DDR: Enttäuschte Erwartungen

58 Prozent der Bürgerinnen und Bürger der neuen deutschen Bundesländer fühlen sich laut einer aktuellen Umfrage heute weniger vor staatlicher Willkür geschützt als zu DDR-Zeiten.

(NZZ am Sonntag, 3. November 2019)

Was nichts anderes heisst, als dass der Kapitalismus von mehr als der Hälfte der Bevölkerung als das schlimmere Zwangssystem empfunden wird als der Sozialismus der früheren DDR. Offensichtlich haben sich die Erwartungen, der Zusammenbruch des Sozialismus würde ein Zeitalter von Freiheit und Wohlstand einläuten, ganz gründlich zerschlagen. Freiheit im Kapitalismus ist eben nur so lange gut, als man auch genug Geld hat, um sich diese leisten zu können. Für die andere Hälfte der Bevölkerung bedeutet Freiheit nichts anderes als das Recht des Stärkeren, die Schwächeren zu erniedrigen, auszubeuten, für sich schuften zu lassen und -wenn man sie nicht mehr braucht – auf die Strasse zu werfen. Dass die vom Kapitalismus Enttäuschten heute in immer grösserer Zahl mit der AfD ausgerechnet eine rechte und nicht eine linke Oppositionspartei wählen, ist so gesehen nahezu grotesk: Nicht gegen Linke, Grüne oder Sozialisten müsste sich die Wut richten, sondern gegen den Kapitalismus, der den ganzen Schaden überhaupt erst angerichtet hat. Doch kann diese Wut nur durch eine schonungslose Offenlegung der kapitalistischen Mechanismen und durch das Aufzeigen einer radikalen Alternative dazu in geordnete und konstruktive Bahnen gelenkt werden. Dazu gehört auch die Aufarbeitung der Geschichte der DDR, wo nicht einfach alles bloss deshalb schlecht war, weil es «sozialistisch» war. Die 58 Prozent der Bevölkerung, welche das DDR-Regime als weniger zwanghaft empfanden als das heutige kapitalistische System, müssten uns zweifellos sehr zu denken geben…