Da würde selbst die 68Jährige noch ein Gewehr packen und an die Front gehen: Wenn Feindbilder auch noch den letzten Rest Verstand rauben…

Selbstverständlich ist jedes ukrainische Kind, das von einer russischen Bombe getötet wird, eines zu viel. Und selbstverständlich gibt es auch für alle anderen Formen von Gewalt, die im Verlaufe eines Krieges verübt werden, egal von welcher der Kriegsparteien, nicht die geringste Rechtfertigung, wie auch nicht für alle anderen Formen von Gewalt, die nicht nur zu Kriegszeiten verübt werden. Aber wenn man sich dann die Empörung westlicher Politiker und Medien über die von russischer Seite im Ukrainekrieg begangenen Gewalttaten vor Augen führt und dieses bis auf die äusserste Spitze getriebene Feindbild in Gestalt des russischen Präsidenten Putin, der nicht selten sogar mit Hitler oder gar mit dem Teufel verglichen wird, dann muss man sich schon fragen: Wo war denn diese Empörung, als US-Präsident Bush im März 2003 den Irak überfiel, aufgrund einer reinen Lügenpropaganda, mit welcher der Welt weisgemacht werden sollte, dass es im Interesse der gesamten Menschheit liege, diesem gefährlichen Diktator Saddam Hussein so schnell wie möglich ein Ende zu bereiten, und so ein Krieg in Gang gesetzt wurde, dem schliesslich über eine halbe Million Menschen zum Opfer fallen sollten. Wo ist die Empörung über das unbeschreibliche Leiden jener Tag für Tag zehntausend Kinder, die weltweit vor ihrem fünften Lebensjahr qualvoll sterben, weil sie nicht genug zu essen haben – als unmittelbare Folge eines Wirtschaftssystems, in dem die Güter nicht dorthin fliessen, wo sie am dringendsten gebraucht werden, sondern dorthin, wo sich damit am meisten Geld verdienen lässt, was eigentlich bedeutet, dass man all die Nutzniesser dieses Geschäfts von den Rohstoff- und Nahrungsmittelkonzernen bis zu jedem einzelnen ihrer Aktionäre und Aktionärinnen mit gutem Recht ebenso an den Pranger stellen müsste wie irgendeinen diktatorischen Machthaber, der sich auf Kosten seines Volks masslos bereichert. Wo ist die Empörung über all jene Politiker und Ökonomen, die blindlings am kapitalistischen Wachstumswahn festhalten und dadurch unmittelbar verantwortlich sind für Klimawandel, Umweltzerstörung und die Vernichtung der Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen. Und wo ist die Empörung über all die unsägliche Gewalt, die täglich von Männern an Frauen verübt wird, mitten in den “freiesten” und “demokratischsten” Ländern der Welt.

Die Empörung, die uns von den Medien in Gestalt von hochgeschaukelten Prototypen wie Strack-Zimmermann, Röttgen, Kiesewetter, Roth, Baerbock, Gabriel, Hofreiter, Pistorius, Cameron, Stoltenberg und all ihren kleineren und grösseren Nachahmungstätern tagtäglich entgegengeschleudert wird, muss daher noch einen anderen Grund haben als bloss ihr ehrliches Mitfühlen mit dem Leiden anderer – sonst müsste sich, wie gesagt, ihre Empörung auch angesichts zahlreicher anderer, mindestens so schlimmer Verbrechen ebenso wutschnaubend manifestieren. Dieser andere Grund ist wohl unverkennbar ein gezieltes Schüren von Hass auf ein ganz bestimmtes und definierbares Feindbild, das sich in diesem Falle – in der Gestalt von Putin – mit einfachsten Mitteln der Propaganda zurechtzimmern lässt und leicht eine Massenwirkung erzeugen kann, indem nämlich die in den meisten Menschen schlummernde Tendenz, für alles Üble und Schlimme einen Hauptschuldigen zu suchen und sich selber, im Gegensatz zu einer Welt des “Bösen”, als Teil der Welt des “Guten” zu fühlen, wirksam angefacht und vervielfacht werden kann. Weil das alleine aber noch nicht genügt und von zu vielen durchschaut werden könnte, wird dann kräftig nachgeholfen, indem man zum Beispiel Begriffe wie “Putler” erfindet, auf den Titelseiten von Hochglanzmagazinen fratzenhaft entstellte Porträts dieses Inbegriffs alles Bösen erscheinen lässt und fast ausschliesslich nur solche Fakten, Aussagen oder Zitate weiterverbreitet, die dem gewünschten Feindbild dienen, alle anderen aber, die es in Frage stellen könnten, entweder verschweigt oder als “Lügen” oder “Propaganda” zu diffamieren versucht. Vielleicht ist es den “Feindbildschürern” nicht einmal bewusst, was sie in letzter Konsequenz damit bewirken. Tatsache aber ist, wie es der Buchautor Thomas Pfitzer so treffend formuliert: “Der Aufbau von Feindbildern ist die wirksamste Methode zur Manipulation der Massen.”

Das höchst Gefährliche am Aufbau von Feindbildern ist, dass sie nach und nach den Verstand zu verdrängen oder gar auszulöschen drohen. Offenbar lösen sie in den tieferen Schichten der Psyche so urgewaltige Reaktionen aus, dass diese immer um einen Tick schneller sind als das vernünftige und logische Denken. Um es an ein paar konkreten Beispielen, die ich im Verlaufe der vergangenen zwei Jahre immer wieder erlebt habe, zu verdeutlichen: Jemand verglich Putin mit Hitler. Dann müsste man aber ehrlicherweise, so meine Gegenfrage, auch all jene US-Präsidenten, die für den Vietnamkrieg, für die verdeckten Militäroperationen und unterirdischen Folterzentren in Zentralamerika mit Zehntausenden Toten oder für den völkerrechtswidrigen Krieg gegen den Irak verantwortlich waren, mit Hitler vergleichen. Noch nie hat jemand dieser Gegenfrage widersprochen, alle haben gesagt: Eigentlich hast du Recht. Schnell haben sie die Denkschlaufe wieder hingekriegt, wären alleine aber offensichtlich nicht darauf gekommen, so tief hatte das Feindbild Putin bereits von ihrem Denken Besitz ergriffen und alles andere ausgelöscht. Ähnliche Reaktionen zeigen sich jeweils bei der Gegenfrage, weshalb man denn konsequenterweise, analog zum Boykott einer russischen Opernsängerin am KKL Luzern, nicht anlässlich völkerrechtswidriger Kriege in früheren Jahren auch eine amerikanische Opernsängerin hätte boykottieren müssen, oder, wenn es um die Osterweiterung der NATO geht und ich die Frage stelle, wie wohl die USA reagieren würden, wenn sich Kanada oder Mexiko einem Militärbündnis mit Russland anschliessen würden. Immer ist die Reaktion: Ja, eigentlich hast du Recht, das habe ich mir noch gar nie überlegt. Ein weiteres Beispiel betrifft einen Zeitungsartikel über das Referat eines in Gaza gebürtigen und heute in der Schweiz lebenden Kinderarztes, den ich kürzlich für die Lokalzeitung geschrieben habe. In seinem Referat hatte er die Attacken der Hamas vom 7. Oktober 2023 mit klaren Worten verurteilt, was ich im betreffenden Artikel auch erwähnte, und zwar gleich an zwei Stellen. Allen Ernstes meldete sich ein Leser dieses Artikel bei mir und teilte mir sein Befremden darüber mit, dass sich der palästinensische Kinderarzt nicht eindeutig von den Hamasattacken distanziert hätte. Als ich ihm vorschlug, den Artikel noch einmal zu lesen, musste er feststellen, dass er die betreffende Stelle offensichtlich schlicht und einfach überlesen hatte, und dies sogar zwei Mal. Hat sich das Feindbild erst einmal festgesetzt, scheint es also sogar die Lese- und Aufnahmefähigkeit zu beeinträchtigen. Ein besonders krasses Beispiel war die Diskussion mit einer 68jährigen Bekannten, die auf meine vorsichtigen Relativierungen des Putin-Feindbildes dermassen enerviert reagierte, dass sie allen Ernstes beteuerte, eigenhändig zum Gewehr zu greifen und an die Front zu gehen, sollte sich Putin getrauen, auch nur einen Schritt in Richtung unserer Grenze zu wagen – Feindbild und Wut im tiefsten Inneren müssen so stark gewesen sein, dass sie ihr auch noch den letzten Rest Verstand geraubt hatten.

Und das hat schon eine ziemlich lange Vorgeschichte. Die Geschichte der “Russophobie”. Die Geschichte, dass alles, was aus dem Osten kommt, des Teufels ist. Als Ronald Reagan die Sowjetunion als das “Reich des Bösen” zu bezeichnen pflegte, ging es vor allem noch um den Kommunismus – das Feindbild war perfekt. Schwieriger wurde es nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und damit dem Verschwinden dieses Feindbilds. Rasch musste ein neues Feindbild her. Vorübergehend sprang der sogenannte islamische Terrorismus in die Lücke. Doch mit dem Ukrainekrieg bot sich die Gelegenheit, das alte Russland-Feindbild neu aufzuwärmen. Nun ist es nicht mehr der “böse” Kommunismus, sondern der “böse” Putin – und die Welt ist wieder in Ordnung. Wie sehr dieser latente Rassismus gegenüber “östlichen” Völkern immer noch wirksam ist, zeigt sich auch darin, wie – gerade auch in der Schweiz – mit Flüchtlingen umgegangen wird: Sind es, wie 1956 in Ungarn, 1968 in der Tschechoslowakei oder 2022 in der Ukraine, Opfer des “bösen” Ostens bzw. Russlands, werden sie mit weit offenen Armen empfangen, landesweit werden eifrigst Kleider und Lebensmittelpakete gesammelt. Sind es hingegen Opfer des eigenen kapitalistischen Macht- und Ausbeutungssystems wie etwa die Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak, Afghanistan oder Nordafrika, dann schmilzt die Grosszügigkeit und Aufnahmebereitschaft schon schnell einmal gegen Null, und dies erst noch trotz einer ungleich viel grösseren Mitschuld an den Ursachen dieser Flüchtlingsbewegungen. Latenter Rassimus gegenüber denen “aus dem Osten” zeigt sich auch besonders drastisch, wiederum nicht zuletzt in der Schweiz, im Umgang mit Migrantinnen und Migranten aus den Balkanländern, die gerne abfällig als “Jugos” bezeichnet werden und bis heute – ganz im Gegensatz etwa zu den Expats aus den USA oder westeuropäischen Ländern – vielfach politischer und wirtschaftlicher Diskriminierung ausgesetzt sind. In noch schärferem Ausmass zeigt sich dieser latente Rassismus etwa auch im Verhalten gegenüber Sinti, Roma und anderen Völkern “aus dem Osten”. Unweigerlich erinnert man sich an den von Hitler geprägten Begriff der “Untermenschen”. Hitler hätte wohl seine helle Freude daran, dass wir sein Gedankengut auch heute noch, 90 Jahre später, nicht aus unseren Köpfen verloren haben…

Zurück zum Feindbild Putin. “Die Entbindung vom Nachdenken”, so die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot, “ist der erste, gefährlichste Schritt in den Totalitarismus.” Und im “Netzwerk der Friedenskooperative” lesen wir: “Der Abbau von Feindbildern ist die unerlässliche Voraussetzung für Frieden. Denn Feindbilder haben die zentrale Funktion, Rüstung und Kriege zu rechtfertigen. Darüber hinaus stabilisieren sie Herrschaftssysteme, da sie von eigenen Problemen und Unzulänglichkeiten ablenken oder deren Ursachen dem vermeintlichen Feind in die Schuhe schieben. Indem der Feind als minderwertig oder gefährlich dargestellt wird, wird automatisch das Selbstbild erhöht. Die Feindbilder können zur Eskalation eines Konflikts führen bis hin zu einem Krieg.”

Es ist die alles entscheidende Frage über Leben oder Tod. Ob die Menschheit auf der Entwicklungsstufe von Rassismus und Feindbilddenken verharren und ihr eigenes Überleben aufs Spiel setzen will. Oder ob wir es schaffen, einen nächsten Entwicklungsschritt zu bewältigen, uns von Rassismus und Feindbilddenken zu befreien, unseren Verstand zu gebrauchen und damit den Weg zu öffnen hin zu einer Welt, in der nicht mehr das Gegeneinander dominiert, sondern das Miteinander, und in der dann in letzter Konsequenz auch alle Waffen und Armeen überflüssig geworden sein werden.