Damit der Kapitalismus nicht zum Ende der Geschichte wird

Der amerikanische Wirtschafts-Historiker Brad Delong befasst sich in seinem Blog mit der Frage, weshalb so viele Intellektuelle heute noch dem Marxismus nahe stehen. Er kommt zum Schluss, dass diese Leute ihr Wissen zu stark aus Büchern beziehen und es nicht mehr reflektiert an der Realität messen.

(Alois Krieger in einem Leserkommentar zum NZZ-Leitartikel über Kapitalismus und Sozialismus vom 2. Juli 2020)

 

Und immer wieder diese Unterstellung, mit der man den Kapitalismuskritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen versucht: Sie verstünden eben, heisst es da immer wieder ganz unverblümt, nichts von der tatsächlichen Realität der Wirtschaftswelt und würden sich stattdessen in ihrem Glashaus abgeklärten, lebensfernen Denkens in ihren immer gleichen, unbelehrbaren Theorien suhlen. Dabei ist es doch gerade diese gesunde Distanz von der gegenwärtig herrschenden Wirtschaftsordnung – oder müsste man nicht eher von Wirtschaftsunordnung sprechen -, welche die Chance bietet, grundsätzliche Fragen aufzuwerfen und neue, bessere Wege zu beschreiten. Nicht die Kapitalismuskritiker sind blind gegenüber der Lebensrealität, sondern vielmehr all jene, für die der Kapitalismus trotz aller Zerstörungen, die er schon angerichtet hat und – denken wir an die Folgen des Klimawandels – noch anzurichten droht, noch immer die einzige mögliche Art des Wirtschaftens auf diesem Planeten darstellt. So wie die Befürworter dieses Kapitalismus so sehr in ihm und all seinen Widersprüchen gefangen und verstrickt sind, dass sie vor lauter Bäumen den Wald schon längst nicht mehr sehen, so sehr braucht es all jene kritischen Stimmen, die trotz aller Bäume den Wald, das Ganze, all die Widersprüche zu sehen vermögen. Den Kritikern des Kapitalismus Realitätsferne vorzuwerfen, ist allzu billig und lenkt bloss von den eigenen Unzulänglichkeiten ab. Wer den Blick für das Ganze nicht verlieren will, braucht nicht eine möglichst grosse Nähe, sondern einen möglichst grossen, gesunden Abstand zur herrschenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Nur so besteht die Chance, dass der Kapitalismus nicht das Ende der Geschichte ist, sondern eine Epoche, die allmählich zu Ende geht, um etwas Besserem, Vernünftigerem Platz zu machen.