Der “Club” vom 2. Januar 2024: Ein guter Anfang im neuen Jahr, doch die Oberfläche wird nicht angetastet…

Zumindest im “Club” vom 2. Januar 2024 am Schweizer Fernsehen SRF1 hat das neue Jahr gut begonnen. Auf hohem Niveau, sich gegenseitig aufmerksam zuhörend, ohne die gewohnten gegenseitigen Schuldzuweisungen, hat sich eine hochkarätige Gesprächsrunde mit der Fragestellung “Ist die Welt aus den Fugen?” auseinandergesetzt.

Peter Maurer, während zehn Jahren IKRK-Präsident, stellte all jenen Statistiken, welche ein zu rosiges Bild gesellschaftlicher Fortschritte innerhalb der vergangenen Jahrzehnte zeichnen, die Tatsache entgegen, dass weltweit immer mehr Zonen zu einem Niemandsland werden, wo sich bitterste Armut und Verelendung breit machen, ohne dass dies in einer dieser Statistiken abgebildet werde. Durchschnittswerte, so meinte er, würden rein gar nichts aussagen über die tatsächliche Situation der Betroffenen, auch würden diese in offiziellen Umfragen meist gar nicht berücksichtigt. Tatsache sei, dass mindestens zwei Milliarden Menschen mit solchen Statistiken nichts zu tun hätten. Es sei unbestritten, dass weltweit die Zahl fragiler Länder und vulnerabler Gesellschaften laufend zunehme. Wichtig sei aber, so Maurer, sich von solchen Entwicklungen nicht erschlagen zu lassen, sondern Wege aufzuzeigen, auf welche Weise und mit was für Massnahmen positive Veränderungen bewirkt werden könnten.

Schwester Ariane, Nonne, Gassenarbeiterin und Gründerin des Vereins “incontro”, berichtete von ihren Erfahrungen mit Armutsbetroffenen, Obdachlosen und Flüchtlingen. Wohnungsnot, steigende Lebenskosten und fehlende Zukunftsperspektiven machten den Menschen immer mehr zu schaffen. Viele seien mit dem Ausfüllen von Formularen, nicht zuletzt infolge fehlender Deutschkenntnisse, masslos überfordert, auch den Umgang mit Computern seien viele nicht gewohnt. Dass die Aufnahme von Flüchtlingen davon abhängig gemacht werde, ob jemand einen “ökonomischen Nutzen” bringe oder nicht, finde sie empörend und sie warf die Frage in die Runde, ob denn Menschen nur noch als “Waren” betrachtet würden und nicht mehr als Wesen mit dem generellen Anspruch auf eine menschenwürdige Existenz. “Was ist die Schweiz?”, fragte sie, “haben wir die Vulnerablen überhaupt noch im Blick, stehen sie im Zentrum oder existieren sie nur am Rande?” Und dann berichtete sie von einer 60jährigen Frau, welche trotz langem Suchen keine erschwingliche Wohnung gefunden hatte, sich nur noch als “Last der Gesellschaft” fühlte und so verzweifelt war, dass sie in eine tiefe Depression fiel und eines Tages beschloss, mit Hilfe von Exit freiwillig aus dem Leben zu scheiden – nur die tatkräftige Unterstützung durch den Verein “incontro”, welcher ihr schliesslich eine kostengünstige Wohnung vermittelte, konnte sie davon abhalten.

Peter Schneider, Psychoanalytiker und Satiriker, entlarvte den Begriff der “Eigenverantwortung” als zynische Ablenkung davon, dass sich die öffentlichen Institutionen immer mehr in Erosion befänden. Dass öffentliche Spitäler, um an Geld zu kommen, bereits so weit gingen, Charity-Bälle zu veranstalten, fände er in höchstem Ausmass erschreckend. Und dass Grossbritannien unlängst beschlossen hätte, Flüchtlinge in Ländern wie Ruanda sozusagen – fast wie Sondermüll – “zwischenzulagern”, sei für ihn Ausdruck extremster Menschenfeindlichkeit.

Katja Gentinetta, politische Philosophin, sprach von einer Überforderung vieler Menschen durch eine Flut von Krisen in kürzester Zeit, angefangen von Covid über den Ukrainekrieg bis zum aktuellen Nahostkonflikt.

Doch trotz vieler guter Gedanken und Argumente blieb die Runde bis zuletzt an der Oberfläche stecken. Die Frage nach der Wurzel aller Übel wurde von niemandem gestellt. Als wären Armut, soziale Ausgrenzung, Klimawandel und Kriege bloss so etwas wie Naturereignisse, denen wir mehr oder weniger hilflos ausgeliefert sind und auf die wir einzig und allein mit individuellen “guten Taten” reagieren können. Dabei ist doch offensichtlich, dass alles mit allem zusammenhängt und letztlich eine Folge des Wirtschafts- und Gesellschaftssystems ist, in dem wir leben. Ein Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das sich in einem Wort mit dem Begriff des Kapitalismus benennen lässt, an das wir uns aber mittlerweile offensichtlich schon so umfassend gewöhnt und das wir so durch und durch verinnerlicht haben, dass wir vor lauter Bäumen den Wald schon gar nicht mehr sehen.

Mit seiner Ideologie, dass man mit bereits vorhandenem Geld ohne selber zu arbeiten weitaus mehr Geld verdienen kann als durch eigene ehrliche Arbeit, ist der Kapitalismus die eigentliche Ursache für die immer weiter wachsende Kluft zwischen Arm und Reich. Mit seiner Ideologie der grösstmöglichen Profitmaximierung ist er ebenfalls die Hauptursache dafür, dass die Güter weltweit nicht dorthin fliessen, wo sie am dringendsten gebraucht werden, sondern dorthin, wo sich damit am meisten Geld verdienen lässt. Mit seiner Ideologie eines unbegrenzten Wirtschaftswachstums ist er gleichermassen die Hauptursache für die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen, die masslose Verschleuderung von Rohstoffen und damit auch für den Klimawandel. Und mit seiner Ideologie der territorialen Ausdehnung, um möglichst viele Menschen, Rohstoffe und Absatzmärkte in seine Gewalt zu bringen, ist der Kapitalismus auch eine der wesentlichsten Ursachen für den Krieg.

Ohne Kapitalismuskritik, das hat diese Diskussion einmal mehr in aller Deutlichkeit gezeigt, kommen wir nicht wirklich weiter und drehen uns bloss immer wieder im gleichen Kreis. Ohne Kapitalismuskritik bleibt alles trotz noch so vieler “guter Taten” und trotz noch so schönfärberischer Statistiken grundsätzlich beim Alten. Ohne Kapitalismuskritik wird auch 2024 am Ende ein verlorenes Jahr gewesen sein.

Gegen Ende der Sendung wurde das sogenannte “Gelassenheitsgebet” eingeblendet. Es besagt, dass man nur jene Dinge verändern solle, die sich auch tatsächlich verändern liessen. Und dass man darauf verzichten solle, Dinge verändern zu wollen, die sich nicht verändern liessen. Alle in der Runde nickten zustimmend. Aber eigentlich hätte in diesem Augenblick von irgendwoher ein Aufschrei, ein heftiger Protest kommen müssen. Denn tatsächlich gibt es nichts, was sich nicht ändern lassen würde. Und schon gar nicht eine so menschen-, natur- und zukunftsfeindliche Ideologie wie jene das Kapitalismus. „Der Kapitalismus wird nicht von selbst zusammenbrechen”, sagte der französische Philosoph Lucien Sève, “er hat noch die Kraft, uns alle mit in den Tod zu reissen, wie der lebensmüde Flugzeugpilot seine Passagiere. Wir müssen das Cockpit stürmen, um gemeinsam den Steuerknüppel herumzureissen.“