Mattea Meyer und Cédric Wermuth auf dem Weg zum SP-Parteipräsidium: Blumen anstelle von Kapitalismuskritik

Mattea Meyer und Cédric Wermuth, die sich für die Co-Leitung der SP Schweiz bewerben, haben sich in Lausanne einem Hearing von rund 20 Genossinnen und Genossen gestellt. Nachdem im Vorfeld seitens 24 Parteimitglieder Kritik an der linken Ausrichtung von Wermuth und Meyer geäussert worden war, machten die beiden anlässlich dieses Hearings klar, dass die parteiinternen Differenzen längst aus der Welt diskutiert worden seien, wenn sie denn überhaupt je existiert hätten. Die Erinnerung an die von den ehemaligen Jusos vor Jahren ausgerufene Doktrin, der Kapitalismus müsse überwunden werden, mochte anlässlich des Hearings niemand auffrischen. Der Umgang war handzahm. Bevor Cédric Wermuth am Ende selbst eine Rose bekam, verteilte er Blumen ins Publikum.

(Tages-Anzeiger, 4. September 2020)

Schade. Dabei wäre das doch der ideale Zeitpunkt für einen wahrhaft historischen Moment gewesen: Statt es totzuschweigen, hätten Mattea Meyer und Cédric Wermuth ganz im Gegenteil das Postulat einer Überwindung des Kapitalismus ihren Genossinnen und Genossen unverblümt in Erinnerung rufen können. Schliesslich steht diese Forderung ganz offiziell im Programm der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz, demokratisch von einer Mehrheit der Parteimitglieder auf Antrag der Jusos beschlossen, am SP-Parteitag vom Oktober 2010. Mattea Meyer und Cédric Wermuth hätten an diesem Hearing, kurz vor ihrer Wahl ins Parteipräsidium, darlegen können, dass alle noch so gut gemeinten politischen Bemühungen und Vorstösse, sei es im Bereich des Sozialen, der Umwelt oder der Wirtschaft, so lange Flickwerk bleiben müssen, als nicht parallel dazu auch an die tieferen Ursachen sämtlicher Missstände und Fehlentwicklungen herangegangen wird, nämlich an die Grundmechanismen des kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, an die zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich, an das Dogma des unbegrenzten Wachstums in einer begrenzten Welt und an die rücksichtslose Plünderung der Natur und der Rohstoffe, so dass nichts weniger als das Überleben der Menschheit in 50 oder 100 Jahren in Frage gestellt ist. Haben Mattea Meyer und Cédric Wermuth so schnell vergessen, wofür sie ein paar Jahre zuvor noch so vehement gekämpft haben? Was hat sie dazu gebracht, vor jenen Genossinnen und Genossen, die ihnen eine zu “linke Gesinnung” vorwarfen, so schnell zu kuschen? Werden die Visionen, welche die Bewegung der Jungsozialisten und Jungsozialistinnen eben noch so hoffnungsvoll beseelt haben, so schnell auf dem Altar der “Realpolitik” geopfert? Mattea Meyer und Cédric Wermuth werden zweifellos ein hervorragendes Parteileitungsduo bilden. Zu hoffen bleibt nur, dass ihre ursprünglichen Ideale und Visionen nicht auf der Strecke bleiben. Denn, wie schon der bekannte Urwalddoktor Albert Schweitzer sagte: “Im Jugendidealismus erschaut der Mensch die Wahrheit. Mit ihm besitzt er einen Schatz, den er gegen nichts in der Welt austauschen sollte.”