Das Dreirad auf einem Stück Papier unter dem Weihnachtsbaum

Nein, sagt sie zu ihrem Kind, das schon wieder vor einem übervollen Gestell stehen geblieben ist und jetzt triumphierend eine Tüte Gummibärchen in der Hand hält. Leg das zurück. Aber die Wägelchen der anderen Leute sind doch auch randvoll und unseres ist immer noch fast leer, antwortet das Kind verständnislos. Ja, sagt die Mutter, aber die anderen, das sind nicht wir. Im Einkaufswagen liegen jetzt eine Tube Zahnpasta, ein Paket Spaghetti, zwei Tomaten, eine Gurke, eine Flasche Essig und die Wurst, die ihr eine gute Freundin, welche im Supermarkt arbeitet, soeben heimlich zugesteckt hat, da sie nur noch halb so viel kostet, weil ihr Ablaufdatum schon überschritten ist und sie sonst im Müll landen würde.

Der Blick in die anderen Einkaufswagen, wo all die Träume aufgetürmt sind, welche sie Tag für Tag zu verdrängen versucht, ist wie Feuer, das durch den ganzen Körper geht. Und ob sie will oder nicht: Immer und immer wieder ziehen die selben Bilder an ihrem inneren Auge vorüber. Das Dreirad, das sich ihr Kind für Weihnachten so sehnlichst wünschte, bis ihr nichts anderes einfiel, als es auf ein Stück Papier zu zeichnen, in Geschenkpapier einzuwickeln und es unter den winzigen Plastikweihnachtsbaum zu legen, den sie mit dem letzten Rest des Monatsgeldes gekauft hatte. Das ist ein Gutschein, erklärte sie dem enttäuschten Kind, den kannst du dann vielleicht in einem oder in zwei Jahren einlösen, wenn wir genug Geld haben werden, um ein richtiges Dreirad zu kaufen. Der Stapel mit den noch nicht bezahlten Rechnungen für das Bügeleisen, die Winterjacke und die Reparatur eines Wasserhahns, der nicht mehr funktionierte. Das Formular, mit dem sie eine Erhöhung des Sozialhilfebeitrags hätte beantragen wollen, das jetzt aber zerrissen auf dem kleinen Küchentisch liegt, weil auf einmal die Wut darüber, aller Voraussicht nach sowieso einmal mehr eine Absage zu erhalten, so viel stärker war als jegliche Vernunft. Die fast unerträglichen Schmerzen im Unterkiefer, die sie seit Wochen quälen und den letzten Rest an Lebensfreude verderben, seit sie weiss, dass sie wahrscheinlich schon alt und grau geworden sein würde, bis sie sich die dringend notwendige Zahnoperation auch nur im Entferntesten würde leisten können.

Jetzt stehen sie und ihr Kind in der Schlange vor der Kasse. Die Zahnpasta hat sie inzwischen wieder zurückgelegt, man kann sich die Zähne auch mit Wasser putzen. Die Dame vor ihr äugt sichtlich befremdet in ihren fast leeren Einkaufswagen, während sie selber eine Riesenmelone und fünf Tafeln Schokolade auf das Laufband legt. Gleich werden auch das Paket Spaghetti, die zwei Tomaten, die Gurke, die Flasche Essig und die abgelaufene Wurst auf dem Laufband liegen. Und bei jedem Handgriff, mit dem die Kassierin die Dinge über den Scanner zieht, wird hinter der unsichtbaren Mauer, welche den Profit und das Elend fein säuberlich voneinander trennt, auf dem Bildschirm in der Buchhaltungsabteilung des Supermarkts die Kurve des heutigen Umsatzes ein ganz klein wenig in die Höhe steigen, bis sie dann am Ende des Jahres aller Voraussicht nach einmal mehr einen neuen Rekordstand erreichen wird. Jedes Paket Spaghetti, jede Tomate, jede Gurke, jede Flasche Essig und jede noch so abgelaufene Wurst machen die Reichen noch ein bisschen reicher und die Schmerzen derer, die sich nicht einmal eine Zahnpasta geschweige denn ein kleines Dreirad zu Weihnachten leisten können, noch ein bisschen unerträglicher.

Die Frau an der Kasse würde ja noch so gerne einen Teil dessen, was sich jetzt im Einkaufskorb der vorangegangenen Kundin angesammelt hat, in die Einkaufstasche der alleinerziehenden Mutter legen, die gerade die paar letzten Münzen aus ihrem fast leeren Portemonnaie geklaubt hat. Doch das geht nicht. Die Mauer der sozialen Apartheid im reichsten Land der Welt ist unüberwindbar. Und nicht nur das. Wo immer es beginnt und wo immer es endet, all die unzähligen Ketten von den Fabriken, den Laufbändern im Supermarkt, den Tränen verzweifelter Mütter in der Nacht bis hinauf zu den Chefetagen multinationaler Konzerne und den mächtigsten Politikern, die dafür sorgen, dass alles so bleibt, wie es ist: Fast immer ist am Ende ganz oben ein Mann und fast immer ist am Ende ganz unten eine Frau. Noch weiter unten ist nur ein dreijähriger Bub, der jetzt gerade von einem Gummibärchen träumt und davon, dass sich ein auf Papier gezeichnetes Dreirad so wie in den Märchen, welche ihm seine Mutter jeden Abend vor dem Einschlafen erzählt, vielleicht doch noch eines Tages in ein richtiges schönes kleines Dreirad verwandeln könnte.