Der Höhenflug der AfD und weshalb Probleme nie mit der gleichen Denkweise gelöst werden können, durch die sie entstanden sind…

“Die AfD klettert in den Umfragen immer höher” – titelt der “Tagesanzeiger” am 6. Juni 2023. Die AfD liegt mit 18 Prozent bereits gleichauf mit der SPD, zusammen mit dieser an zweiter Stelle in der Wählergunst hinter der CDU/CSU. “Und die anderen Parteien”, so der “Tagesanzeiger”, “zeigen mit Fingern aufeinander.” Ob es sein könnte, so fragt sich der “Tagesanzeiger” im Folgenden, dass die AfD Wählerinnen und Wähler anspreche, die von den anderen Parteien kaum oder gar nicht mehr erreicht würden? Dass genau hierin die Ursache für den Höhenflug der AfD liegen könnte, schiene sich auch dadurch zu bestätigen, dass zwei von drei Anhängern der AfD sagten, sie würden diese Partei “aus Enttäuschung über die anderen Parteien” wählen, nur einer von drei aus Überzeugung.

Machen also alle anderen Parteien ihre Arbeit so schlecht, dass sie ihre potenzielle Wählerschaft gleich scharenweise in die Arme der AfD drängen? Diese Schlussfolgerung würde wahrscheinlich zu kurz greifen. Wir kommen nicht umhin, die gegenwärtige Situation in einer grösseren Sichtweise und aus grösserer Distanz zu betrachten. Das, was die Menschen am meisten beschäftigt – Armut, soziale Ungerechtigkeit, steigende Lebenskosten, Arbeitslosigkeit, Probleme im Zusammenhang mit Migration, Angst vor einem grösseren Krieg – sind nicht so sehr die Folgen einer verfehlten Regierungspolitik. Höchstwahrscheinlich wären die Zustände um keinen Deut besser, wenn die CDU/CSU oder gar die AfD an der Macht wären. Die Ursachen liegen tiefer. Und zwar im kapitalistischen Wirtschaftssystem, welches die grösstmögliche Ausbeutung von Mensch und Natur und die Profitmaximierung und den Reichtum einer Minderheit höher gewichtet als die allgemeine Wohlfahrt, in einem kapitalistischen Wirtschaftssystem, das mit dem blinden Glauben an ein ewiges Wachstum für die fortschreitende Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen verantwortlich ist und nicht zuletzt mit dem von ihm erzeugten weltweiten Wohlstandsgefälle all die damit verbundenen,  häufig als Bedrohung empfundenen Begleiterscheinungen verursacht. Selbst der Krieg zwischen Russland und der Ukraine hat seine tiefen kapitalistischen Wurzeln, denn es ist eben schon so, wie der französische Sozialist Jean Jaurès einmal sagte: “Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen” – Kriege haben stets etwas zu tun mit Machtausdehnung, Wachstum, Expansion, wirtschaftlichen Interessen, all jenen Kräften, die auch der kapitalistischen Wirtschaftsideologie zu eigen sind und die extremste Zuspitzung eines auf gegenseitige Zerstörung ausgerichteten Konkurrenzprinzips bilden.

Eigentlich ist es absurd. Ausgerechnet die SPD und die Grünen mit ihrer ursprünglich kapitalismuskritischen Tradition und ihren früheren Visionen von einer gerechteren und friedlicheren Welt finden sich heute in der Rolle jener, die diesen Kapitalismus, dem sie früher so kritisch gegenüberstanden, am vehementesten verteidigen, verwalten und weiterzuführen. So ist ein riesiges Loch entstanden, in welches nun die vermeintlichen früheren Widersacher am anderen Ende des Politspektrums nur zu gerne hineinspringen. Denn dass der Weg eines auf blosse Profitvermehrung und auf grösstmögliche Ausbeutung von Mensch und Natur ausgerichteten Kapitalismus kein guter Weg sein kann, diese Einsicht scheint ein überwiegender Teil der Bevölkerung noch immer zu teilen: Umfragen zeigen, dass rund 55 Prozent der Deutschen der Meinung sind, der Kapitalismus hätte mehr Nachteile als Vorteile. Nur ausgerechnet jenen, die an die Macht gelangen, scheint diese Einsicht jedes Mal wieder von neuem abhanden zu kommen.

Eine Lösung der gegenwärtigen sozialen, gesellschaftlichen, ökologischen und geopolitischen Herausforderungen innerhalb des kapitalistischen Denksystems ist nicht möglich. “Probleme”, sagte Albert Einstein, “kann man nie mit der gleichen Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.” Eine dauerhafte Lösung kann es nur geben, wenn das kapitalistische Wirtschaftssystem mit all seinen Widersprüchen und verheerenden Auswirkungen radikal überwunden und durch ein neues, am Wohl der Menschen und der Natur orientierten Wirtschafts- und Gesellschaftssystem ersetzt werden kann. Das grösste Hindernis auf diesem Weg besteht darin, dass solche Forderungen sogleich die Angst auslösen, eine Abkehr vom Kapitalismus würde zwangsläufig zu einem Rückfall in die Zeiten der DDR, der Sowjetunion und die sozialistische Planwirtschaft führen. Das ist ein gewaltiger Trugschluss. Denn es würde ja bedeuten, dass der Kapitalismus auf der einen Seite und die sozialistische Planwirtschaft auf der anderen die einzigen möglichen Wege seien, wie Wirtschaft und Gesellschaft sinnvoll organisiert werden können. Wenn uns die Geschichte etwas gelehrt hat, dann dies: Dass sowohl der ungezügelte Kapitalismus wie auch die sozialistische Planwirtschaft Irrwege gewesen sind, die, aus unterschiedlichen Gründen, nicht wirklich zum Wohle der Menschen und ebenso wenig zur Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen geführt haben. Die Schlussfolgerung ist klar: Es braucht einen dritten, besseren Weg.

Ein dritter, besserer Weg, der die Vorteile bisheriger Gesellschafts- und Wirtschaftsmodelle verbinden und gleichzeitig ihre Nachteile überwinden müsste. Darüber müsste, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit, eine intensive öffentliche Debatte beginnen, die sich nicht bloss auf das gegenseitige Auswechseln einzelner Parteien beschränken dürfte, auf gegenseitige Schuldzuweisungen und ein kleinliches Hickhack zwischen Besserwissern und Nochbesserwissern, die sich gegenseitig jedes Wort im Munde umdrehen und damit prahlen, alles wäre gut, wenn nur sie alleine alle Macht in ihrer Hand hätten. “In vormodernen Zeiten”, schreibt Yuval Noah Hariti in seinem Buch “21 Lektionen für das 21. Jahrhundert”, “haben die Menschen nicht nur mit verschiedenen politischen Systemen experimentiert, sondern auch mit einer verblüffenden Vielfalt wirtschaftlicher Modelle. Heute dagegen glaubt so gut wie jeder in leicht unterschiedlichen Variationen an das gleiche kapitalistische Thema und wir alle sind nur winzige Teile in einem einzigen globalen Räderwerk.”