“Dass der Westen in Bezug auf die Ukrainekrise nicht von erheblicher Mitschuld freigesprochen werden kann”

 

Es mag – angesichts des verheerenden, verbrecherischen russischen Feldzugs in der Ukraine – vermessen klingen: Aber versuchen wir uns doch trotz allem für einen Moment in die Sichtweise Russlands bzw. Wladimir Putins zu versetzen. Nicht um irgendetwas zu beschönigen oder zu rechtfertigen, sondern einzig und allein darum, um aus der Geschichte zu lernen und gemachte Fehler nicht stets wieder von Neuem zu wiederholen. Ich zitiere im Folgenden zwei unverfängliche Quellen, einen Autor und eine Autorin, die Putin gegenüber gewiss kritisch eingestellt und nicht einfach blindlings “russlandfreundlich” ausgerichtet sind. Der eine ist der langjährige ARD-Korrespondent Fritz Pleitgen. In seinem Buch “Frieden oder Krieg” schreibt er, dass in Bezug auf die Ukrainekrise der Westen nicht von erheblicher Mitschuld freigesprochen werden könne: “Historiker künftiger Generationen werden, so fürchte ich, mit wissenschaftlicher Kühle feststellen, dass Europas schwerste Ost-West-Krise seit dem Zweiten Weltkrieg durch die Entscheidung der Europäischen Union ausgelöst wurde, die Ukraine mit einem Assoziierungsabkommen auf die Seite des Westens zu ziehen.” Diese Assoziierung hätte mit elementaren Interessen von Russland kollidiert, das mit der Ukraine sowohl aufgrund historischer Wurzeln wie auch wirtschaftlich aufs Engste verbunden sei: “Über 50 Prozent des Exports ukrainischer Güter ging nach Russland. Hunderte Unternehmen arbeiteten für beide Seiten. Millionen russisch-ukrainischer Mischehen vertieften die Beziehungen zwischen beiden Ländern.” Um einen solchen Organismus zu zerlegen, so Pleitgen, hätte es eines ausserordentlichen politischen Fingerspitzengefühls bedurft. Dieses Fingerspitzengefühl aber habe der Westen nicht aufgebracht: “Russland wurde behandelt wie ein missgünstiger Störefried. Brüssel scherte sich weder um die russisch-ukrainische Geschichte noch um die die wirtschaftlichen und familiären Verflechtungen der Gegenwart. Die EU-Bindung der Ukraine hätte in ein europäisches Abkommen eingebettet werden müssen, das Russland in eine Sicherheits- und Wirtschaftspartnerschaft mit der Europäischen Union eingebunden hätte.” Die andere Stimme ist jene von Catherine Belton, Journalistin und Moskauer Korrespondentin der “Financial Times” von 2006 bis 2013. In einem Interview mit der “Sonntagszeitung” vom 20. März 2022 sagt Belton, Putin hätte sich, ob zu Recht oder nicht, durch den Einfluss des Westens und vor allem der USA auf die Ukraine bedroht gefühlt. Obwohl der NATO-Beitritt der Ukraine noch nicht spruchreif gewesen sei, hätte das westliche Verteidigungsbündnis bereits die ukrainische Armee vor Ort trainiert. Westliche Waffen wären ins Land geströmt und die ukrainische Armee sei auf NATO-Standards umgestellt worden. Rückblickend auf das Ende des Kalten Kriegs und des Zusammenbruchs der Sowjetunion sagt Belton: “Jetzt herrschte im Westen Euphorie. Man glaubte, dass den Russen gar nichts anderes mehr übrig blieb als sich anzupassen und sich in eine vom Westen geführte Welt zu integrieren.” Belton erinnert daran, dass Putin nach seinem Amtsantritt im Jahre 2000 dem Westen die Hand ausgestreckt und eine gemeinsame europäische Sicherheitsarchitektur vorgeschlagen hatte. Sie sagt: “Vielleicht wären die Dinge anders verlaufen, wenn der Westen auf Putins Annäherungsversuche eingestiegen wäre.” Belton erwähnt zudem, dass Putin nach 9/11 den USA angeboten hatte, Zentralasien für Operationen in Afghanistan zu nutzen: “Und was bekam er im Gegenzug? Die USA zogen sich 2001 einseitig aus dem Vertrag über ballistische Raketen zurück. Das machte es dem Westen möglich, Raketenabwehrschilde an den Grenzen Russlands zu errichten. Und die NATO hat gleichzeitig ihre Expansion nach Osten unbeirrt fortgesetzt.” Putin hätte, zu Recht oder zu Unrecht, geglaubt, dass die USA dies alles absichtlich getan hätten, um sein Land einzukreisen und zu schwächen.. “Man behandelte Putin”, so Belton, “als hätte er nie eine Bedeutung gehabt.” Wer hier und heute die Bilder aus zerbombten ukrainischen Städten und der millionenfach fliehenden Frauen und Kinder sieht, hat begreiflicherweise für die Seite Russlands wenig Verständnis. Wenn aber namhafte westliche Journalisten und Publizistinnen zum Schluss kommen, dass der Westen nicht von erheblicher Mitschuld freigesprochen werden könne und die Dinge möglicherweise anders verlaufen wären, wenn der Westen die Sicherheitsinteressen Russlands Ernst genommen und die entgegengestreckte Hand Putins ergriffen hätte, dann muss das doch sehr zu denken geben. Freilich eine höchst unbequeme Tatsache, wenn wir uns eingestehen müssten, dass die westliche Politik nach dem Ende des Kalten Kriegs mitschuldig wäre an all dem, was heute der Ukraine widerfährt. Und doch können wir vor all dem nicht einfach die Augen verschliessen und so tun, als hätten wir mit alledem nichts zu tun. “In der Menschheitsgeschichte”, so der bekannte US-Historiker George Kennan, “führt ein Ding zum anderen. Jeder Fehler ist das Produkt vorheriger Fehler.” Wir können nur hoffen, dass wir nicht immer und immer wieder die gleichen Fehler machen, sondern endlich den Weg finden aus dem Teufelskreis von Gewalt und Krieg, hin zu Gewaltlosigkeit, Völkerverständigung und Frieden über alle Grenzen hinweg.