Faktisches Demonstrationsverbot: Ist das die “neue Normalität”?

Die Kantone sollen keine Demonstrationen bewilligen, wenn das öffentliche Interesse am Thema gross ist, empfiehlt die Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren. Da es sehr schwierig sei, abzuschätzen, ob an einer Demonstration höchstens 300 Personen teilnehmen, sollen im Zweifelsfalle keine Bewilligungen für Kundgebungen erteilt werden.

(www.srf.ch)

Während man wieder schön gediegen auswärts essen, sich in die Diskothek oder den Nachtclub stürzen, ins Kino gehen und bald auch schon wieder nach Italien oder Kroatien in die Ferien fahren darf, werden grössere politische Kundgebungen schon gleich mal prophylaktisch verboten, und dies mit der geradezu zynischen Begründung, das öffentliche Interesse könnte zu gross sein und die Teilnehmerzahl könnte daher jene 300 Personen, die zurzeit als oberste Limite gelten, übersteigen. Ist das die “neue Normalität”? Politische Kundgebungen also sollen einzig und allein aus dem Grunde verboten werden, weil es zu viele Menschen gibt, welche sich für das betreffende Thema interessieren könnten. So ist bei allen anderen Aktivitäten, die nun wieder erlaubt sind, nie argumentiert worden. Im Gegenteil: Wo Bedürfnisse angemeldet werden, werden keine Mühen gescheut, alle nur erdenklichen Massnahmen vorzunehmen, um diese zu ermöglichen. In den Restaurants werden die Tische auseinandergerückt oder es werden Plexiglaswände dazwischen aufgebaut. In den Nachtclubs und Diskotheken werden Gästelisten geführt. Kinos werden so umorganisiert, dass sich die ein- und austretenden Besucherinnen und Besucher nicht in die Nähe kommen. Schulen stellen ihre ganzen Stundenpläne und Pausenordnungen auf den Kopf, damit es zwischen den Schülerinnen und Schülern zu möglichst wenigen Begegnungen kommt. Freilichttheaterbühnen werden mit riesigem Aufwand umgebaut, damit die Abstände zwischen den einzelnen Zuschauerinnen und Zuschauern eingehalten werden können. Weshalb wird für politische Kundgebungen nicht ein ebenso grosser Aufwand betrieben, statt sie einfach zu verbieten? Dabei wäre es so einfach und nicht einmal besonders teuer. Man könnte zum Beispiel die Bewilligung für eine Kundgebung mit einer Maskenpflicht verknüpfen. Oder man könnte dafür sorgen, dass eine grössere Kundgebung in Untergruppen von maximal 300 Personen aufgelöst würde und dies nicht etwa durch Polizeigewalt, sondern durch einvernehmliche Kooperation mit den Organisatoren und Organisatorinnen, die dafür sorgen würden, dass zwischen den einzelnen Gruppen zu je 300 Personen ein stets genug grosser Abstand zur nächstfolgenden Gruppe eingehalten würde. Ganz abgesehen davon, dass die Ansteckungsgefahr durch das Coronavirus erwiesenermassen in geschlossenen Räumen unvergleichlich grösser ist als im Freien. Wenn so viel Aufwand betrieben wird, dass die “neue Normalität” in Restaurants, Nachtclubs, Kinos und auf Ferienreisen möglichst schnell wieder Einzug hält, dann müsste auch alles getan werden, um jene urdemokratische Normalität, welche am 28. September 2019 auf dem Bundesplatz in Bern mit 100’000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Klimabewegung ihren Höhepunkt fand, wieder voll aufleben zu lassen, wie auch der aktuellen weltweiten Bewegung gegen Rassismus und Polizeigewalt auch hierzulande den nötigen Raum zu gewähren…