Der Kapitalismus wird nur in den Köpfen und den Herzen der Menschen, die hier und heute leben, überwunden – oder aber er wird überhaupt nicht überwunden

 

Eine junge Politaktivistin fordert anlässlich einer Kundgebung zum Tag der Arbeit die “Zerstörung des Kapitalismus”. Und B., der sich ebenfalls seit Jahren mit den Auswüchsen des kapitalistischen Wirtschaftssystems beschäftigt, meint, der Kapitalismus werde niemals “gewaltlos” seine Herrschaft aufgeben – was im Klartext heisst, dass er also nur mittels Gewalt überwunden werden könne. Zugegeben, der Kapitalismus ist selber eine Form von Gewalt. Gewalt, welche die Reichen gegenüber den Armen ausüben. Gewalt in Form von materiellem Überfluss in den reichen Ländern, während weltweit eine Milliarde Menschen hungern. Gewalt, welche weltweit Milliarden von Arbeiterinnen und Arbeitern dazu zwingt, unter menschenunwürdigen Bedingungen zu schuften und dennoch nur einen kleinen Teil dessen zu verdienen, was ihre Arbeit eigentlich Wert wäre. Gewalt, welche eine auf endloses Wachstum und unbeschränkte Profitmaximierung fixierte Wirtschaft gegenüber der Natur verübt und heute schon die Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen zu zerstören droht. Dennoch wäre es zweifellos der falsche Weg, dieser kapitalistischen “Systemgewalt” eine antikapitalistische “Gegengewalt” entgegenzustellen. Ganz im Gegenteil: Die herrschende Systemgewalt kann nur überwunden werden, wenn ihr als radikale Gegenutopie die absolute Gewaltlosigkeit entgegengestellt wird. Denn so viel sollten wir aus der Geschichte gelernt haben: Der gewaltsame Sturz des französischen Königtums im 18. Jahrhundert führte bloss zu einer erneuten Schreckensherrschaft, nur dass die, die vorher unten waren, nun oben waren, und umgekehrt. Nicht viel anders die russische Oktoberrevolution, die unvermittelt in eine neue Diktatur mündete und den eben gerade erwachten Traum von Freiheit und sozialer Gerechtigkeit jäh im Nichts erstickte. Ganz anders politische Bewegungen, die sich am Prinzip der Gewaltlosigkeit orientierten: Mahatma Gandhis berühmter “Salzmarsch”, der 1947 in der Unabhängigkeit Indiens von Grossbritannien gipfelte, und die von Martin Luther King zwischen 1955 und 1965 angeführte amerikanische Bürgerrechtsbewegung, welche zur Aufhebung der Rassentrennung in den USA führte und zur Erteilung des Stimm- und Wahlrechts an die gesamte schwarze Bevölkerung. Es mag naiv klingen, aber es geht kein Weg an der Gewaltlosigkeit vorbei. Eine neue Gesellschaft kann nicht gegen die Menschen, sondern nur mit ihnen verwirklicht werden. Und da müssen wir nicht einmal von einer Zukunft träumen, die in weiter Ferne liegt: Die Überwindung des Kapitalismus hat schon längst begonnen, nur haben es viele noch gar nicht gemerkt. Die weltweite Klimabewegung, getragen von vorwiegend jungen Menschen, “Black Lives Matter”, die Frauenbewegung und weltweit zahlreiche weitere kleinere und grössere Bewegungen für Menschenrechte, Freiheit, soziale Gerechtigkeit und Solidarität, aber auch das Ergebnis einer vom Kommunikationsbüro Edelman durchgeführten Umfrage, wonach 55 Prozent der Deutschen den Kapitalismus als eher “schädlich” als “nützlich” bezeichnen – dies alles sind doch die besten Zeichen dafür, dass schon unglaublich vieles in Bewegung gekommen ist und wir nun einfach nicht aufgeben dürfen, nur weil uns alles immer noch viel zu langsam geht. Echter Wandel braucht eben seine Zeit, die Veränderung in den Köpfen und der Herzen der Menschen erfolgt nicht auf Knopfdruck und von heute auf morgen. Zu tief hat sich der Kapitalismus mit all seinen Widersprüchen in unser Denken und Fühlen hineingefressen, es bedarf einer Riesenanstrengung, um alle diese Verkrustungen und Verhärtungen wieder abzulegen und den eigentlichen Kern unseres Seins wieder freizulegen, diese unendliche Sehnsucht nach Liebe und Gerechtigkeit, die wir alle als Kinder noch uns getragen hatten. Der Kapitalismus wird nicht auf irgendwelchen Schlachtfeldern, nicht durch Strassenschlachten oder Gewehrkugeln überwunden. Der Kapitalismus wird nur in den Köpfen und den Herzen der Menschen, die hier und heute leben, überwunden – oder aber er wird überhaupt nicht überwunden.