Der deutsche Wahlkampf: Seltsame Figuren, die irgendwann nur noch Karikaturen sein werden in den Geschichtsbüchern der Zukunft…

Seit Wochen tobt in Deutschland der Wahlkampf um die zukünftige Sitzverteilung im Bundestag. Wobei Kampf genau das richtige Wort ist. Vielleicht fällt es mir als Schweizer, der das alles als Zuschauer mit einer gewissen Distanz von aussen mitverfolgt, noch stärker auf als denen, die selber mittendrin sind. Was ich vor allem wahrnehme: Viel Hass, viel Aggressivität, gegenseitige Schuldzuweisungen aller Art, sture Rechthaberei, wenig Bereitschaft, anderen zuzuhören, Phrasen und Schlagwörter, mit denen man den politischen Gegner klein zu machen versucht. Nur selten Humor, fast nie ein verzeihendes Lächeln, kaum je die Bereitschaft, gegensätzliche Meinungen ernst zu nehmen, etwas daraus zu lernen oder gar eigene Fehler einzugestehen.

Es kommt mir vor wie Mäuse in einem zu engen Käfig. Man kennt das von Experimenten: Ist zu wenig Platz vorhanden, nimmt die Aggressivität zwischen den einzelnen Tieren immer mehr zu, und jede Zunahme von Aggressivität erzeugt wiederum ein noch höheres Mass an Aggressivität. Wobei es in diesem Wahlkampf nicht, wie im Fall der Mäuseexperimente, um die Anzahl der Quadratmeter oder Quadratzentimeter geht, welche dem Einzelnen zur Verfügung stehen, sondern um den geistigen Raum, in dem man sich bewegt.

Dieser geistige Raum, in dem sich die deutschen Bundestagswahlen zurzeit gerade bewegen, scheint ziemlich eng zu sein. Und so nimmt die Aggressivität der darin Agierenden ebenso laufend zu wie die Aggressivität der sich in einem zu engen Käfig befindlichen Mäuse. Dieser beschränkte geistige Raum nämlich ist letztlich nichts anderes als das kapitalistische Wirtschafts- und Denksystem. Ob es sich um den wachsenden Zeitdruck, Stress und Konkurrenzkampf am Arbeitsplatz handelt, die permanente Zunahme psychischer Erkrankungen, die soziale Ausgrenzung eines wachsenden Teils der Bevölkerung, die immer tiefer werdende Kluft zwischen Arm und Reich, die Ängste vor „Überfremdung“ und Bedrohung eigener kultureller Werte, den Klimawandel oder die sich insbesondere bei jungen Menschen immer weiter ausbreitende Resignation und Ohnmacht in Bezug nicht nur auf die individuelle, sondern auch auf die Zukunft der gesamten Menschheit, noch zusätzlich verstärkt durch die Angst vor einem drohenden dritten Weltkrieg – alle diese und beliebig viele weitere Missstände und Fehlentwicklungen , unter denen viel zu viele und immer mehr Menschen nicht nur in Deutschland, sondern weltweit leiden, lassen sich, ohne dass es hierfür irgendwelcher aufwendiger Analysen oder Studien bedürfte, unmittelbar auf das herrschende Machtsystem eines globalisierten Kapitalismus zurückführen, das beinahe ausschliesslich auf unbeschränkte Profitmaximierung und nicht enden wollende Bereicherung und Privilegierung einzelner Bevölkerungsgruppen auf Kosten anderer ausgerichtet ist. Kein Wunder, äussern sich in Umfragen, in Deutschland ebenso wie in anderen Ländern, regelmässig eine Mehrheit der Befragten dahingehend, dass der Kapitalismus insgesamt mehr Schaden als Nutzen anrichte.

Doch statt dass sich Politikerinnen und Politiker über alle Grenzen hinweg zusammensetzen und endlich darüber nachzudenken beginnen, wie denn eine Alternative zum Kapitalismus aussehen könnte und wie sich eine solche verwirklichen liesse, klammern sie sich unerbittlich am eingeschlagenen Irrweg fest. Radikal antikapitalistisches Denken findet höchstens noch in ein paar winzigen Nischen „Ewiggestriger“ statt und wird von den Mächtigen in aller Regel schon nach zaghaftestem kurzen Aufblitzen unmittelbar ins Reich des Bösen und der ewigen Finsternis verbannt. Als hätte das Denken in Alternativen zu jenem Zeitpunkt endgültig aufgehört, als der amerikanische Politologe Francis Fukuyama im Jahre 1989, berauscht vom scheinbar endgültigen Sieg des Kapitalismus über den Kommunismus, verkündete, nun sei die Menschheit am „Ende ihrer Geschichte“ angelangt. Und nicht einmal in Deutschland wurde diese Behauptung Fukuyamas in den vergangenen 35 Jahren jemals ernsthaft in Frage gestellt, als hätte es in diesem Land nie einen Georg Friedrich Hegel gegeben, der schon vor über 200 Jahren in seiner wegweisenden Lehre der Dialektik genau das Gegenteil postulierte, nämlich, dass die Geschichte nie am Ende sei, sondern sich, ausgehend von Thesen und ihnen widersprechenden Antithesen, zu stets wieder neuen Synthesen weiterentwickeln kann. Es wäre im Jahre 1989 wohl um vieles zukunftsträchtiger gewesen, nicht auf Fukuyama zu hören, sondern auf eben diesen Georg Friedrich Hegel, um das kapitalistische Primat individueller Selbstverwirklichung und das sozialistische Primat sozialer Gerechtigkeit nicht gegeneinander auszuspielen und den Sieg des Ersteren gegen das Zweite zu feiern, sondern aus diesen beiden Ansätzen im Sinne einer Synthese etwas Neues, Drittes, Besseres zu schaffen.

Nun gibt es aber nebst dem Stillstand alternativen Denkens und der Absage an die Dialektik wohl auch noch einen weit handfesteren Grund dafür, dass sich die bestehenden politischen Parteien nicht aus dem kapitalistischen Denksystem zu lösen vermögen bzw. dies auch gar nicht wirklich wollen. Denn sie selber gehören ja in der kapitalistischen Klassengesellschaft zu 99 Prozent zu den Privilegierten, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit, und haben deshalb auch kein echtes Interesse an einer grundsätzlichen Überwindung eines Machtsystems, das ihnen selber so viele Vorteile verschafft. Und so verlaufen die tatsächlich entscheidenden Konfliktlinien eben nicht zwischen den einzelnen politischen Parteien, sondern vielmehr zwischen den einzelnen Schichten der kapitalistischen Klassengesellschaft von ganz oben im Paradies der Reichsten bis ganz unten in der Hölle der Ärmsten und am meisten Ausgebeuteten. Tiefgreifende politische Veränderungen können daher nur von aussen oder von unten kommen, nicht aus dem Inneren des bestehenden Politsystems.

Einmal mehr ist auch der gegenwärtige, von Hass und Schuldzuweisungen geprägte deutsche Wahlkampf ein Paradebeispiel dafür, wie von den tatsächlich lebensbedrohenden Problemen, welche der Kapitalismus Tag für Tag verursacht, abgelenkt wird, indem man sich am untersten Rand dieses Machtsystems gezielt einzelne individuelle Sündenböcke aussucht, auf denen dann alle, gegenseitig sich anstachelnd und miteinander wetteifernd, bis zum Gehtnichtmehr herumhacken können. Da das „Böse“ ja nicht in den Grundprinzipien der herrschenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung liegen darf, muss es demzufolge im Wesen oder in der Herkunft von ganz besonders „bösen“ Individuen liegen, die, wie man ihnen unterstellt, nichts anderes im Schilde führen, als den angeblich so ehrlich erschaffenen Wohlstand ihres „Gastlandes“ zu missbrauchen, zu gefährden oder gar zu zerstören: Die typische Ablenkung von der Systemgewalt auf die Individualgewalt, um die Existenz des herrschenden Machtsystems nicht zu gefährden, wie das auch schon zur Zeit der Hexenverfolgungen oder anderer Progrome so hervorragend funktionierte. Denn, wie schon Karl Marx sagte: „Die herrschenden Ideen einer Zeit waren stets nur die Ideen der herrschenden Klasse.“

Ein einzelner Afghane oder Syrier, der eine Mordtat begeht, wird über Tage und Wochen zum fast einzigen Thema sämtlicher Zeitungsartikel, TV-Nachrichten, Talkshows und öffentlichen Debatten emporstilisiert, während allein in Deutschland gleichzeitig durchschnittlich jeden Tag eine Frau von ihrem eigenen Mann umgebracht wird, jeden Tag rund 50 unschuldige palästinensische Kinder von den Machthabern eines Staats getötet werden, mit dem man eng befreundet ist und dem man sogar in grossem Stil Waffen zum Töten dieser Kinder liefert, und jeden Tag weltweit rund 15’000 Kinder unter fünf Jahren sterben, weil sie nicht genug zu essen haben, und zwar nicht etwa deshalb, weil insgesamt zu wenig Nahrungsmittel vorhanden wären, sondern aus dem einzigen und alleinigen Grund, dass im globalisierten Kapitalismus – der angeblich einzig möglichen und besten Wirtschaftsweise aller Zeiten – die Güter nicht dorthin fliessen, wo sie am dringendsten gebraucht werden, sondern dorthin, wo die multinationalen Nahrungsmittelkonzerne damit am meisten Geld verdienen können. Doch Meldungen und Nachrichten dieser Art sucht man in den allermeisten Medien vergebens, und erst recht nicht in den Verlautbarungen all jener Politikerinnen und Politiker, die jetzt gerade im Wahlkampf stehen. Wie man auch nie etwas davon hört, dass auf jeden Flüchtling, der eine Straftat begeht, etwa zehntausend andere kommen, die sich noch nie auch nur des geringsten Vergehens schuldig gemacht haben. Und man auch nie etwas davon hört, dass die vielbeklagte Migration aus dem Süden in den Norden nichts anderes ist als die zwangsläufige Folge von 500 Jahren kolonialer Ausbeutung, welche die Voraussetzung dafür war, dass die Länder des Nordens trotz weitgehenden Mangels an Rohstoffen und Bodenschätzen überhaupt so reich werden konnten, wie sie heute sind, Reichtum also, der letztlich nur entstehen konnte aus der Ausbeutung, Beraubung, Plünderung, Fremdbestimmung und Verelendung des Südens. Was nichts anderes bedeutet, als dass Menschen, die aus dem Süden in den Norden fliehen, nichts anderes versuchen, als sich einen winzigen Teil dessen, was ihnen und ihren Vorfahren über Jahrhunderte gestohlen wurde, wieder zurückzuholen.

Diese systematische Täter-Opfer-Umkehr, das geradezu hysterische Herumhacken auf den Schwächsten, hat mittlerweile schon fast dermassen pseudoreligiöse, wahnhafte Dimensionen angenommen, dass selbst eine durchaus intelligente und kritische Politikerin wie Sahra Wagenknecht das „Migrationsproblem“ an die oberste Stelle ihrer politischen Agenda gesetzt hat, weil sie genau weiss, dass sie sonst im gegenseitigen Macht- und Konkurrenzkampf mit den anderen Parteien kläglich untergehen würde. Erfolgreich ist heute offensichtlich nur noch, wer die dicksten Muskeln zeigt, gnadenlos auf den Allerschwächsten herumhackt und die eigentlichen Ursachen aller wirklich grossen Probleme systematisch verschweigt und von ihnen ablenkt. Hass als politisches Programm.

Luisa Neubauer spricht in Bezug auf den Klimawandel von „Kipppunkten“, kürzesten Zeitfenstern, in denen Dinge geschehen können, die sich definitiv nie mehr rückgängig machen lassen werden. Auch die Schwelle zu einem dritten, alles vernichtenden Weltkrieg als letzte, perverseste Konsequenz kapitalistisch-patriarchaler Weltherrschaft könnte ein solcher Kipppunkt sein.

Aber könnte es nicht auch Kipppunkte in die umgekehrte Richtung geben? Ist nicht denkbar, dass der Hass, den so viele sich heute an der Macht Befindliche um sich herum verbreiten, doch noch eines Tages ins Gegenteil kippen könnte? So etwas wie Menschenliebe scheint aus der heutigen Politik nahezu gänzlich ausgelöscht worden zu sein. Aber das heisst doch nicht, dass sie sich deshalb in nichts aufgelöst hat. Irgendwo anders staut sie sich doch gewiss wieder auf, wie Wasser im See hinter einer Staumauer, wie Blumen, die aus den Ruinen zerstörter Städte wieder neu herauswachsen, wie ein jedes Kind, das voller Hoffnung und Sehnsucht nach einer Welt voller Frieden, Gerechtigkeit und einem Leben voller Glück und voller Lachen neu geboren wird. Irgendwann werden doch diese seltsamen Figuren, die heute noch das Weltgeschehen dominieren, für immer der Vergangenheit angehören müssen und nur noch Karikaturen sein in den Geschichtsbüchern der Zukunft, die in den Händen neuer Generationen, die das alles fast nicht mehr glauben können werden, die Runde machen werden. Ja, so utopisch es klingen mag, aber die Liebe ist der einzige Schlüssel, der die althergebrachten Denkmuster, die schon viel zu viel Schaden angerichtet haben, aufzubrechen und den Blick in eine neue, von Grund auf andere Zukunft zu öffnen vermag. Nicht die am meisten von Hass, Arroganz und Rechthaberei Besessenen werden in dieser neuen Zeit die verantwortungsvollsten Posten in der Gesellschaft einnehmen, sondern die Liebevollsten, Zärtlichsten, Dünnhäutigsten, Empfindsamsten. Die, welche sich selber so stark lieben, dass sie auch jeden anderen Menschen voll und ganz lieben, in allem zuallererst das Gute sehen, auch noch das „Fremdeste“ in ihr Herz hereinlassen, auch noch mit den „Verrücktesten“ das Gespräch suchen und die auch selber erst dann wirklich ruhig schlafen können, wenn auch alle anderen Menschen auf dieser Welt frei von Hunger, Armut, Ausbeutung, Verfolgung und Kriegen ebenso ruhig schlafen können…