Der Appell von Auschwitz und was wir daraus lernen können

Überlebende und zahlreiche Staats- und Regierungschefs haben am 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee der Opfer gedacht und zum Kampf gegen den wiederauflebenden Antisemitismus aufgerufen. In einem Zelt vor dem Eingang zum ehemaligen Todeslager Auschwitz-Birkenau erinnerte Polens Ministerpräsident Andrzej Duda vor über 200 Überlebenden und Delegationen aus 50 Ländern und rund 1,3 Millionen Ermordete, davon 1,1 Millionen Juden. “Wir verneigen uns”, so Duda, “vor mehr als 6 Millionen Juden, die in anderen Todeslagern, in Ghettos und anderen Orten ermordet wurden.” Auch die schweizerische Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga war der Einladung nach Auschwitz gefolgt. “Wie viele Menschenleben hätten gerettet werden können”, sagte sie, “wenn damals in Europa mehr Männer und Frauen Nein gesagt hätten zu Antisemitismus und Rassismus.”

(Tages-Anzeiger, 28. Januar 2020)

Keine Frage: Bei der Ermordung von rund sechs Millionen Juden und Jüdinnen durch die Nationalsozialisten handelt es sich um eines der grössten Verbrechen in der Geschichte der Menschheit. Und nur zu berechtigt ist die Forderung, so etwas dürfe sich nie mehr wiederholen. Dennoch: Gibt es in der Geschichte der Menschheit nicht auch noch andere Verbrechen, die ebenso schlimm waren, an die sich aber seltsamerweise niemand zu erinnern scheint und aus deren Anlass es auch weit und breit keine Gedenkfeiern und politische Appelle gibt, die man mit dem jüngsten Gedenkanlass von Auschwitz vergleichen könnte? Ich denke beispielsweise an die Deportation von rund 20 Millionen Menschen aus Afrika nach Amerika zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert, 20 Millionen Menschen, die von einem Tag auf den anderen ihrer Heimat entrissen, als Leibeigene verkauft, auf den endlosen Plantagen der Weissen wie Tiere behandelt und, wenn sie nicht gehorchten, zu Tode geprügelt wurden. Ich denke an den von den USA losgetretenen Vietnamkrieg, dem über fünf Millionen Menschen zum Opfer fielen. Ich denke auch an jene rund 10’000 Kinder, die noch heute weltweit Tag für Tag vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs sterben, weil sie nicht genug zu essen haben, ihnen kein sauberes Trinkwasser zur Verfügung steht oder sie infolge fehlender Medikamente tödlich erkranken. Und ich denke auch an jene Abertausenden Männer, Frauen und Kinder aus Afrika und Asien, die auf der Flucht nach Europa, voller Hoffnung auf ein neues, besseres Leben, dieses Ziel ihrer Lebensträume nie erreichten und heute namenlos irgendwo auf dem weiten Grund des Mittelmeers ihr Grab gefunden haben, wo sie nie mehr irgendwer besuchen und sich an sie erinnern wird. Die vielgehörte Forderung bei der Gedenkfeier in Auschwitz, solche Verbrechen wie die Jugendvernichtung mögen sich nie mehr wiederholen, ist ja gut und recht. Aber offensichtlich fällt es leichter, mit dem Finger auf andere zu zeigen – in diesem Falle auf die “bösen” Nationalsozialisten -, als sich bei der eigenen Nase zu nehmen und auch all jene Verbrechen anzuprangern, die im Namen jenes kapitalistischen Wirtschaftssystems begangen wurden und weiterhin werden, in dem wir hier und heute immer noch leben. Höchste Zeit, dass wir endlich auch jene Verbrechen beim Namen nennen, für die wir selber verantwortlich sind, von der unvorstellbaren und stets noch wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich über die sinnlose weltweite militärische Aufrüstung bis hin zum Klimawandel, dessen Folgen selbst die Vernichtung der Jüdinnen und Juden zur Zeit des Nationalsozialismus um ein Vielfaches in den Schatten stellen könnten. Nur so, wenn wir bei uns selber beginnen, können wir dauerhaft etwas zum Besseren bewegen. Und nur so hätten die Appelle von Auschwitz einen Sinn gehabt, der weit über jene Gedenkfeier hinausgeht, die aus Anlass des 27. Januar 1945 begangen wurde.