liebe. Denn nur sie lehrt uns, dass es so viel mehr gibt, was die Menschen miteinander verbindet, als was sie voneinander trennt. Nur sie kann jene Grenzen und Mauern auflösen, die wir uns so blind immer wieder gegenseitig in den Weg stellen. Man spricht oft von “Kipppunkten”. Vielleicht, und das ist die grosse Hoffnung, haben sich mittlerweile der gegenseitige Hass und die gegenseitige Intoleranz so sehr zugespitzt, dass uns schon bald die Augen dafür aufgehen müssen, von Grund auf und radikal neue und andere Wege zu suchen, um jenes Paradies, jene Sehnsucht nach einer Welt voller Frieden und Gerechtigkeit, die doch im Allerinnersten von uns allen schlummert, endlich Wirklichkeit werden zu lassen.