Das Märchen von der selbstverschuldeten Armut

Etwas mehr als die Hälfte der in der Schweiz wohnhaften Personen weist ein Vermögen von weniger als 50’000 Franken auf, ein Viertel gar keines. Knapp 6 Prozent besitzen mehr als eine, 0,28 Prozent oder 14’803 Personen mehr als 10 Millionen. Aktuell besitzt ein Prozent der Schweizer Bevölkerung rund 40 Prozent des Gesamtvermögens. Dieser Wert ist rund doppelt so hoch wie in Frankreich und England. Anders formuliert: Wenige «Superreiche» hängen mit ihrem Vermögen den Rest immer stärker ab. Das gleiche Phänomen lässt sich bei den Einkommen beobachten. Daniel Lampart, Chefökonom beim Schweizerischen Gewerkschaftsbund, ortet eine Reihe von Schwierigkeiten. Reiche Eltern könnten ihren Kindern zum Beispiel eine bessere Ausbildung ermöglichen. Und: «Menschen mit hohem Vermögen können mehr Einfluss auf Politik und Wirtschaft ausüben.»

(W&O, 24. September 2019)

Kann man da noch von einer funktionierenden Demokratie sprechen? Wohl kaum. Vielmehr von einer Klassengesellschaft, in der Lebensstandard, persönliches Wohlergehen, Gestaltungs- und Einflussmöglichkeiten sowie Zukunftschancen höchst ungleich verteilt sind. Dass es nicht schon längst zu einem Aufstand der unteren Klassen gekommen ist, hat erstens damit zu tun, dass es im reichsten Land der Welt auch den Ärmsten immer noch besser geht als der überwiegenden Mehrheit der gesamten Weltbevölkerung. Und zweitens, was vielleicht noch entscheidender ist: dass auch die Armen und Ärmsten immer noch an jenes Märchen glauben, das man ihnen von klein auf eingebläut hat, nämlich, dass, wer arm ist, selber daran Schuld sei. Während in Tat und Wahrheit doch das Geld, das in den Taschen der Reichen und Reichsten dermassen im Überfluss vorhanden ist, genau jenes Geld ist, das in den Taschen der Armen und Ärmsten so schmerzlich fehlt – als Folge der unaufhörlichen kapitalistischen Umverteilung von den Armen zu den Reichen auf  was für verschlungenen, geheimnisvollen und unsichtbaren Wegen auch immer…