Der heutige Kapitalismus: Raffiniert, cool und verführerisch

«Ich war als «digitale Nomadin» während vier Jahren für zwölf Betriebe tätig – mal als Freie, mal als Angestellte. Es begann im Alter von 23 Jahren, nach einem Studium in Philosophie, Psychologie und Design. In den Stellenausschreibungen war von einer «Content Managerin» oder «Redakteurin» die Rede – gesucht wurde immer irgendeine «Managerin». Aber in Realität musste ich in Excel-Tabellen Stichworte auflisten, um einen Google-Roboter zu füttern. Oder für irgendeine Marketingabteilung die immer gleichen Formulierungen übersetzen. Faktisch waren es Bullshit-Jobs, wie der US-amerikanische Soziologe David Graeber sagt: Arbeiten, die keinen Sinn haben, sondern lediglich der kapitalistischen Wirtschaft dienen. Coolness ist das grosse Wort, mit dem für solche Beschäftigungen geworben wird. Diese Coolness aber ist sehr oberflächlich und dient nur dazu, die prekären Arbeitsverhältnisse zu vertuschen. Es wird eine Scheinwelt inszeniert. Im Firmensitz werden Süssigkeiten angeboten, es gibt Pausenräume, in denen man gamen kann. Dabei wird eine Welt der Kindheit imitiert, was sich auch in der Kommunikation mit Emojis ausdrückt: Die Arbeitskräfte beschreiben ihre Gefühle nur noch mit Smileys, nicht mehr mit Worten. Das ist bedenklich und stimmte mich traurig. Die soziale Verlogenheit zeigt sich auch in der Sprache der Branche: Es ist die Sprache des Silicon Valley, die voller Superlative und schöner Bilder ist. Arbeitskräfte werden zu «Helden» stilisiert. Man tut so, als könnte jeder, der sich engagiert, ein Mark Zuckerberg oder ein Jeff Bezos werden. Und die «flexiblen Arbeitszeiten» bedeuten oft nichts anderes als Überstunden. Die Wahrheit ist, dass die Arbeitskräfte in prekären Verhältnissen sitzen bleiben und der Erfolg einer kleinen Elite zugutekommt. Diese Elite ist weiss, männlich und stammt aus wohlhabenden Familien.

Die zwölf Chefs der Start-ups, für die ich gearbeitet habe, waren ohne Ausnahme weisse Männer im Alter zwischen 30 und 45 Jahren und kamen aus Deutschland oder den USA. Man duzt sich, ist locker drauf. Am Anfang sieht es ganz danach aus, als wären Vorgesetzte und Arbeitskollegen Freunde. Doch bald zeigt sich, dass dem nicht so ist. Ein Chef wollte mich für 500 Euro monatlich arbeiten lassen. Ich lehnte ab. Da fragte er mich: «Mathilde, kannst du nicht oder willst du nicht?» Ich habe diese Frage nicht beantwortet und nahm schon meinen Mantel, um zu gehen. Da hielt er mir entgegen: Wenn ich nicht bereit sei, alles zu geben für eine grosse Karriere in dieser Branche, sei es besser, ich würde als Hostess bei einer Messe arbeiten. Als Hostess hätte ich vermutlich tatsächlich besser verdient, aber das war natürlich sehr sexistisch. Eigentlich ist das, was sich in der digitalen Arbeitswelt zeigt, nichts Neues – neu ist nur der Stil. Es ist vielmehr die Geschichte des Kapitalismus, die sich hier wiederholt: Die Kluft zwischen der Elite und den Leuten, die arbeiten, wird immer grösser

(Mathilde Ramadier, digitale Nomadin und Buchautorin, www.srf.ch, 12. Februar 2019)

So wandelt der Kapitalismus im Laufe der Zeit sein Gesicht. War es im 19. Jahrhundert die Kinderarbeit in den Fabriken, ist es heute die Ausbeutung der «digitalen Nomadin» in einer computerisierten, auf «Coolness» getrimmten, schillernden neuen Arbeitswelt. Doch die Grundmechanismen sind, wie Mathilde Ramadier zu Recht feststellt, immer noch genau die gleichen und die Kluft zwischen der «Elite» und den «Leuten, die arbeiten», wird an allen Ecken und Enden immer grösser. Dass der Widerstand gegen die Kapitalismus, der im 19. Jahrhundert mit der Arbeiterbewegung begann, seine Ziele noch längst nicht erreicht hat, dies hat nicht damit zu tun, dass der heutige Kapitalismus weniger zerstörerisch wäre als jener des 19. Jahrhunderts. Es hat nur damit zu tun, dass er viel raffinierter, «cooler» und verführerischer ist als jener des 19. Jahrhunderts.