Der Kapitalismus: das System in unseren Köpfen

“Wir sind in diesem System geboren, und dieses System ist in unseren Köpfen. Das macht es sehr, sehr schwierig, auch nur daran zu denken, dass man es ändern könnte.”

(Maria, 21, aus Taganrog am Asowschen Meer, in: TAM, 1. Februar 2020)

Was die junge Russin über das “System Putin” sagt, könnte man mit den genau gleichen Worten auch über das System “Kapitalismus” sagen. Wir wähnen uns zwar im Reich der Freiheit, der Demokratie und der Selbstbestimmung, schauen selbstgefällig auf autokratisch geführte Staaten wie Russland und China und wehren uns gegen jegliche Form von Bevormundung, Manipulation und Einschränkung unseres Denkens und Handelns durch staatliche Obrigkeiten. Dennoch sind auch wir alle nur Kinder unserer Zeit, hineingeboren in eine Welt, die nicht vom Zufall oder einer Laune der Natur geprägt ist, sondern von ganz spezifischen Gesetzmässigkeiten, die wir sozusagen schon mit unserer Muttermilch in uns aufgesogen und die sich von klein auf in unseren Köpfen eingebrannt haben. So etwa ist längst wissenschaftlich erwiesen, dass der Mensch von Natur aus ein sehr fürsorgliches, soziales Wesen ist. Dies wird im Kapitalismus ganz gründlich auf den Kopf gestellt. Hier orientiert sich alles einzig und allein auf der individuellen Leistung des Einzelnen: Du sollst schneller, stärker, besser, gescheiter sein als die anderen, dann wirst du Erfolg haben. Ein grösseres Auto zu haben als andere, ein Haus zu besitzen statt bloss eine Wohnung, in den Ferien nach Ibiza zu fliegen statt bloss mit dem Velo um den Bodensee zu fahren, grössere Muskeln zu haben als der Durchschnitt, mehr zu verdienen als dein Arbeitskollege – all dies ist erstrebenswert und führt dazu, dass sich der typisch kapitalistische Mensch zwar fürchterlich darüber aufregt, wenn er für einen Kaffee fünf Franken statt viereinhalb Franken zahlen muss, dass es ihn aber mehr oder weniger kalt lässt, dass gewisse Leute bis zu 300 Mal mehr verdienen als andere oder zahllose Menschen so wenig verdienen, dass sie davon nicht einmal leben können. Zurück zu Maria aus Tangarog. Sie würde sich wahrscheinlich wünschen, dass man das “System Putin” gnadenlos kritisch unter die Lupe nehmen, alle seine inneren Widersprüche aufdecken und eine auf menschlichen Grundwerten beruhende Gesellschaftsordnung aufbauen müsste. Und genau dies wäre auch in Bezug auf den Kapitalismus zu fordern: ein schonungsloses Aufdecken seiner Machtstrukturen, seiner Wirkungsweise, seiner inneren Mechanismen, in den Schulen, an den Universitäten, in den Medien, an eigens hierfür zu schaffenden Denkfabriken. So etwas wie eine “Qualitätskontrolle”, wie dies heute schon für jeden noch so kleinen Betrieb, jedes Unternehmen oder jede Schule selbstverständlich ist. Wenn diese Qualitätskontrolle dann ergibt, dass der Kapitalismus die beste aller möglichen Gesellschaftsordnungen ist: umso besser. Wenn nicht, dann wäre es höchste Zeit, etwas Neues, Besseres an dessen Stelle aufzubauen.