Der Anfang vom Ende des Kapitalismus?

Tausende Menschen gingen auch diese Woche wieder in Santiago de Chile und anderen Städten auf die Straße. Abermals gab es Krawalle und Ausschreitungen von Seiten der Demonstranten – und abermals ging die Polizei hart gegen die Protestierenden vor. Die Demonstranten sind sehr divers, kommen aus allen Schichten und allen Altersgruppen und sie haben daher auch verschiedene Forderungen. Sie eint allerdings das Gefühl, über Jahrzehnte ausgenutzt worden zu sein. Die Bevölkerung in Chile trägt die Hauptlast für den wirtschaftlichen Aufstieg des Landes. Die Menschen haben viele Opfer gebracht und nun haben sie genug. Was viele Menschen wollen, ist ein grundlegender Systemwechsel. Es wird daher nicht reichen, wenn die jetzige Regierung zurücktritt, die Unruhen werden weitergehen.

(Kathya Araujo, Soziologin, www.sueddeutsche.de)

Chile ist gegenwärtig nicht der einzige Schauplatz, wo die Interessen der Menschen und die Interessen des Kapitals knallhart aufeinanderprallen. Auch in Ecuador wird seit Wochen demonstriert, bereits sind zahlreiche Tote zu beklagen, hunderte Menschen wurden festgenommen, über 1000 verletzt. Die Unruhen entzündeten sich an einer Erhöhung des Benzinpreises – eine Sparmassnahme, zu deren Umsetzung sich die Regierung im Gegenzug für einen Kredit des Internationalen Währungsfonds (IMF) von 4,2 Milliarden Dollar verpflichtet hatte. Zudem richtet sich der Protest gegen die Erdölförderung in Gebieten, die von indigenen Völkern bewohnt sind, gegen den Abbau staatlicher Arbeitsplätze und gegen geplante Privatisierungen. Damit nicht genug. Auch im Libanon sind die Menschen auf der Strasse. Seit dem vergangenen Donnerstag demonstrieren sie im ganzen Land, an vielen Orten halten sie wichtige Verkehrsverbindungen mit Barrikaden blockiert. Und jeden Tag werden die Massen grösser. Unter den Demonstranten befinden sich viele Familien mit Kindern und Vertreter fast aller Bevölkerungsschichten. «Unser Land ist korrupt», sagt ein Demonstrant, «der Staat hat 85 Milliarden Dollar Schulden. Schauen Sie sich die Bankkonten unserer Politiker an, dann ist klar, wo das Problem liegt.» Der Staat solle das Geld nicht von den Bürgern, sondern von den Schweizer Bankkonten der Politiker nehmen, erklärt der Mann. Und damit immer noch nicht genug. Auch im Irak wird seit Wochen protestiert, bereits sind 104 Tote und mehr als 6100 Verletzte zu beklagen. Trotz sprudelnden Erdöleinnahmen finden Jugendliche, die jährlich zu Hunderttausenden auf den Arbeitsmarkt drängen, keine Jobs. Tausende irakische Familien verfügen über keinerlei Einkommen. Zudem werden der Regierung und den Behörden Korruption und die jahrelange Verschleppung schon längst versprochener Reformen vorgeworfen. Schliesslich Ägypten: Auch hier gibt es seit Wochen zunächst kleine, dann immer grösser werdende Demonstrationen, und dies, obwohl Regimegegner mit harter Bestrafung rechnen müssen. Ursprung des Unmuts ist der Bau eines Luxushotels für den Militärgeheimdienst, mit dem sich der Transportminister persönlich bereichert haben soll. Doch nicht nur ihm, sondern der gesamten Regierung wird Korruption vorgeworfen. Weitere Steine des Anstosses sind die stark steigenden Preise sowie Sparmassnahmen, die als Gegenleistung zu einem IWF-Kredit von 12 Milliarden Dollar ergriffen wurden.

Die Erde brennt – dieses Bild wird zwar aktuell vor allem in Bezug auf den Klimawandel benutzt. Man könnte es aber ebenso gut für den weltweiten Raubzug des Kapitalismus verwenden, der sich in der Bereicherung der Reichen auf Kosten der Armen, im Abbau und der Privatisierung staatlicher Leistungen und im Fehlen minimalster öffentlicher Einrichtungen wie Wohnungen, Schulen, Spitälern usw. manifestiert. Wenn wir die Zeitung lesen oder uns die Nachrichten am Fernsehen anschauen, dann scheinen die Ereignisse in Chile, Ecuador, Libanon, Irak und Ägypten nichts miteinander zu tun zu haben. Tatsächlich aber geht es stets um das selbe: um den Aufstand einer ausgebluteten Bevölkerung gegen ein kapitalistisches System, dessen fast einziger Erfolg darin zu bestehen scheint, die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer zu machen. Ob dies vielleicht schon der Anfang vom Ende des Kapitalismus ist?