Der Rücktritt der britischen Premierministerin Liz Truss und weshalb sich Probleme, die durch den Kapitalismus entstanden sind, nicht mit kapitalistischen Rezepten lösen lassen…

 

“Helen O’Connor”, berichtet die schweizerische “Wochenzeitung” an 20. Oktober 2022, “kam 1990 aus Irland nach London, um sich zur Krankenpflegerin ausbilden zu lassen. Damals seien die Arbeitsbedingungen und die Löhne noch richtig gut gewesen. Aber in den vergangenen drei Jahrzehnten hat sie miterlebt, wie der National Health Service (NHS) nach und nach zurechtgestutzt, auf Spardiät gesetzt und teilprivatisiert wurde. Die Stipendien sind um rund zwei Drittel gekürzt worden, sodass sich angehende Pflegerinnen und Pfleger heute verschulden und ihr Studiendarlehen zurückzahlen müssen. Jedes Jahr geben etwa ein Viertel der Studierenden auf, derzeit sind in der Pflege rund 40’000 Stellen nicht besetzt. Für jene, die im Job bleiben, wird es immer schwieriger. Nicht nur müssen sie aufgrund des Personalmangels härter arbeiten, die Sparprogramme der vergangenen Jahre haben auch dafür gesorgt, dass die Reallöhne laufend geschrumpft sind. Zudem sind durch die steigende Inflation unzählige NHS-Angestellte selber hilfsbedürftig geworden. In manchen Spitälern gibt es schon sogenannte Hygienebanken, wo sich die Angestellten mit gespendeten Toilettenartikeln versorgen können.”

Doch nicht nur im Gesundheitswesen, auch in vielen anderen Branchen ächzt und stöhnt das Land an allen Ecken und Enden. “Im Frühsommer”, so die “Wochenzeitung”, “hat die grösste Streikwelle seit Jahrzehnten begonnen. In unzähligen Sektoren haben die Leute die Arbeit niedergelegt, um angesichts der steigenden Inflation für höhere Löhne zu kämpfen, an manchen Tagen wurde das Land praktisch lahmgelegt. Das landesweite Bahnnetz ist seit Juni bereits an acht Tagen stillgestanden. Die Dockarbeiterinnen und Dockarbeiter von Liverpool und Felixstowe – dem grössten Containerhafen des Landes – haben zum ersten Mal seit den Neunzigerjahren gestreikt. Auch über 100’000 Pöstlerinnen und Pöstler der Royal Mail sind zum ersten Mal seit 13 Jahren in den Ausstand getreten. Dazu kommen Arbeitsniederlegungen von Müllarbeitern, Unilektorinnen, Strafverteidigern, Reinigungspersonal und Callcenterangestellten. Bald könnten sich auch Hebammen, Zivilbeamte und Feuerwehrleute der wachsenden Bewegung anschliessen.” Diese Entwicklung lässt sich nicht erst seit dem Brexit, der Coronapandemie und dem Ukrainekrieg beobachten, wenngleich dadurch die bereits zuvor herrschenden Missstände zweifellos zusätzlich verschärft worden sind.

Gleichzeitig geht die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auf: 177 Milliardäre gibt es inzwischen in Grossbritannien. Die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung besitzen knapp die Hälfte aller Vermögen, während Millionen von Menschen nur noch dank den Verteilstationen mit Gratisessen überleben können und kürzlich sogar die Meldung Schlagzeilen machte, Schulkinder würden, um den ärgsten Hunger zu stillen, ihre Radiergummis essen. Das Gleiche zeigt sich auch in anderen “wohlhabenden” Ländern des Westens, wenn auch nicht überall im gleichen Ausmass. Überall vertieft sich die Kluft zwischen Arm und Reich immer mehr. Selbst in einem so “reichen” Land wie der Schweiz, wo über 700’000 Menschen von Armut betroffen sind, während sich die Vermögen der 300 Reichsten in nur gerade einem einzigen Jahr schon wieder um mehr als 100 Milliarden Franken vergrössert haben. Dies alles kann kaum purer Zufall sein. Nein, letztlich ist der Hauptschuldige an dieser Entwicklung nichts und niemand anderes als das kapitalistische Wirtschaftssystem, seine Profit- und Wachstumsideologie, sein Zwang, aus den Menschen in immer kürzerer Zeit eine immer grössere Leistung herauszupressen und die aus alledem resultierende soziale Ungleichheit. 

Das beste Beispiel für die These, dass sich vom Kapitalismus geschaffene Probleme nie und nimmer mit kapitalistischen Rezepten lösen lassen, ist die soeben zurückgetretene und kläglich gescheiterte britische Premierministerin Liz Truss. Wie in einem schlechten Film vergangener Zeiten wehrte sie sich bis zuletzt erbittert gegen höhere staatliche Zuschüsse an Notleidende und wollte Steuersenkungen ausgerechnet für die Reichen durchboxen, um, so ihre Begründung, Wirtschaftswachstum zu fördern. Im Unterhaus verkündete Truss noch vor wenigen Tagen die drei Ziele ihres Regierungsprogramms, sie lauteten schlicht und einfach “Wachstum, Wachstum und nochmals Wachstum”. Ob ihr nie in den Sinn gekommen ist, dass Wachstum der Wirtschaft, des Bruttosozialprodukts und des Geldes im Kapitalismus stets auch Wachstum von Armut, Hunger, Elend und Verzweiflung bedeuten? “Probleme”, sagte schon Albert Einstein, “lassen sich niemals mit der gleichen Denkweise lösen, durch welche sie entstanden sind.” Ist das so schwer zu begreifen?

Vielleicht wird ja in einem Geschichtsbuch des Jahres 2100 zu lesen sein, dass am 20. Oktober 2022 das Ende des kapitalistischen Zeitalters eingeläutet worden sei, an dem Tag, an dem zum wiederholten Male und in immer kürzerer Folge eine britische Regierung, sich an längst hinfällig gewordenen Dogmen festklammernd, gescheitert war. In diesem Land, wo der Kapitalismus nicht nur sein Ende fand, sondern wo er auch, mit dem transatlantischen Sklavenhandel und den aus ihm herausgequetschten Gewinnen als Grundstein für die beginnende kapitalistische Weltordnung, begonnen hatte. Wenn die heutigen Krisen etwas Gutes haben könnten, dann dies: Dass die Einsicht, dass nur eine Überwindung des Kapitalismus den Weg zu einer gerechten, friedlichen und lebenswerten Zukunft freimachen kann, immer stärker und unaufhaltsamer um sich greifen wird. Doch “der Kapitalismus”, so der französische Philosoph Lucien Sève, “wird nicht von selber zusammenbrechen, er hat noch die Kraft, uns alle mit in den Tod zu reissen, wie der lebensmüde Pilot seine Passagiere. Wir müssen das Cockpit stürmen, um gemeinsam den Steuerknüppel herumzureissen.”