Der Klimastreik und ein hinkender Bauarbeiter: Alles hängt mit allem zusammen

 

24. September 2021, Klimastreik in Zürich. Nach und nach füllt sich der Platz vor der Technischen Hochschule, wo die Kundgebung ihren Anfang nimmt. Wenige Meter davon entfernt sind Bauarbeiter damit beschäftigt, an der Fassade des Hochschulgebäudes ein Gerüst aufzubauen. Und dann sehe ich ihn, der mir heute den ganzen Tag nicht mehr aus dem Kopf gehen wird: ein älterer Arbeiter, der stark hinkend und mit schmerverzerrtem Gesicht die schweren Rohre schultert und dorthin trägt, von wo sie dann mit einem Seil hochgehievt werden. Sein Gesicht widerspiegelt nicht nur seine Schmerzen, es ist auch grau und voller Furchen. So wie er aussieht, müsste er wohl schon lange pensioniert sein. Sieht ihn niemand von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Klimakundgebung oder will ihn niemand sehen? Schlagartig wird mir bewusst, dass alles mit allem zusammenhängt. Es ist der Kapitalismus. Dieser gleiche Kapitalismus, der mit seinem Dogma unbegrenzten Wachstums nicht nur unser Klima aus dem Gleichgewicht zu bringen droht, sondern auch dem nimmersatten Profit zuliebe das Letzte aus den arbeitenden Menschen herauspresst, bis sie nur noch humpelnd und unter Aufbietung ihrer letzten Kraft, geplagt von Schmerzen, Tag für Tag ihren Feierabend kaum erwarten können. Dieser gleiche Kapitalismus, der täglich Abertausende Kinder in Afrika schon vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs tötet, weil sie nicht genug zu essen haben – während in den reichen Ländern des Nordens Nahrungsmittel in solchem Überfluss vorhanden sind, dass sich die Menschen den Luxus leisten können, einen Drittel davon in den Abfallkübel zu werfen. Dieser gleiche Kapitalismus, der Wälder gigantischen Ausmasses verbrennen lässt, Böden, die Luft, Seen und Flüsse vergiftet und dafür verantwortlich ist, dass schon Abertausende von Tier- und Pflanzenarten für immer von diesem Planeten verschwunden sind. Dieser gleiche Kapitalismus und die von ihm verursachte wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, die Millionen von Menschen zu Flüchtlingen macht und ihre Sehnsucht nach einem besseren Leben nur zu oft in Nichts zerschlagen lässt. Dieser gleiche Kapitalismus, der, wenn es um Macht, Einfluss und die Gier nach Bodenschätzen und Rohstoffen geht, auch nicht vor dem Einsatz militärischer Mittel zurückschreckt, über ganze Länder hinweg Blutspuren hinterlassend, die über Jahrzehnte hinweg nicht mehr verheilen werden. Inzwischen wälzt sich der Zug des Klimastreiks durch die Strassen der Zürcher Innenstadt. Laute, mitreissende Musik. Tanzende Menschen. Parolen, tausendfach erschallend. Ein wunderbares Gefühl, Teil von so viel Leidenschaft, von so viel Hoffnung zu sein. Und in diesem Augenblick habe ich einen Traum. Ich träume, dass dieser Zug, in dem ich mich bewege, immer grösser wird. Aus jeder Seitengasse, an der wir vorbeikommen, strömen immer wieder neue Menschen hinzu, ergiessen sich wie Bäche in einen Fluss, der immer breiter und breiter wird: Textilarbeiterinnen aus Bangladesch, die es satt haben, von ihren Aufsehern angeschrien und geprügelt zu werden, nur weil sie nicht genug schnell arbeiten. Ein Kind aus Vietnam, das nackt und schutzlos dem Angriff einer amerikanischen Napalmbombe ausgesetzt war und dessen Körper noch immer von schmerzenden Narben übersät ist. Afrikanische Sklavinnen und Sklaven, die millionenfach in den finster stinkenden Bäuchen englischer und portugiesischer Schiffe nach Amerika verschifft und dort zu unsäglicher Zwangsarbeit verdammt wurden, bloss um jene Handelshäuser reich zu machen, auf deren Fundamenten der europäische Kapitalismus später seine Herrschaft aufbauen sollte. Kinder aus aller Welt, die schon von klein auf schwerste Arbeiten verrichten müssen und für die schon ein paar Schuhe der grösste Luxus sind. Und ja, dann strömen auch sie aus wieder anderen Seitengassen: kleinere und grössere Tiere, auch sie gezeichnet von unvorstellbarem Leiden, in viel zu engen Gehegen, auf viel zu überfüllten Transportschiffen, in Schlachthöfen unbeschreiblicher Ängste, und alles nur, um mittels aller dieser Qualen den grösstmöglichen materiellen Profit herauszuschlagen. Und jetzt, mitten in der riesigen Menge, sehe ich ihn auf einmal wieder, den alten Bauarbeiter mit dem grauen Gesicht. Noch immer humpelt er, aber wo in seinem Gesicht der Schmerz zu sehen war, sind jetzt Heiterkeit und Hoffnung. Es ist, als wäre er von diesem gewaltigen Fluss getragen und nichts könnte ihn mehr aufhalten. Nein, dieser 24. September 2021 ist nicht das Ende. Es ist der Anfang, an dem alles erst so richtig beginnt, die Quelle, wo der Fluss entspringt, der Weg, an dem unzählige weitere Bäche und Flüsse in ihn münden werden, bis wir am Meer angelangt sind, wo eine neue Zeit Wirklichkeit geworden sein wird.