Das wahre Gesicht des Kapitalismus

«Es gibt Fälle, in denen Arbeitgeber Schwarzarbeiter je nach Gang der Geschäfte entlöhnen. An einem Tag zahlen sie ihnen 100 Franken, an einem anderen 50 Franken und an einem dritten gar nichts.» Das Zitat stammt nicht aus irgendeinem Drittweltland, sondern aus – dem kapitalistischen Musterland Schweiz! Und zwar von Stefan Oberlin, Sprecher der Zürcher Kantonspolizei. Tatsächlich haben die Verzeigungen wegen Beschäftigung von Ausländern ohne Bewilligung gemäss der soeben erschienenen Kriminalstatistik des Bundesamtes für Polizei (Fedpol) in den letzten zehn Jahren deutlich zugenommen. Beim «Ausüben einer nicht bewilligten Erwerbstätigkeit», also beim eigentlichen Schwarzarbeiten, betrug die Zunahme zwischen 2009 und 2018 mehr als zwanzig Prozent, bei der Beschäftigung von Schwarzarbeitern sogar mehr als 60 Prozent. Laurent Paoliello vom Departement für Sicherheit, Arbeit und Gesundheit des Kantons Genf weiss von Schwarzarbeiterinnen und -arbeitern, die 60-70 Stunden pro Woche arbeiteten und dafür 450 Franken erhielten. Das ergibt einen Stundenlohn von knapp 7 Franken. Und Serge Gnos von der Gewerkschaft Unia sagt: «Wir haben Kenntnis von Fällen, in denen Arbeiter unter hundslausigen Verhältnissen arbeiten und wohnen. Und für diese Bruchbuden müssen die Arbeiter den Arbeitgebern erst noch völlig überteuerte Mieten zahlen.»

(NZZ am Sonntag, 21. April 2019)

Hier, im rechtsfreien Raum, zeigt der Kapitalismus sein wahres Gesicht. Hätte man ihn nicht mit Gesetzen und Vorschriften gezügelt, würde er auch heute noch hierzulande so unerbittlich wüten wie im 19. Jahrhundert. Man hätte immer noch wöchentliche Arbeitszeiten von 100 Stunden, die Sechs- oder Siebentagewoche, Hungerlöhne und keine Existenzsicherung im Alter, bei Unfällen oder Krankheit. Wenn sich der Kapitalismus als «menschenfreundliche Wirtschaftsordnung» zu verkaufen versucht, so schmückt er sich dabei mit fremden Federn, den Federn der linken politischen Kräfte und der Gewerkschaften, die in jahrzehntelangem Kampf dem Kapitalismus sein vermeintliches so menschenfreundliches Antlitz verpasst haben…