ChatGPT: Ein Schritt zu mehr Demokratie, Kreativität und Selbstbestimmung oder möglicherweise doch eher das Gegenteil davon?

Bittet man ChatGPT einen Artikel über sich selbst zu schreiben, lautet der erste Absatz so: “ChatGPT ist ein bahnbrechendes Sprachmodell, das eine neue Ära der Kommunikation zwischen Menschen und Maschinen einläutet. Dieses Modell hat sich als äusserst effektiv erwiesen, um eine breite Palette von Themen und Anforderungen abzudecken.”

Nun, ich mache die Probe aufs Exempel und will von ChatGPT wissen, wie der Ukrainekrieg entstanden sei. “Der Konflikt”, bekomme ich zur Antwort, “begann im Jahre 2014, als die russische Regierung die Halbinsel Krim annektierte und separatistische Kräfte in der Ostukraine unterstützte.” Also eine eindeutige Schuldzuweisung an die Adresse Russlands und kein Hinweis auf eine mögliche Mitschuld des Westens in Form der NATO-Osterweiterung, des Maidan-Regierungsputschs anfangs 2014, der von ukrainischen Verbänden in der Ostukraine begangenen Menschenrechtsverletzungen und der massiven Diskriminierung der russischsprachigen Bevölkerungsminderheit in der Ukraine. Immerhin räumt ChatGPT ein, dass “im Februar 2015 ein Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet” worden sei, “die Kämpfe zwischen ukrainischen Truppen und den Separatisten aber seither immer mehr zugenommen” hätten. Mit keiner einzigen Silbe wird die Rolle der USA thematisiert, welche die Ukraine ab 2008 zu einer NATO-Mitgliedschaft gedrängt, die ukrainische Armee auf NATO-Standards getrimmt, trainiert und aufgerüstet haben.

Meine zweite Frage lautet: “Was sind die Ursachen des weltweiten Hungers?” Als Antwort werden genannt: Armut, Klimawandel, Kriege, politische Instabilität, Ungleichheit, Diskriminierung, mangelnde Infrastruktur, übermässiger Fleischkonsum in den “entwickelten” Ländern. Abgesehen vom letzten Punkt werden die Ursachen für den Hunger also ausschliesslich in den betroffenen Ländern selber geortet. Dass der Nahrungsmittelüberfluss in den reichen Ländern einen direkten Zusammenhang hat mit der Mangelernährung in den armen Ländern, wird, abgesehen vom Fleischkonsum, mit keinem Wort erwähnt, auch nicht die koloniale Vorgeschichte als Hauptursache der heutigen Ungleichheiten, auch nicht die Rolle der globalen Nahrungsmittelkonzerne und schon gar nicht die Tatsache, dass im Kapitalismus – ein Begriff, den ChatGPT nicht zu kennen scheint – die Güter eben nicht dorthin fliessen, wo sie am dringendsten gebraucht werden, sondern dorthin, wo am meisten Geld vorhanden ist, um sie kaufen zu können.

Meine dritte Frage lautet: “Weshalb gibt es Armut?” Folgende Gründe werden aufgeführt: Mangel an Bildung und beruflichen Möglichkeiten, Mangel an Ressourcen und Infrastruktur, wirtschaftliche Instabilität und Diskriminierung. Tatsächlich aber ist Armut bloss stets die Kehrseite überbordenden Reichtums. Es ist kein Zufall, dass extreme Armut überall dort auftritt, wo auch extremer Reichtum auftritt, die beiden Kehrseiten der gleichen kapitalistischen Münze, so treffend auf den Punkt gebracht in Bertolt Brechts Parabel vom armen Mann, der zum reichen Mann sagt: “Wär ich nicht arm, dann wärst du nicht reich.” Nichts von alledem scheint ChatGPT zu interessieren.

Mein Fazit: Wer sich mit ChatGPT “informieren” will, muss wissen, dass er bestenfalls nur die Hälfte der Wahrheit erfährt. Fatal wäre es, dieses Schreib- und Informationsinstrument zu benutzen im Glauben, damit objektiv und umfassend informiert zu werden. Man könnte es noch krasser formulieren: Tatsächlich handelt es sich bei ChatGPT um nichts anderes als eine Form von Gehirnwäsche, indem herrschendes Mehrheitswissen und -denken zur vermeintlichen “Wahrheit” erhoben wird, gespiesen aus Millionen von anonymen Quellen, von denen am Ende niemand mehr weiss, von wem, von wo und aus welcher Zeit sie stammen, sozusagen eine Buchstabensuppe, die, wie es ein Kritiker von ChatGPT kürzlich treffend sagte, stets immer wieder neu aufgewärmt wird, ohne dass etwas wirklich Neues, Kreatives, Unerwartetes, Überraschendes dabei herauskommt. Wird sich ChatGPT immer weiter ausbreiten, so werden sich auch die Sprache und das Denken all jener, die es benützen, gegenseitig immer näher angleichen und wo eben noch unterschiedlichste Farben leuchteten, wird alles nach und nach in einem gleichförmigen Grau verschwinden. In der Tat, ChatGPT hat in seiner eingangs zitierten Selbstbeschreibung zweifellos recht: Es wird tatsächlich eine “neue Ära der Kommunikation zwischen Mensch und Maschine einläuten.” Die Frage ist nur, ob diese neue Ära neue Formen von Demokratie, Kreativität und Selbstbestimmung hervorbringen wird oder doch möglicherweise eher das Gegenteil davon.