Das Patriarchat als grösster Sündenfall in der Geschichte der Menschheit und die Magie gesellschaftlicher Kipppunkte…

 

“Die Tänzerinnen des Oben-ohne-Clubs Star Garden in Los Angeles”, so berichtete der “Tagesanzeiger” am 5. November 2022, “haben genug: Sie haben sich organisiert, um möglichst viele Leute von einem Besuch der Bar abzuhalten. Denn die Zustände im Star Garden sind katastrophal. Frauen werden von Kunden geohrfeigt oder an ihren Knöcheln durch die Bar geschleift. Gewaltsames Begrapschen, Bedrohen und tätliche Angriffe sind an der Tagesordnung. Dennoch ist es den Tänzerinnen verwehrt, das Sicherheitspersonal um Hilfe zu bitten. Dazu kommt ein Arbeitsumfeld, das an jedem anderen Ort als inakzeptabel gelten würde: Scherben am Boden oder gebrochene Tanzstangen, die zu Verletzungen führen, Löcher und herausstehende rostige Nägel auf der Bühne, verschmutzte Umkleidekabinen, fehlende Hygieneartikel.”

Das ist nur einer von zahlreichen Artikeln, die ich mir zum Thema Frauenrechte beiseitegelegt habe. Ein zweiter berichtet von den hauptsächlich aus Äthiopien und den Philippinen stammenden, in reichen Privathaushalten Dubais arbeitenden Dienstmädchen, die rund um die Uhr schikaniert, beschimpft, zu pausenloser harter Arbeit angetrieben werden und die Nacht auf dem Fussboden der Küche oder des Korridors verbringen müssen, weil ihnen nicht einmal ein eigenes Zimmer zur Verfügung gestellt wird. Ein dritter Artikel beschreibt die Zustände im Spitzensport, wo Mädchen und junge Frauen, insbesondere im Kunstturnen, im Synchronschwimmen und in den Tanz- und Ballettschulen, bis an ihre Schmerzgrenzen und darüber hinaus zu Höchstleistungen gezwungen werden und auf gröbste Art behandelt und ausgegrenzt werden, wenn sie die geforderten Leistungen nicht erbringen. Ein vierter Artikel zitiert eine 17Jährige, die in einem Schweizer Spital die Ausbildung zur Fachfrau Gesundheit absolviert und erzählt, dass sie jeden Abend zuhause weinen müsse, weil sie einfach keine Kraft mehr habe und mehr als einmal am Rande eines psychischen Zusammenbruchs gewesen sei.

Das sind nur ein paar wenige, willkürlich herausgegriffene Meldungen über besonders unwürdige Zustände, von denen zur Hauptsache Frauen betroffen sind. Wollten wir das Thema erschöpfend behandeln, so würden die gesammelten Dokumente wohl so grosse Bibliotheken füllen, dass kein Mensch, auch wenn er zehntausend Jahre oder noch länger leben würde, jemals alles lesen könnte. Und doch werden Meldungen solcher Art von den Medien stets nur in Form von Einzelportionen vermittelt, so dass der Eindruck entsteht, alles sei bloss Zufall und nichts hätte mit dem andern etwas zu tun. Tatsächlich aber sind die Art und Weise, wie mit Prostituierten und Sexarbeiterinnen umgegangen wird, die erniedrigenden Lebensbedingungen von Hausmädchen und Putzfrauen, die grausamen Trainingsmethoden im weiblichen Spitzensport sowie sämtliche Formen von Unterdrückung und Diskriminierung von Frauen in Politik, Arbeitswelt und Alltagsleben aufs Engste miteinander verknüpft und Ausdruck einer ganz bestimmten, zeit- und länderübergreifenden Macht- und Herrschaftsordnung genannt Patriarchat, das wohl in den an Grausamkeit alle Vorstellungskraft übersteigenden Hexenverfolgungen des 15. bis 18. Jahrhunderts seinen Höhepunkt fand, aber in Abertausenden anderen Formen bis heute sein weiterhin zerstörerisches Unwesen treibt.

Der grösste Sündenfall in der Geschichte der Menschheit ist nicht der in der Bibel beschriebene Verzehr der verbotenen Frucht vom Baum der Erkenntnis. Der grösste Sündenfall in der Geschichte der Menschheit ist die Machtergreifung des Mannes über die Frau. Nicht umsonst sprechen indigene Völker von der Mutter Erde und nicht umsonst sind alle ihre wichtigen Götter weiblich. Die ganze Kolonisation und gewaltsame Unterwerfung aussereuropäischer Gebiete seit dem 15. Jahrhundert, der Kapitalismus als solcher und all die sinnlosen Kriege über Jahrhunderte bis in unsere Tage – alles ist das Werk von Männern, die nie gelernt haben, auf die Frauen und die Kinder zu hören.

Doch so, wie das Patriarchat seinen Anfang nahm, kann es auch wieder zu einem Ende kommen. Die gegenwärtige Protestbewegung im Iran, die hauptsächlich von Frauen getragen wird und eines der patriarchalsten Machtsysteme, die man sich nur vorstellen kann, nämlich jenes der Mullahs, radikal in Frage stellt, gibt einen kleinen hoffnungsvollen Blick in eine Zukunft, die schon bald Wirklichkeit werden könnte. Denn wir haben gar keine andere Wahl. Wird das Patriarchat nicht überwunden, dann wird auch das Überleben der Menschheit, das in nie dagewesenem Ausmass von Wirtschaftskrisen, von Armut, Hunger, dem Klimawandel und von Kriegen bedroht ist, nicht mehr lange möglich sein.

Auch die Klimabewegung ist ein Meilenstein auf diesem Weg. Kinder und Jugendliche, an ihrer Spitze weltweit junge Frauen, die keine andere Macht haben als ihre Stimmen, ihr Wissen, ihre Sorge um das Wohl der Menschen und ihre Sehnsucht nach einer anderen Welt. “Wir malen sie aus und wir wissen, dass wir sie erleben werden”, sagte die deutsche Klimaaktivistin Luisa Neubauer voller Hoffnung, “ja, sie ist es, die Zukunft, von der träumen. Das ist die Magie gesellschaftlicher Kipppunkte – wir wissen nicht genau, wann wir sie erreichen, aber wir wissen, dass sie kommen.”