Dritter Teil der Geschichte von Amin, Ela, Baran und Aziz: Schlaflose Nächte und Sterne in dunklen Zeiten…

In den ersten beiden Teilen dieser Geschichte habe ich von meinen Erlebnissen mit Amin, Ela, Baran und Aziz erzählt, mit denen ich seit Juni 2024 mein Haus teile. Die Begegnung mit diesen unbeschreiblich liebenswürdigen und trotz allen schlimmen Erfahrungen immer noch so bewundernswert lebenslustigen Menschen aus Afghanistan hat mein Leben in kürzester Zeit tiefgreifender verändert, als dies je zuvor der Fall gewesen war.

Heute erzähle ich von Halime, der vierundzwanzigjährigen, zwei Jahre jüngeren Schwester von Ela, die auf der Flucht aus ihrer Heimat nach einer sechsjährigen Odyssee schliesslich in einem griechischen Flüchtlingscamp landete. Von dort aus flog sie nach Stockholm, zu ihrem Bruder, der ihr das Flugticket besorgt hatte, um anschliessend zu ihrer Schwester und ihrer Familie in die Schweiz zu kommen. Was für unbeschreibliche Glücksgefühle, als sich Ela und Halime nach sechs Jahren zum ersten Mal in die Arme nehmen konnten und Halime ihre beiden Neffen Baran und Aziz zum allerersten Mal gesehen hat…

Halimes Lebensgeschichte erfahre ich nur bruchstückhaft. Ela und Amin haben mir zwar schon einiges erzählt, aber das Allermeiste weiss ich noch nicht. Halime, das spüre ich von Anfang an, möchte nur wenig darüber erzählen. Eben erst ist sie in ihrem neuen Leben angekommen. Ihr grösster Wunsch besteht wohl darin, ihr ganzes bisheriges Leben so schnell wie möglich zu vergessen. Dementsprechend halte ich mich mit Fragen zurück. Doch das Wenige, was ich schon weiss, genügt für schlaflose Nächte mehr als genug…

Mit 18 Jahren, in einem Alter, da junge Frauen bei uns in Strassencafés sitzen, das Leben geniessen und im Sommer nach Mallorca fliegen, musste sich Halime mit ihren paar wenigen Habseligkeiten auf den Weg machen, um einer Hölle von Armut, Gewalt und ständiger Lebensangst zu entfliehen, egal wohin, einfach weit, weit fort, dorthin, wo ein schöneres Leben auf sie warten würde. Zunächst über die Grenze in den Iran…

Wie lange sie im Iran war, wie sie dort überlebte, das alles weiss ich nicht. Ich weiss nur, dass sie eines Tages versuchte, über die Grenze in die Türkei zu gelangen. Was sie dabei erlebte, auch das entzieht sich momentan noch meiner Kenntnis. Nicht einmal ihrer Schwester und ihrem Schwager gelingt es, ihr mehr als ein paar wenige Worte abzuringen. Und so gehe ich wieder ins Internet, um die noch offenen Lücken in Halimes Odyssee zu füllen…

Human Rights Watch, 18. November 2022: “Die Türkei drängt routinemässig Zehntausende Afghanen an ihrer Landgrenze zum Iran zurück oder schiebt sie direkt nach Afghanistan ab, ohne ihre Ansprüche auf internationalen Schutz zu prüfen. Nähern sich Flüchtlinge der türkischen Grenze, schiessen die Grenzbehörden häufig in ihre Richtung oder direkt auf sie, insbesondere dann, wenn sie die Grenze zu überqueren versuchen. Oft werden die Flüchtlinge mit Schlagstöcken und Eisenstangen geschlagen. Wer es trotzdem schafft, in die Türkei zu gelangen, muss von Glück reden, einen Antrag auf internationalen Schutz stellen zu können, denn alle Städte, in denen bereits ein Fünftel der Bevölkerung ausländischer Herkunft sind, nehmen keine Anträge auf eine Aufenthaltsgenehmigung an.”

Irgendwie, ich weiss es noch nicht genau, schaffte sie es, in die Türkei zu kommen. Dort lebte sie vier Jahre lang, “illegal”, in beständiger Angst, von der Polizei aufgegriffen und wieder ausgeschafft zu werden. Den Lebensunterhalt verdiente sie sich als Kosmetikerin, vier Jahre lang täglich zwölf Stunden mit einer Mittagspause von 20 Minuten, keine Ferien und so wenig Lohn, dass sie damit nur knapp überleben konnte. Mit dem ersten Geld, das sie sich erspart hatte, kaufte sie sich auf einem Jahrmarkt einen Fingerring mit einem kleinen blauen Plastikstein, den sie immer noch trägt. Es war für sie das Grösste, wie auch der kleine Pinsel, mit dem sie sich ihr erstes Makeup auftrug. Das Türkische beherrschte sie bald schon so perfekt, dass die meisten Menschen sie nicht für eine Fremde hielten, was für sie überlebenswichtig war.

Türkische Feriendestinationen sind bei Touristinnen und Touristen aus dem Westen nicht zuletzt deshalb so begehrt, weil dank der ausbeuterischen Löhne für Hotel- und Restaurantangestellte, Masseusen und Kosmetikerinnen höchst attraktive Angebote locken. So etwa ist im Ferienkatalog des österreichischen Reisebüros “Schönheitsreisen – Beauty am Meer” zu lesen: “Wir spezialisieren uns auf Schönheitsreisen nach Antalya zu äusserst attraktiven Preisen. Wir kümmern uns um den gesamten Ablauf Ihrer Behandlung und Reise. Entscheiden Sie sich für einen Reisezeitraum und überlassen Sie uns den Rest! So können Sie Ihren Aufenthalt stressfrei geniessen. Und Sie sparen erst noch bis zu 70% der Kosten für eine vergleichbare Behandlung im deutschsprachigen Raum.”

Vier Jahre lang machte Halime mit ihrer Arbeit unzählige Menschen, die genug Geld hatten, um sich diesen Luxus leisten zu können, schön und glücklich, schenkte ihnen ein neues Lebensgefühl. Ihre Reise aber, die Reise in der umgekehrten Richtung, war alles andere als eine stressfreie Schönheitsreise. Als die Sehnsucht nach der Schweiz, wo sie sich ein besseres Leben erhoffte, immer stärker geworden war, schloss sich Halime einer Gruppe von Flüchtlingen an, die sich aufmachten, um nach Griechenland zu entfliehen. 16 Mal versuchte sie es, auf unterschiedlichsten Wegen, oft durch dichtestes Gestrüpp, manchmal auch durch Bäche oder Flüsse watend, so schnell und weit als möglich fort rennend, wenn sie Schüsse oder das Schreien von anderen Flüchtlingen hörte, die von den griechischen Grenzwächtern zurückgeprügelt wurden. Die Nächte verbrachte sie irgendwo im Wald, auf dem nackten Boden schlafend, wo sie sich einigermassen sicher fühlte. 16 Mal war auch sie bei denen, die es nicht schafften. Schon beim ersten Mal waren ihr sämtliche der wenigen Habseligkeiten, die sie noch besessen hatte, abgenommen worden, alle Kleider und das ganze Geld, das sie während der vier Jahre mit der Arbeit als Kosmetikerin in der Türkei verdient hatte. Doch sie gab nicht auf. Und beim siebzehnten Mal gelang es ihr, die Grenze an einer unüberwachten Stelle zu passieren und unbemerkt so weit ins Landesinnere zu gelangen, dass sie, als sie kurz darauf von Polizisten aufgegriffen wurde, nicht mehr über die Grenze zurückgeschickt wurde und in einem Flüchtlingscamp landete.

Aus der “Frankfurter Rundschau” vom 19. Juni 2023: “Immer häufiger werden an der griechisch-türkischen Grenze sogenannte Pushbacks durch kriminelle Gruppen durchgeführt. Schutzsuchende werden von griechischen Sicherheitskräften festgenommen und dann an bewaffnete Männer übergeben. Diese bringen die Betroffenen dann meistens an den Grenzfluss Evros und schicken sie mit einem Schlauchboot zurück auf die türkische Seite. Zuvor werden den Männern und Frauen sämtliche Wertgegenstände und Mobiltelefone weggenommen. Den Geflüchteten wird das Recht auf Schutz verwehrt, auch einen Antrag auf Asyl dürfen die Menschen nicht stellen. Betroffene berichten auch immer wieder von Gewalt durch die maskierten Männer. Nicht selten werden Frauen vergewaltigt.”

Drei Monate lang verbrachte Halime in diesem Flüchtlingscamp in der Nähe von Athen. Auch von dieser Zeit weiss ich erst wenig und lese im Internet nach…

“Meist sind es leere Container”, berichtete die “Deutsche Welle” am 3. Februar 2023, “manchmal gibt es nicht einmal Matratzen. Die Essenszuteilung erfolgt nach willkürlichen Vorgaben des Aufsichtspersonals, je nach Menge der vorhandenen Lebensmittel und der Zahl der Schutzsuchenden, die von Tag zu Tag erheblich schwanken kann. Wer Pech hat und nicht auf der jeweiligen Tagesliste aufgeführt ist, bekommt die Reste, wenn alle anderen im Camp ihr Essen bereits bekommen haben. Meist sind die Mahlzeiten kaum geniessbar. Am schlimmsten aber ist die ständige Unsicherheit und das oft wochenlange Warten auf den Asylentscheid. Da die Türkei mittlerweile durch die EU als sicheres Herkunftsland eingestuft wurde, ist die Gefahr gross, wieder dorthin zurückgeschafft zu werden.”

Zu ihrer grossen Erleichterung wurde nach dem Ablauf der drei Monate ihrem Antrag auf Asyl in Griechenland zugestimmt, die zermürbende Ungewissheit hatte ein Ende. Mit viel Glück, da Ausweiskontrollen am Athener Flughafen nur stichprobenweise erfolgen, konnte sie nach Stockholm fliegen und sich dort bei ihrem Bruder während vier Wochen von den jahrelangen Strapazen ein klein wenig erholen. Dann zog es sie in die Schweiz, zu ihrer Schwester Ela und ihrem Schwager Amin, die sie vor sechs Jahren zum letzten Mal gesehen hatte, und zu ihren Neffen Baran und Aziz, die sie überhaupt noch nie gesehen hatte.

4. September, Mittwoch. Was für Glücksgefühle! Halime schäkert mit den beiden Buben, küsst sie auf die Ohren und auf die Nasen, drückt sie immer wieder ganz fest an sich, und immer wieder lacht sie mit Ela und Amin aus vollem Herzen, jedes Mal, wenn Amin, der Witzbold, wieder etwas Lustiges gesagt hat, wovon ich natürlich kein einziges Wort verstehe, aber es muss schon sehr, sehr lustig sein, denn auch die beiden Buben kugeln sich immer wieder vor Lachen. Was für eine Lebenskraft muss in dieser jungen Frau stecken, die während mindestens acht Jahren – über ihre Kindheit weiss ich ja erst recht noch rein gar nichts – so viel Schreckliches erlebt hat, so viele schlaflose Nächte vor Angst, so viele Verletzungen in ihrem Körper und in ihrer Seele, so viele Tage, an denen sie kaum etwas zu essen hatte, und alles andere, was noch so viel schlimmer gewesen sein muss, dass sie jetzt nicht einmal ihrer Schwester etwas davon erzählen möchte. Was für eine Lebenskraft dies allem zum Trotz, dass sie jetzt so herzhaft lachen und so liebevoll mit den beiden Buben umgehen kann, als hätte sie die glücklichste Kindheit gehabt, die man sich nur vorstellen kann.

5. September, Donnerstag. Nach dem glücklichen Wiedersehen nach so vielen Jahren hat uns auf einen Schlag die Realität knallhart wieder zu Boden geworfen. Denn Halime kann ja höchstwahrscheinlich nicht einfach hier in der Schweiz bei ihren Familienangehörigen bleiben, was verständlicherweise ihr allergrösster Traum wäre. “Dublin-Abkommen”, zischt wie ein greller Blitz durch meine Gedanken. Ein Wort, das so harmlos klingt. Aber konkret bedeutet es, dass Asylsuchende in dem Land bleiben müssen, in dem sie zum ersten Mal einen Schutzstatus bzw. eine Aufenthaltsbewilligung bekommen haben. Beantragen sie in einem anderen Land Asyl, wird aufgrund ihrer Fingerabdrücke mithilfe eines gesamteuropäischen Computersystems in Sekundenschnelle festgestellt, ob sie nicht schon in einem anderen Land einen positiven Asylentscheid haben. Wenn ja, können sie entweder freiwillig dorthin gehen oder werden dorthin ausgeschafft…

Griechenland ist, wie alle wissen, die sich nur einigermassen im europäischen Asylwesen auskennen, das mit Abstand berüchtigste Land. Jegliche finanzielle Unterstützung für Flüchtlinge endet im Moment der Statusgewährung automatisch. 30 Tage nach der Anerkennung des Schutzstatus verlieren die Betroffenen auch ihren bisherigen Unterbringungsplatz, wenn sie denn überhaupt einen hatten. Anschlusslösungen gibt es nicht. Die Schutzberechtigten müssen sich ohne staatliche Hilfe auf dem freien Wohnungsmarkt selber zurechtfinden. Erst wenn sie eine Wohnung haben, erhalten sie eine Sozialversicherungsnummer, welche sie zum Bezug einer knappstens bemessenen Überlebenshilfe berechtigt. Auch bei der Arbeitssuche sind sie voll und ganz auf sich selber gestellt. Und Zugang zur Gesundheitsversorgung erhalten sie ebenfalls erst nach dem Vorlegen zahlreicher Dokumente, über welche die meisten gar nicht verfügen. Aufgrund aller dieser kaum überwindbaren Hürden sind unzählige Flüchtlinge, auch wenn sie über einen offiziellen Schutzstatus verfügen, obdachlos, werden zu Opfern von Menschenhändlern oder landen in der Prostitution.

In der folgenden Nacht kann ich nicht schlafen. Unentwegt sehe ich Halime vor mir, wie sie am Flughafen von Athen ankommt, ohne Geld, mit einem kleinen Koffer und ihren paar wenigen Habseligkeiten, ohne die geringsten Kenntnisse der Landessprache, ohne auch nur einen einzigen Menschen, der ihr hilft. Ich sehe sie schon irgendwo in einer dunklen Strassenecke liegen, todmüde, hungrig, frierend, und wie ein bulliger Mann auf sie zukommt, sie packt, in sein Auto zerrt und später einem anderen bulligen Mann vor die Füsse wirft, der diese wunderschöne junge Frau, diese Blume mitten in der Nacht, zerreissen und in kurzer Zeit zu einem Wrack machen wird. Mir ist, als würde mir das Herz aus dem Leibe gerissen. Einen Moment lang denke ich, wenn ich jetzt nur sterben könnte, um dieses Bild nicht ertragen zu müssen.

Auch in den folgenden Tagen beschäftigt mich Halimes Schicksal so tief, dass ich mich kaum mehr auf die alltäglichen Dinge konzentrieren kann. Ich vergesse den Geburtstag eines lieben Freundes. Es klingelt an der Tür und da steht eine Bekannte, mit der ich abgemacht, es aber komplett vergessen hatte. Ich verwechsle die Wochentage. Plötzlich sehe ich eine Zeitung, die ich vor drei Tagen irgendwo hingelegt und noch gar nicht gelesen habe. Am Billettautomat löse ich ein Ticket, bezahle es, aber im Zug, als die Billettkontrolle kommt und ich mein Portemonnaie öffne, ist es leer – mein Ticket liegt wahrscheinlich jetzt noch in diesem Automaten…

7. September, Samstag. Heute ist Aziz zwei Jahre alt. Sie haben mir gesagt, ich solle oben im Büro warten, sie rufen mich dann, wenn es so weit ist. Und als ich dann kurz darauf gerufen werde und das Wohnzimmer betrete, verschlägt es mir fast den Atem. Meine Frau und ich hatten ja auch, als unsere eigenen Kinder noch klein waren, an Geburtstagen jeweils das Wohnzimmer festlich dekoriert. Aber so etwas habe ich noch nie gesehen. Die ganze Decke hängt voller Ballone, die Fenster sind mit Silberfäden behangen, mitten im Raum ragt ein über einen Meter hoher goldener Ballon in Form einer Zwei in die Höhe, auf dem Tisch glitzert Flitter und mehrere Schüsseln sind mit vielen kleinen, selber gebackenen Küchlein gefüllt. Und mittendrin Halime, in einem langen Festkleid voller Blumenmuster, das sie sich wahrscheinlich von Ela geliehen hat. Und wieder dieses wundervolle Lachen, das alles durchdringt und bis ganz tief in die Seele geht. Sie scheint diese wunderbare Gabe zu besitzen, wie ein Kind voll und ganz nur im Augenblick zu leben und alles, aber auch alles auszublenden, was vorher gewesen ist und was nachher sein wird. Ja, vielleicht ist sie ja noch immer dieses Kind ihrer allerersten Lebenszeit, weil ja alles andere, alles, was später kam, gar kein wirkliches Leben war oder nichts von dem, was man sich normalerweise darunter vorstellt.

Die nächste Nacht ist fast noch schlimmer. Jetzt sehe ich sie nicht nur an einem Strassenrand als Opfer eines Menschenhändlers irgendwo inmitten von Athen. Jetzt sehe ich sie gleichzeitig als ein vollkommenes, an Schönheit nicht zu übertreffendes Geschenk des Himmels. Sie könnte hier, bei uns, zusammen mit ihren Liebsten, ein Leben führen wie im Paradies. Und gleichzeitig könnte sie von einem stockbesoffenen Freier im Hinterhof einer griechischen Kneipe halb zu Tode geprügelt werden und wäre mitten in der Hölle.

8. September, Sonntag. Das Wochenende war die reinste Tortur, weil wir untätig warten mussten. Manchmal lacht Halime in ihrer vollkommenen inneren und äusseren Schönheit durch das ganze Haus. Dann aber wieder sitzt sie irgendwo vor einem offenen Fenster und starrt mit tieftraurigem Blick ins Leere hinaus. Was wohl in diesen Augenblicken in ihr vorgeht? Das Beste an diesem Tag ist noch, dass ein plötzlicher heftiger Südwind das Plakat mit dem Bunkermann auf der anderen Seite der Strasse weggerissen und weit fort geblasen hat.

9. September, Montag. Endlich. Ich erreiche telefonisch die Auskunftsstelle des HEKS, Hilfswerk der Evangelischen Kirchen der Schweiz. Und innerhalb weniger Minuten fällt mir wohl der schwerste Stein vom Herzen, der jemals dort gelegen hatte. Als alleinstehende Frau, die schon in jungen Jahren so viel Gewalt erfahren musste und eine so unvorstellbare Leidensgeschichte hinter sich hat, ist die Chance gross, dass Halime, trotz des griechischen Schutzstatus, in der Schweiz eine F-Bewilligung für eine befristete Aufenthaltsbewilligung bekommen kann, die sich später in eine definitive Aufenthaltsbewilligung umwandeln lässt. Nach dem Telefonat muss ich minutenlang weinen vor Glück.

Als ich ihr die gute Nachricht überbringe, kann sie es im ersten Moment gar nicht glauben. Noch sieht sie wahrscheinlich in solchen Momenten, wenn sie alles immer wieder einholt, nur lauter riesige, schwarze Wände rund um sich. Wahrscheinlich genügt dann nur schon der winzigste Rest von Zweifel, um nicht allzu viel Hoffnung aufkommen zu lassen, die sich dann ohnehin wieder als reine Illusion entpuppen könnte. Mir wird bewusst, wie zerbrechlich diese Blume noch ist und wie viele gute Erlebnisse und Erfahrungen es noch brauchen wird, damit der Boden unter ihren Füssen allmählich wieder fester werden kann. Denn mindestens 18 Jahre lang zwischen der Kindheit und dem Ankommen im Erwachsenenalter, welches die schönste Zeit des Lebens hätte sein können, hat sie nur eines erfahren: Dass sie nicht willkommen ist, nicht im Hause ihres Mannes, nicht in dem Land, wo sie geboren wurde, nicht im Iran, nicht in der Türkei, nicht in Griechenland und nicht einmal in der Schweiz, wo jetzt wieder an allen Ecken und Enden diese Plakate hängen und aus allen Rohren gegen alles geschossen wird, was mit “Ausländischem” oder “Fremdem” zu tun hat. Das Einzige, was sie bis jetzt gehört hat: Geh fort, wir brauchen dich nicht, wir wollen dich nicht, für dich gibt es keinen Platz in dieser Welt.

15. September, Sonntag. Über Nacht ist es bitterkalt geworden, laut Wetterbericht der grösste Temperatursturz seit 30 Jahren. Heute werden wir eine Vorstellung in dem kleinen Zirkus besuchen, der wie durch einen glücklichen Zufall diese Woche in unserer Stadt gastiert. Auf dem Weg dorthin fällt mir auf, dass Halime trotz der Kälte nur ein dünnes Jäckchen trägt. Eine Winterjacke hat sie nicht. Wir werden so schnell wie möglich etwas besorgen müssen…

Und dann, der magische Moment, in dem Amin, Ela, Halime und die beiden Buben das Zirkuszelt betreten. Es ist das allererste Mal in ihrem Leben, dass sie einen Zirkus besuchen und in eine Welt eintauchen werden, von der sie bisher höchstens so viel mitbekommen haben wie von irgendeinem Märchen aus tausend und einer Nacht. Als wir in der Loge sitzen und es zuerst ganz dunkel wird, bis die Musik beginnt, von allen Seiten Scheinwerfer aufleuchten und die erste Akrobatin in ihrem Glitzerkleid die Manege betritt, beginnen für mich zwei Stunden, die ich ganz gewiss in meinem ganzen Leben nie mehr vergessen werde, so schön ist es, die Freude, die Begeisterung, das Lachen und die weit offenen, staunenden und strahlenden Augen von fünf Menschen mitzuerleben, die zum ersten Mal in ihrem Leben in einem richtigen Zirkus sind. Wenn jetzt eine Fee käme und ich könnte mir drei Dinge wünschen, dann würde ich mir drei Mal genau das Gleiche wünschen: Dass alles Geld, welches heute noch für Kreuzfahrtschiffe, Opernhäuser, Luxushotels, Weltraumraketen oder, noch viel, viel schlimmer, für Raketen, Bomben und Kampfflugzeuge verschleudert wird, dafür verwendet wird, dass es in jedem Land auf der Welt so viele und so schöne Zirkusse gibt, dass ein jedes Kind mit seinen Eltern, egal ob in Norwegen, Äthiopien, Neuseeland, Bangladesch oder Mexiko, das erleben dürfte, was Amin, Ela, Halime, Baran und Aziz an diesem Sonntagmorgen in unserer kleinen Stadt in dem kleinen Zirkuszelt erleben durften.

Morgen werden Ela und ich Halime ins Aufnahmezentrum für Asylsuchende begleiten. Zaco aus Pristina, der selber einmal ein Flüchtlingskind war und heute im Asylwesen tätig ist, hat uns noch ein paar wertvolle Tipps mit auf den Weg gegeben: Halime müsse offen über alles reden, was sie erlebt hat und auch vor Unangenehmem nicht zurückschrecken, denn genau das sei oft das Problem, dass sich Frauen für das schämen, was ihnen angetan wurde, lieber darüber schweigen und dann so in den Befragungen nicht die ganze Tragik ihrer Lebensgeschichte sichtbar wird. Weiters sollten wir unbedingt darauf drängen, dass in der Befragung durch Hilfswerke und Migrationsamt sowie vor allem beim Übersetzen vom Persischen ins Deutsche ausschliesslich Frauen diese Aufgaben wahrnehmen. Dies alles könnte entscheidend sein für einen positiven Asylentscheid. Die Verbindung zu Zaco hat mir Medina verschafft, eine langjährige gute Freundin, selber mit Migrationshintergrund, die mir schon von Beginn an, als Amin zum ersten Mal mein Haus betrat und Ela und die Kinder noch im Iran auf ihre Ausreisepapiere warteten, ihre bedingungslose Unterstützung angeboten hatte. Was für Sterne in so dunklen Zeiten.

Ein Bekannter meinte, das wäre ja alles gut und recht. Aber ob ich nicht auch schon daran gedacht hätte, dass Amin, Ela, Baran, Aziz und Halime ja nicht die Einzigen sind mit einer solchen Lebensgeschichte und man ja eigentlich allen helfen müsste und nicht nur ein paar wenigen “Glückspilzen”. Natürlich weiss ich das. Natürlich weiss ich, dass es weltweit Millionen von Amins und Halimes gibt, auf die jetzt gerade an irgendeiner Grenze Bluthunde gehetzt werden und denen tausendfach um die Ohren gebrüllt wird, dass sie nicht willkommen sind, weder hier noch dort noch anderswo. Aber das kann doch nicht Anlass dafür sein, dass ich mich nicht jetzt gerade mit aller Zeit und Energie, die mir zur Verfügung stehen, dafür einsetzen werde, dass Halime in der Schweiz bleiben kann, inmitten von Menschen, die sie gernhaben, und ihr Leben nicht in irgendeinem griechischen Strassengraben viel, viel zu früh enden muss.

Denn, wie es die deutsche Historikerin und Autorin Dagmar Fohl so wunderschön gesagt hat: “Wer ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt.”

Wenn du wissen möchtest, wie diese Geschichte angefangen hat und wie sie weitergeht, dann schreibe doch bitte eine Email mit dem Stichwort “Afghanistan” an: info@petersutter.ch. Dann bekommst du die bisherigen und die zukünftig erscheinenden Artikel und Infos.

Beispiellose Hexenjagd gegen eine unbequeme junge Frau, die niemandem etwas zuleide getan hat: 40’000 Menschenleben darf man zerstören, ein Papierbild nicht…

Wenn Sanija Ameti, Co-Präsidentin der schweizerischen Operation “Libero”, mit ihrer Sportpistole gezielt auf ein Bild von Maria und Josef geschossen hätte, wäre das zugegebenermassen eine ziemlich derbe Geschmacklosigkeit gewesen. Aber wahrscheinlich war es ja nicht einmal das, sondern ganz einfach ein dummes Mischgeschick, ein zufällig aus einem Kunstkatalog herausgerissenes Bild. Und selbst wenn sie es bewusst gemacht hätte: Dumm und unüberlegt, aber sie hat damit keinem einzigen Menschen etwas zuleide getan. Wenn Anna Wanner im “Tagblatt” vom 10. Dezember 2024 schreibt: “Und jetzt die Schüsse auf Jesus”, so ist das eine fahrlässige Verzerrung der Realität. Sie hat nicht auf Jesus geschossen, sondern auf ein Bild von Jesus. Und das ist doch ein wesentlicher oder sogar der entscheidende Unterschied. Zudem hat sie sich für diesen Fehler sofort entschuldigt und sogar dem Bischof von Chur einen Brief geschrieben, er möge ihr verzeihen. Auch ist sie alles andere als eine fanatische Religionsanhängerin, sondern, ganz im Gegenteil, eine bekennende Atheistin und hat sich auch noch nie zu Religionsfragen öffentlich geäussert. “Eigentlich”, so die “Republik” am 11. September, “hat sie alles richtig gemacht. Wann hat das letzte Mal jemand in der Schweizer Politik so schnell, so bedingungslos und ohne jegliche Relativierung einen Fehler zugegeben? In dieser Hinsicht verdient sie nicht Ausschluss und Häme, sondern Respekt und Grossmut.”

Dennoch waren die Reaktionen erbarmungslos. Innerhalb eines Tages verlor Sanija Ameti ihren Job als Co-Chefin der Operation “Libero” und ihre Stelle bei der PR-Agentur Farner, musste aus der kantonalen Parteileitung austreten und sieht sich jetzt mit einem Ausschlussverfahren ihrer Mutterpartei, der GLP, konfrontiert.

Aber noch viel schlimmer ist die Welle des Hasses, die über sie hereinbrach: Innerhalb kürzester Zeit erhielt sie auf ihrem Post über 3000 fast ausschliesslich negative, vielfach islamophobe Kommentare. Die Junge SVP verglich sie mit einer “islamischen Terroristin” und reichte gegen sie eine Strafanzeige wegen “Störung der Glaubens- und Kultusfreiheit” ein. Ex-SVP-Nationalrat Christoph Mörgeli versuchte ebenfalls einen Zusammenhang zu konstruieren zwischen Sanija Ameti und islamistischen Anschlägen. Nicolas Rimoldi bezeichnete sie als “feindliche Agentin”, die “böswillig unsere Heimat zersetzen” wolle, und als “fremde Invasorin”, die “deportiert werden” müsse. Die “Junge Tat” schrieb: “Raus mit diesem Albanerweib!”. Und die “NZZ”: “Eine Grünliberale, die als schiessfreudige Muslimin die Gefühle von Christen beleidigt, ist das Letzte, was die GLP benötigen kann.” Sogar der Vizechef der deutschen Afd-Jugendorganisation mischte sich ein und fand, Ameti habe “weder bei uns noch in der Schweiz etwas verloren”. Ein rechtsgerichtetes österreichisches Onlinemagazin verbreitete die Lüge, Ameti habe in ihrem Post geschrieben: “Tötet Maria und Josef!”. Und der russische Propagandasender RT veröffentlichte einen Kommentar, in dem Ameti eine “Kugel in den Kopf” gewünscht wird. “Es erinnert”, so Peter Blunschi auf “Watson”, “an eine mittelalterliche Hexenjagd. Es ist unerträglich, dass man sie als moderne Hexe auf dem virtuellen Scheiterhaufen verbrennt. Immerhin bittet sie um Vergebung, was doch guter christlicher Tradition entspricht.” Und der Kommunikationsexperte David Schaerer lässt im “Tagesanzeiger” vom 11. September verlauten, er habe”noch nie erlebt, dass jemand öffentlich so fertiggemacht, so vernichtet wurde.”

Umso verwerflicher und scheinheiliger ist das alles, wenn man bedenkt, dass ausgerechnet die SVP, welche hier wieder einmal an vorderster Front Feindbilder schürt und mit total verzerrten Schuldzuweisungen um sich wirft, genau jene politische Kraft ist, die sich in diesen Tagen im Nationalrat mit der Forderung durchgesetzt hat, dass die Schweiz dem palästinensischen Hilfswerk UNRWA zukünftig kein Geld mehr zur Verfügung stellen soll, und dies, obwohl sämtliche Länder der Welt ausser den USA aufgrund eines Expertenberichts, der die Vorwürfe der israelischen Regierung gegenüber der UNRWA weitgehend als unbegründet befunden hat, ihre Zahlungen an die UNRWA inzwischen wieder aufgenommen haben, selbst Deutschland, das sich noch am längsten um einen Entscheid gedrückt hatte. Sie alle wissen nur zu gut, dass sich ohne diese Zahlungen an die UNRWA schon in naher Zukunft eine humanitäre Katastrophe ungeahnten Ausmasses anzubahnen droht. “Die Lage im Gazastreifen”, so der Zürcher SP-Gemeinderat Severin Meier, der mittels eines Postulats an den Stadtrat die Auszahlung von UNRWA-Geldern durch die Stadt Zürich erwirken möchte, “ist verheerend: 81 Prozent der Haushalte haben keinen Zugang zu sauberem Wasser, 1,1 Millionen Menschen haben ihre Essensvorräte aufgebraucht, eine Hungersnot steht kurz bevor.” Nicolas Walder, grüner Aussenpolitiker, gibt zu bedenken, dass im Gazastreifen keine andere Organisation vorhanden ist, welche die Aufgaben der UNRWA übernehmen könnte: “Die UNRWA bleibt die tragende Säule der humanitären Hilfe in Gaza. Fällt die UNRWA weg, würde dies zu einem Zusammenbruch des gesamten humanitären Systems in Gaza führen.” Und Philippe Lazzarini, Schweizer Diplomat und seit mehreren Jahren Chef der UNRWA, erklärte bereits am 28. März 2024 in einem Interview mit der “Wochenzeitung”: “Was wir heute in Gaza beschreiben müssen, ist eine drohende Hungersnot, die absolut unfassbar ist. Mehr als eine Million Menschen befinden sich in einer katastrophalen, akuten Hungersituation. Wo bleibt die Weltempörung? Es ist, als ob wir der Tragödie, die sich vor unseren Augen abspielt, fast völlig unbeteiligt zusehen würden. Die Hungersnot könnte zwar noch abgewendet werden. Doch dazu müssten wir den Gazastreifen mit Nahrungsmitteln überschwemmen. Als ich letzte Woche nach Gaza einreisen wollte, wurde ich von den israelischen Behörden ohne jegliche Begründung daran gehindert. Die Anschuldigungen gegen die UNRWA-Mitarbeitenden haben sich bis heute nicht bewahrheitet. Es läuft eine unabhängige Untersuchung zu diesem Vorwurf, aber bislang haben weder Israel noch andere Staaten Beweise vorgelegt – obwohl sie dazu aufgerufen wurden. Ich bin überrascht, wie sehr Anschuldigungen und Behauptungen für bare Münze genommen werden.” Doch die Nachricht von der endgültigen Sperrung des Schweizer Beitrags an die UNRWA mitsamt all ihren verheerenden Folgen ging im Getöse des Vernichtungsfeldzugs gegen Sanija Ameti komplett unter. Würde man hundert Schweizerinnen und Schweizer befragen, ob sie diese Nachricht mitbekommen hätten, gäbe es vermutlich nur ein paar vereinzelte, welche diese Frage bejahen würden.

Besonders brisant ist, dass die SVP als treibende Kraft für die Blockierung des Schweizer Beitrags an die UNRWA sich nicht zu schade war, ihre gesamte Argumentation im Nationalrat auf einen einzigen, von einem Genfer Büro aus agierenden kanadischen Anwalt abzustützen, nämlich Hilel Neuer, der seit Jahren alles daran setzt, sein Publikum auf eine Zerschlagung der UNRWA einzuschwören. Der SVP gelang es auf diese Weise, dieser einzelnen Stimme mehr Gewicht zu verleihen als dem langjährigen Leiter der UNRWA, sämtlichen Vertreterinnen und Vertretern schweizerischer Hilfswerke und Menschenrechtsorganisationen sowie einer von 45’000 Schweizerinnen und Schweizer unterzeichneten Petition, welche die Weiterführung der Zahlungen an die UNRWA forderte. Ausgerechnet für die SVP, welche sich sonst stets mit lautestem Geschrei gegen jegliche Einmischung von aussen wehrt, scheint also die Stimme eines einzelnen kanadischen Anwalts ausschlaggebender zu sein als die Stimmen des Schweizer UNRWA-Chefs, zahlloser Schweizer Hilfswerke und weiterer Organisationen sowie den Stimmen von 45’000 Bürgerinnen und Bürger ihres eigenen Landes. Noch viel brisanter und noch viel unglaublicher und erschreckender aber ist, dass sich genügend weitere Parlamentarierinnen und Parlamentarier anderer bürgerlicher Parteien vor diesen Karren spannen liessen und die Schweiz nun somit, abgesehen von den USA, das einzige Land der Welt ist, das sich für eine vorauszusehende humanitäre Katastrophe mit Hunderttausenden, wenn nicht Millionen von Opfern verantwortlich erklären muss. Das Land, das einmal als Hort der Menschenrechte, der Humanität und der Friedensförderung galt und in der gegenwärtig auch noch das Letzte kaputt zu gehen droht, was an diese Zeit erinnert. “Eines der reichsten Länder der Welt”, schreibt die “Wochenzeitung” am 12. September, “ist nicht bereit, auch nur einen Rappen an eine international anerkannte und als unverzichtbar beschriebene Organisation zu spenden, um das Leiden der palästinensischen Zivilbevölkerung wenigstens rudimentär zu mildern.”

In totalem Gegensatz zur Schiessübung von Sanija Ameti wurden im Gazastreifen seit dem vergangenen Oktober nicht etwa Papierbilder zerstört, sondern das reale Leben von über 40’000 Kindern, Frauen und Männern, von denen höchstwahrscheinlich weit über 99 Prozent nicht das Geringste mit dem Terroranschlag der Hamas vom 7. Oktober 2023 zu tun hatten, weitere rund 100’000 wurden verletzt und eine Vielzahl von Spitälern, Schulen, Universitäten, Bibliotheken und Museen wurden dem Erdboden gleichgemacht, ohne dass dies bei jenen politischen Kräften, die nun am heftigsten über Sanija Ameti herfallen, auch nur eine annähernd so grosse Empörung ausgelöst hätte. Und nicht einmal die Tatsache, dass nun infolge der Sperrung des UNRWA-Beitrags weitere Abertausende Unschuldige von baldigem Hungertod betroffen sein könnten, erregt auch nur ansatzweise so viel Empörung, nicht einmal bei all denen, die sich ganz und gar nicht als Anhängerinnen oder Anhänger der SVP oder der anderen, ins gleiche Horn blasenden bürgerlichen Politikerinnen und Politiker verstehen. Fazit: Menschen darf man zerstören, Papierbilder nicht.

Zerstört wird hingegen jetzt auch das Leben einer jungen, unangepassten, vielleicht manchmal etwas aufmüpfigen Frau, die immerhin viel frischen Wind in die oft allzu starre und festgefahrene Schweizer Politlandschaft gebracht hatte und keinem Menschen je irgendeinen Schaden zugefügt hat. Während die israelische Regierung unter Präsident Netanyahu ihr Tötungswerk ungehindert und in aller Ruhe weiterführen kann und die mächtigsten Politiker des Westens dies sogar mit einem nicht mehr zu überbietenden Zynismus damit rechtfertigen, dass es hierbei um die Verteidigung westlicher Werte wie Menschenrechte, Meinungsfreiheit oder Demokratie gehe. In was für einer verrückten Zeit leben wir eigentlich und um noch wie viel verrückter ist, dass wir diese Verrücktheit offensichtlich nicht einmal mehr als solche wahrzunehmen vermögen?

Abstimmung über die Pensionskassenreform: Scheingefechte, um von der eigentlichen Grundsatzfrage abzulenken…

“Knapp einen Monat vor der Abstimmung über die Pensionskassenreform”, schreibt der “Tagesanzeiger” am 28. August 2024, “streiten sich Befürworter und Gegner über die Auswirkungen der Vorlage.” Das Ja-Komitee verkaufe die Reform als Gewinn, insbesondere für Geringverdienende und Frauen. Die Linke widerspreche dieser Behauptung: Aus ihrer Sicht wären bei einem Ja mehr Menschen von Rentenverlusten betroffen, als von den Befürwortern berechnet worden sei. Die Stimmbevölkerung werde mit “realitätsfernen” und “beschönigenden” Zahlen in die Irre geführt, so Daniel Lampart, Chefökonom des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes SGB. Gemäss eigenen Berechnungen führe die Senkung des Umwandlungssatzes bereits für Löhne über 4000 Franken zu sinkenden BVG-Renten. Zudem treffe entgegen anderslautenden Behauptungen die Reform auch die Pensionierten selber, denn bei einer Annahme der Vorlage müssten viele Rentnerinnen und Rentner noch länger auf den Teuerungsausgleich warten. Auch seien die Kosten für die Kompensationsmassnahmen vom Bund zu tief geschätzt worden, in den 11,3 Milliarden Franken seien beispielsweise die administrativen Kosten für die Umsetzung der Reform ausgeklammert worden. Indessen wolle der Bund zu diesen Fragen vorläufig keine Stellung nehmen. Das Bundesamt für Statistik (BFS) gäbe lediglich zu bedenken, dass es bei der beruflichen Vorsorge “schwierig” oder gar “unmöglich” sei, für die Gesamtheit der Versicherten oder der Versicherungsträger gültige Aussagen zu erhalten, denn das ganze System bestehe aus gegen 1400 Einrichtungen, von denen jede anders sei, eine andere Versicherungsstruktur habe, eine andere Rechtsform, andere Versicherungspläne anbiete, andere angeschlossene Arbeitgeber mit unterschiedlicher Lohnstruktur habe und so weiter.

Doch eigentlich sind das alles Scheingefechte. Sie lenken bloss von der Tatsache ab, dass das schweizerische System der Altersvorsorge von Anfang an eine immense Fehlkonstruktion war und ist. Denken wir uns einmal alles Bestehende weg, dieses ganze komplizierte, intransparente und von so vielen Unwägbarkeiten abhängige Gebilde aus einer ersten, zweiten und dritten Säule mit seinem gewaltigen administrativen Aufwand und all den gegenseitig um möglichst grossen materiellen Nutzen ringenden Playern, dann würden wir am Ende nämlich bei einer ganz simplen Frage angekommen sein: Was sollte das eigentliche Ziel und der eigentliche Sinn einer Altersvorsorge sein?

Dieses Ziel und dieser Sinn müssten doch darin liegen, allen Menschen in diesem Land einen Lebensabend in Würde und materieller Sicherheit zu gewährleisten – so banal dies klingen mag, doch es gibt nichts Wesentliches hinzuzufügen. So einfach es ist, so einfach wäre auch die Lösung: Eine Volkspension, welche diesen Namen tatsächlich verdient. Dann bräuchte es weder eine zweite noch eine dritte Säule, alles Überflüssige an Administration würde wegfallen, es gäbe keinerlei Nutzniesser mehr, die sich auf Kosten anderer bereichern, und buchstäblich jeder Franken, der in diese Volkspension hineinfliessen würde, käme auf der anderen Seite wieder heraus als ein Franken, mit dem sich alle Menschen auch nach ihrer Pensionierung ein möglichst gutes Leben leisten können. Mehr braucht es nicht. Aber auch nicht weniger.

So wie jedes Haus ein Fundament braucht und jeder Baum Wurzeln, ohne die er nicht in die Höhe wachsen könnte, so brauchen auch gesellschaftliche Institutionen, ja letztlich ein ganzes Staatswesen wie auch das gesamte Wirtschaftssystem so etwas wie eine geistige Grundlage, auf der erst alles Einzelne aufbauen kann. Dabei geht es in allererster Linie um das Menschenbild, um die Frage, ob der Mensch von Natur aus “schlecht” oder “gut” ist, “faul” oder “fleissig”, “egoistisch” oder “sozial”. Dominiert in gesellschaftspolitischen Diskussionen nach wie vor eher ein negatives Menschenbild mit allen daraus resultierenden Folgen für die Gesetzgebung, so setzt sich im Gegensatz dazu, auch in der wissenschaftlichen Forschung, immer mehr die Erkenntnis durch, dass der Mensch von Natur aus ein “gutes”, “mitfühlendes”, “soziales”, nicht nur auf das eigene Wohl bedachtes Wesen ist. Der beste Beweis dafür ist die Art und Weise, wie sich die Kinder in ihren ersten Lebensjahren verhalten und miteinander umgehen. Machtstreben, Konkurrenzkampf, übertriebener Egoismus und Missgunst bilden sich erst nach und nach im Kontakt mit den Normen der kapitalistischen Wertewelt.

Wir können davon ausgehen, dass jeder Mensch willens und bestrebt ist, im Verlaufe seines Lebens das Beste zu geben und seine eigenen, individuellen Begabungen bestmöglich zum Nutzen der gesamten Gesellschaft zu verwirklichen. Doch die äusseren Bedingungen, unter denen dies geschieht, sind höchst unterschiedlich. Je nach sozialer Herkunft, Geschlecht, Sprachkenntnissen, Zugang zu Informationen, persönlichen Beziehungen und vielem mehr klettern die einen leicht und rasch auf der beruflichen und materiellen Karriereleiter in die Höhe, während sich den anderen immer wieder nahezu unüberwindbare Hindernisse in den Weg stellen. Viele haben Glück, viele andere haben Pech. Lebenskrisen, Scheidungen, Burnouts, Unfälle und schwere Krankheiten können selbst die perfektesten Lebenspläne von einem auf den anderen Tag vollständig über den Haufen werfen. Je nach beruflicher Tätigkeit klaffen die Löhne der Gut- und der Schlechtverdienenden bis zum Hundertfachen oder noch weiter auseinander. Frauen leisten häusliche und familiäre Schwerarbeit als grundlegende Basis für das Funktionieren von Gesellschaft und Wirtschaft, ohne einen Rappen Lohn zu bekommen, Manager kassieren schon mehrere tausend Franken, wenn sie nur an irgendeinem Meeting eine Stunde lang auf einem Stuhl sitzen, ohne auch nur eine minimale produktive Arbeit zu leisten.

Man könnte das auch mit einer Reise übers Meer vergleichen. Schon am Land, beim Start, waren die Spiesse höchst ungleich lang. Und erst recht auf der Fahrt selber: Die einen bekommen schon von Anfang an einen Platz auf einem grossen, stark gebauten Passagierdampfer, andere profitieren in eleganten Segelbooten von günstigem Wind und wieder andere müssen sich in winzigen, zerbrechlichen Booten bis zur Erschöpfung durch haushohe Sturmwellen kämpfen. Eines Tages werden sie alle am anderen Ende des Meers an Land gehen, die einen noch fast so frisch und gesund wie bei der Abreise, andere grau und alt geworden und voller Schmerzen in kaputtgearbeiteten Körpern oder mit einem von viel zu viel Stress verbrauchten Herzen, das nur noch kurze Zeit schlagen wird. Sie alle haben 40 oder 50 Jahre lang, die weitaus längste Zeit ihres Lebens, ihr Bestes gegeben, manche vom Glück beflügelt, andere vom Pech verfolgt. Sie haben gegeben, was sie geben konnten, und sie alle haben Aufgaben bewältigt, ohne welche auch alle anderen Aufgaben nicht hätten bewältigt werden können, denn was wäre der Chirurg ohne die Spitalangestellte, die den Operationssaal bis auf den letzten Millimeter sterilisiert, was wäre der Chef einer Grossbäckerei ohne die Arbeiterinnen und Arbeiter, die schon mitten in der Nacht an den Fliessbändern stehen, was wären die Aktionärinnen und Aktionäre eines Immobilienkonzerns ohne die Bauarbeiter, welche bei Wind und Wetter, bei grösster Kälte und in grösster Hitze in schwindelerregender Höhe all die Häuser errichten, aus denen später wieder das Geld in die Taschen jener fliessen wird, die sowieso schon längst viel zu viel davon haben, und was wäre der gutbezahlte IT-Spezialist ohne seine Frau, die jahrelang den Haushalt besorgte und die Kinder aufzog, ohne dafür Geld zu bekommen, und die jetzt, nachdem er sich von ihr scheiden liess, mit einem kargen Lohn als Verkäuferin irgendwie zurecht kommen muss. Jetzt, wo sie alle das Ziel erreicht haben, wäre doch allerspätestens der Zeitpunkt gekommen, da alle, die von der Arbeit anderer profitiert haben, diesen unendlich dankbar sein müssten. Jetzt wäre doch allerspätestens der Zeitpunkt gekommen, all das, was gemeinsam erarbeitet, erwirtschaftet und an Reichtum aufgeschichtet wurde, in einen grossen gemeinsamen Topf zu werfen und gleichmässig unter alle zu verteilen.

Aber nein. Genau das Gegenteil. Ausgerechnet die, welche schon vor der Abreise benachteiligt waren und auf der Fahrt selber erst recht, werden jetzt noch einmal, zum letzten Mal, zur Seite geschoben und müssen mit einer Altersrente zurecht kommen, die nicht einmal oder höchstens nur ganz knapp zum Allernötigsten reicht. Und ausgerechnet die, welche schon vor der Abreise und erst recht auf der Fahrt selber am meisten Glück hatten, können sich jetzt, dank des aufgehäuften Geldes in der zweiten und dritten Säule, jeglichen Luxus leisten, im Kreuzfahrtschiff rund um die Welt reisen, in jedem beliebigen Luxusrestaurant speisen und in jedem noch so teuren Hotel nächtigen. Dass es schon vor der Abreise und auf der Fahrt keine Gerechtigkeit gab, ist bitter genug. Aber dass auch noch der Lebensabend, die letzte verbliebene Zeit vor dem endgültigen Abschiednehmen, nichts anderes ist als die Fortführung aller bereits erlittenen Ungerechtigkeiten, ist nun wirklich das Alleräusserste an Menschenfeindlichkeit. Denn es müsste nicht sein, es liesse sich vermeiden.

Es wäre so logisch, so gerecht und zugleich so einfach: Eine durch Steuern finanzierte Volkspension, die sich für alle auf den genau gleichen Betrag beläuft, gänzlich unabhängig davon, auf welche Weise sie die Reise übers Meer bewältigt hatten, wie viele oder wie wenige Hindernisse sie überwinden mussten und ob sie ihre Arbeit an einem Computer, an einer Supermarktkasse oder in den städtischen Abwasserschächten erledigt hatten. Wenn etwas noch logischer und folgerichtiger wäre als eine Einheitsrente, dann wäre es höchstens eine in der Weise abgestufte Rente, dass jene, die am härtesten arbeiten mussten und am wenigstens verdienen, nun eigentlich, sozusagen als Belohnung oder Wiedergutmachung, eine höhere Rente bekommen müssten als andere.

Nur schon die dadurch bewirkte immense Reduktion all jener unzähligen Gelder, die heute für die Aufrechterhaltung eines immer komplizierten und aufwendigeren Rentensystems verschwendet werden, wäre schon ein schlagendes Argument dafür, würde man doch gleichzeitig mit der Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit immense Kosten einsparen. Zukunftsmusik, ich weiss. Aber hie und da sollte man auch wieder mal den Mut haben, gross zu denken, damit wenigstens wieder ein ganz klein bisschen mehr Menschlichkeit möglich werden kann und man sich nicht bloss in solchen Scheindiskussionen verliert, wie sie nun im Vorfeld zur Abstimmung über eine Pensionskassenreform stattfindet, von der niemand ganz genau sagen kann, wie viel oder wie wenig sie tatsächlich bringen würde.

Zweiter Teil der Geschichte von Amin, Ela, Baran und Aziz: Spaghetti im Spielzeugauto, eine dunkelrote Rose und ein Festmahl um zwei Uhr nachts…

In den drei Monaten, seit ich mit Amin, Ela und ihren beiden Buben Baran und Aziz aus Afghanistan zusammenlebe, ist viel geschehen, und fast täglich kommt etwas Neues dazu. Gestern hat sich der viereinhalbjährige Baran den Kopf an einer Bettkante angeschlagen. Der zweijährige Aziz, der für sein älteres Brüderchen alles täte, hat mit seiner Hand, so fest er konnte, auf das Bett geschlagen, um es sozusagen dafür zu bestrafen, dass es Baran weh getan hatte. Dann drückte er seinem Brüderchen zum Trost einen Kuss auf die Wange. Heute haben Baran und Aziz ganz von sich aus die ganze Geschirrspülmaschine ausgeräumt, Baran packte auch schon mal vier Teller zusammen nur mit der einen Hand und ich befürchtete schon einen Scherbenhaufen, doch nichts passierte. Aziz holt immer wieder die Bürste aus dem Putzschrank und fegt damit den Küchenboden. Auch den Staubsauger wollte er holen und am liebsten hätte er wohl das ganze Haus gesaugt, aber der war für ihn einfach noch viel zu schwer. Wunderbar und fast immer friedlich auch, wie die beiden Buben miteinander spielen. Kürzlich haben sie zwei Kissen nebeneinander hingelegt und sich darauf gesetzt, zwischen ihnen ein Bilderbuch, das sie zusammen angeschaut haben. Und ihre Eltern, Amin und Ela: Selten habe ich Eltern gesehen, die so liebevoll, geduldig und verständnisvoll mit ihren Kindern umgehen. Nie fällt ein böses Wort, nie eine barsche Zurechtweisung. Die beiden Buben können die verrücktesten Dinge anstellen, die Spaghetti, statt sie zu essen, in ein Spielzeugauto stopfen, einen Legostein in ein Glas Milch eintauchen, die Papierserviette in tausend klitzekleine Fetzchen zerreissen und sie überallhin verteilen – Amin und Ela finden das mindestens so lustig wie die Kinder und lachen stets mit ihnen mit.

Und dann ist da noch Karim, Elas Onkel, der seit 20 Jahren in München lebt, ein Mensch voller Weisheit, Lebenserfahrung und Humor. Kürzlich war er bei uns auf Besuch. Seit 20 Jahren – Ela war vier Jahre alt, als Karim Afghanistan verliess – hat sie ihn zum ersten Mal wieder gesehen. Mit dabei waren seine beiden Söhne und zwei Schwägerinnen. Um Mitternacht kamen sie an und etwa um zwei Uhr begannen wir zu essen, all die Köstlichkeiten, die Ela etwa drei Stunden lang zuvor gekocht hatte. Vor, während und nach dem Essen wurde geplaudert, gescherzt und gelacht in einer Fülle, wie ich sie in meinem Haus noch nie zuvor erlebt hatte, und das von Menschen, die alle ihre Heimat und zahllose Verwandte und Freunde verloren und auch am eigenen Leib Dinge erlebt haben, die wir uns Schweizerinnen und Schweizer nicht im Entferntesten vorstellen können.

Und auch Milad, Amins Kollege. Über ein Jahr hat er gebraucht, um von Afghanistan in die Schweiz zu kommen, fast alles zu Fuss, war unterwegs zwei Mal im Gefängnis und schleppte auf seinem grossen, starken Rücken einen total erschöpften Mann bei Schneesturm und Eiseskälte über einen 4000 Meter hohen Pass, einen Mann, der ohne Milad heute höchstwahrscheinlich nicht mehr leben würde. Auch Milad wohnt in meiner Stadt und kommt gelegentlich auf Besuch. Ich habe ihm geholfen, einen Job und eine neue Wohnung zu finden und habe ihm ein Fahrrad, das ich nicht mehr brauche, geschenkt. Kürzlich habe ich ihn gesehen, wie er voller Stolz, als wäre er der König von Kabul, durch die Stadt segelte. Seine Dankbarkeit ist grenzenlos. Immer wieder schickt er mir Whatsapps mit dem Symbol der gefalteten Hände und schreibt “Danka” – was für ein schönes Wort, es tönt für mich so ein bisschen wie eine Mischung aus Deutsch und seiner Muttersprache, dem Persischen. Als wir zusammen eine zur Miete angebotene Wohnung anschauen gingen, brachte er mir zum Dank eine Rose. Eine einzelne tiefrote, fast schwarze Rose, aber sie bedeutete mir mehr als der grösste Blumenstrauss, den ich je bekommen habe.

Wenn ich mir dann aber das Bild vor Augen führe, welches einen “typischen” Afghanen in den Köpfen der meisten Menschen hierzulande, in fast allen Medien und auf den Plakaten der grössten politischen Partei der Schweiz verkörpert, dann ist das nie ein liebevoller Vater, der mit seinen Kindern auf dem Boden herumkriecht, nie eine Frau, die singt, tanzt und lacht, und schon gar nie ein Kind, das ein anderes liebevoll küsst. Dieser “typische” Afghane ist fast immer nur ein junger Mann mit einem Messer im Sack, stets darauf aus, anderen etwas zuleide zu tun, ihnen etwas zu klauen, sie zu verletzen oder gar zu töten. Dieses Emporstilisieren einer kleinen Minderheit und deren Instrumentalisierung zu machtpolitischen Profilierungszwecken ist nicht nur eine unerhörte Missachtung jeglicher Objektivität, sondern zugleich eine masslose Beleidigung all jener weitaus viel zahlreicheren Afghaninnen und Afghanen, die, wie Amin, Ela, Baran, Aziz, Karim und Milad, friedlich, respektvoll und dankbar hierzulande leben, aber von den massgeblichen Meinungsmachern so behandelt werden, als gäbe es sie gar nicht. Wie tief muss es so lebenslustige Frauen wie Ela, so liebevolle Väter wie Amin, so mutige und hilfsbereite Männer wie Milad, so weise und fürsorgliche ältere Männer wie Karim und so unglaublich sanfte und liebevolle Kinder wie Baran und Aziz treffen, wenn sie wahrnehmen, dass überall dort, wo man über Menschen aus Afghanistan spricht und sich über sie ein Bild macht, sie selber gar nie vorkommen, sondern immer nur ein paar wenige “Bösewichte” oder allenfalls noch eine vollverschleierte, in Schwarz gekleidete Frau, die mit 99 Prozent der hierzulande lebenden Afghaninnen auch nicht das Geringste zu tun hat.

Rund 20’000 Afghaninnen und Afghanen leben in der Schweiz. Von diesen 20’000 haben im ersten Halbjahr 2023 – gemäss einer laufend auf der Homepage der SVP veröffentlichten Statistik – ganze zwölf eine Straftat begangen, meistens handelte es sich dabei um Schlägereien zwischen Jugendlichen, zudem gab es zwei Messerattacken, Telefonbetrügereien, einen Mordversuch und einen Mord. Keine dieser Straftaten soll verharmlost oder entschuldigt werden, aber wer nur immer wieder mit solchen Schlagzeilen konfrontiert wird, läuft unweigerlich Gefahr, zu vergessen bzw. auszublenden, dass während diesen sechs Monaten nicht nur zwölf in der Schweiz lebende Afghanen eine Straftat begangen haben, sondern gleichzeitig 19’988 andere Afghaninnen und Afghanen keine einzige Straftat begangen haben. Wohin in letzter Konsequenz eine so einseitige, manipulative Berichterstattung führt, sehen wir in Deutschland, wo bei einem höchstwahrscheinlich ähnlichen Prozentsatz an Straftaten die CDU als wählerstärkste Partei aus populistischen und wahltaktischen Gründen vor rund drei Wochen nicht einmal davor zurückschreckte, einen allgemeinen Aufnahmestopp für Flüchtlinge aus Afghanistan zu fordern.

Kommt dazu, dass sowohl in Deutschland und der Schweiz wie auch in den anderen europäischen Ländern genau in der gleichen Bevölkerungsgruppe, die bei Asylsuchenden besonders stark vertreten ist, ebenfalls die Straftaten und Gewaltdelikte weit über dem Gesamtdurchschnitt liegen, also bei häufig arbeitslosen, armutsgefährdeten Männern mit geringer Schulbildung zwischen 18 und 30 Jahren, wobei bei Flüchtlingen erschwerend dazukommt, dass viele von ihnen bereits selber Gewalt erfahren haben oder durch Verfolgung und Krieg traumatisiert sind, dennoch aber sich in ihrer neuen Lebensumgebung nicht heimisch und nicht willkommen fühlen und auch viel weniger Chancen und Zukunftsperspektiven haben im Vergleich mit der ansässigen Bevölkerung. All das kann erhöhte Gewaltbereitschaft erklären, ohne dass man sie deshalb rechtfertigen muss. Entscheidend ist jedoch, sich immer wieder in Erinnerung zu rufen, dass Delinquenz grundsätzlich nichts zu tun hat mit der ethnischen Herkunft oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nationalität oder Religion. Unter ähnlichen äusseren Bedingungen würden sich ganz ähnliche Lebensgeschichten entwickeln, ganz unabhängig davon, ob es sich um Menschen aus der Schweiz, Afghanistan, Mexiko oder Marokko handelt. Das Gegenteil zu behaupten, ist nichts anderes als purer Rassismus.

Stünden Gewaltbereitschaft oder andere sozial “unerwünschte” Verhaltensweisen bzw. “Mentalitäten” tatsächlich in einem Zusammenhang mit der ethnischen Herkunft, dann wären Baran und Aziz, meine beiden afghanischen Gastkinder – und ich kann mir nicht vorstellen, dass sie zufälligerweise nur zwei seltene Ausnahmen sind -, nicht so wunderbare Menschen, ebenso wie auch alle anderen Kinder der Welt. Nein, die Gewalt steckt nicht in ihnen, die kommt erst später dazu. Ob ein Kind dereinst als Erwachsener ein Terrorist, ein Mörder oder ein Bankdirektor sein wird, hat nichts mit dem Kind selber und seiner Herkunft zu tun, sondern nur mit der Umgebung und mit den Lebensverhältnissen, in denen es aufwächst.

Aziz, der übermorgen seinen zweiten Geburtstag feiert, nennt mich “Abuda”, ein Wort, das er selber erfunden hat, aber so schön klingt, dass man sich eigentlich nur wundern kann, dass es nicht in irgendeiner Sprache schon längst erfunden wurde. Betrete ich das Haus, höre ich ihn schon “Abuda” rufen und er springt so schnell die Treppe herunter, dass es mir jedes Mal Angst und Bange wird, er könnte stolpern und über die Stufen hinunterpurzeln. Er lacht mir mit seinen wunderbaren, leuchtenden Augen entgegen, und nimmt mich meistens bei der Hand, um mich irgendwohin zu ziehen, wo ich dann mit ihm spielen soll. Als ich kürzlich zwei Tage fort war, fragte er, wie Amin und Ela mir nachher erzählten, unablässig nach “Abuda” und jedes Mal, wenn er von der Strasse her eine Stimme hörte, rief er sogleich “Abuda?”. Wenn er ein Brötchen, ein Stück Kuchen oder eine Banane isst, bricht er immer ein winziges Stück davon ab und gibt es mir, ganz so, wie man einen kleinen hungrigen Vogel füttert. Als Ela seinem älteren Bruder eines Abends nach dem Essen liebevoll übers Haar strich, wünschte er sich das ebenso von seiner Mama. Dann bat er sie, auch Amin übers Haar zu streichen. Kaum hatte sie das getan, zeigte er auf mich: Auch Abuda! Diesen Wunsch allerdings konnte ihm nun Ela wirklich nicht erfüllen. Doch in diesem Augenblick dachte ich: Eigentlich ist es ja gar nicht so, dass ich bloss Amin, Ela, Baran und Aziz in die Familie meiner Kinder und Enkelkinder und in mein Haus aufgenommen habe. Eigentlich ist es ja gleichzeitig auch so, dass sie mich in ihre Familie aufgenommen haben und der Kleinste von ihnen dabei so etwas ist wie ein kleiner Brückenbauer, der sich am eifrigsten darum bemüht. Sodass wir uns eigentlich gegenseitig aufgenommen haben und daraus etwas Neues und Grösseres entstanden ist.

Und je länger ich darüber nachdenke, umso mehr wird mir bewusst, was für eine wunderbare Chance das wäre und was für kaum vorstellbare Auswirkungen es hätte, wenn wir überall auf der Welt die Kinder nicht mehr länger daran hindern würden, solche Brücken zwischen den Menschen zu bauen. Lassen wir Erwachsene uns doch alle und überall von den Kindern an die Hand nehmen, schauen wir uns gegenseitig in die Augen um zu sehen, was uns im tiefsten Inneren über alle Grenzen hinweg miteinander verbindet. Lassen wir uns von “Andersartigem”, “Fremdem” nicht mehr länger abschrecken, sondern berühren und verzaubern. Erzählen wir die vielen guten und schönen Geschichten weiter statt die wenigen schlechten und hässlichen, denn Schlechtes kann man nicht mit Schlechtem zum Verschwinden bringen, sondern nur mit Gutem. Brechen wir, so wie der zweijährige Aziz, von allen unseren Brötchen und Kuchenstücken ein bisschen ab und geben es weiter. Tragen wir Sorge, damit die Rose, die ich von Milad an jenem Samstagnachmittag in St. Gallen bekommen habe, nie mehr verblüht und lassen wir viele weitere Millionen Blumen wachsen überall dort, wo zuvor der Hass, die Gewalt, die fehlende Menschenliebe und der Krieg gewesen waren…

Wenn du wissen möchtest, wie diese Geschichte angefangen hat und wie sie weitergeht, dann schreibe doch bitte eine Email mit dem Stichwort “Afghanistan” an: info@petersutter.ch. Dann bekommst du die bisherigen und die zukünftig erscheinenden Artikel.

“Grossfamilien” mit 15 bis 20 Menschen als neues Zukunftsmodell: Damit niemand mehr durch die Maschen fällt…

Die 55jährige Karin hat infolge einer schweren Krankheit und einer nachfolgenden psychischen Krise vor fünf Jahren ihren Job verloren. Sämtliche Versuche, wieder einen Job zu finden, sind gescheitert. Jetzt lebt sie in einer kleinen Mietwohnung am Rande der Stadt. Ausser zu ihrer älteren Schwester, mit der sie sich allerdings schon vor vielen Jahren heillos zerstritten hat, hat sie mit niemandem Kontakt. Ihr einziger treuer Begleiter ist der Alkohol, er spielt in ihrem Leben eine immer dominantere Rolle. Unlängst war sie dermassen betrunken, dass sie zu Boden fiel und nicht mehr aufstehen konnte, sie schaffte es gerade noch, den Notfalldienst zu alarmieren, lag dann zwei Tage und Nächte im Spital, bis sie sich wieder einigermassen auf den Beinen zu halten vermochte. Jeden Morgen denkt sie, dass es eigentlich schöner gewesen wäre, nicht mehr aufzuwachen.

Monika und Heinz sind in der vollen Mitte des Lebens angelangt, da, wo es am turbulentesten ist und die Belastungskurve ihren höchsten Punkt erreicht. Er arbeitet zu hundert Prozent als Rayonchef in einem Warenhaus und schiebt fast jede Woche mindestens fünf Überstunden, sie hat einen 40-Prozent-Job als Zahnarztassistentin. Drei Kinder haben sie: Tom ist drei Jahre alt, Britta sechs und Christa zehn. Jeder Tag ist von früh bis spät auf die Sekunde durchgetaktet, nicht nur für die Eltern, auch für die Kinder, die rund um die Uhr unterwegs sind, von zuhause in die Kita, von der Kita in den Kindergarten oder in die Schule, von der Schule zum Mittagstisch, vom Mittagstisch zur Hausaufgabenhilfe, von der Hausaufgabenhilfe in die Klavierstunde, von der Klavierstunde zur Nachbarin, welche die Kinder betreut, bis die Eltern wieder zuhause sind, um das Essen zu kochen und die Kinder ins Bett zu bringen. Alles andere, Einkaufen, Arztbesuche, Ferienplanung, Abarbeiten von E-Mails, Einzahlungen, Putzen, Gartenarbeiten, Telefonate mit Freunden und Verwandten, Geburtstagspartys, Einladungen, alles muss irgendwo in die kleinen verbliebenen Lücken hineingepresst werden. Ohne dass sowohl Monika wie auch Heinz je ein eigenes Auto hätten, wäre die Bewältigung dieses täglichen Mammutprogramms unvorstellbar. Am Abend wird oft gestritten, die ältere Tochter meint, das käme sicher von dem vielen Stress. Seit drei Monaten wollten Monika und Heinz wenigstens ein einziges Mal an einem Abend gemütlich miteinander auswärts essen gehen, sie haben es nicht geschafft.

Conchita, die gebürtige Mexikanerin, ist vor vierzig Jahren in die Schweiz gekommen, Ruedi folgend, der sich auf einer Südamerikareise unsterblich in sie verliebt hatte. Sie ist mit Leib und Seele eine Familienfrau, Kochen ist ihre grösste Leidenschaft, Singen und Tanzen, Plaudern und Lachen, Partys feiern und einfach das Leben geniessen – sie könnte die glücklichste Frau der Welt sein. Doch seit die Kinder aus dem Haus sind und Ruedi fast immer geschäftlich unterwegs ist, sitzt sie so oft nur noch weinend am Küchentisch und schiebt die eine oder andere angefangene Näharbeit, das eine oder andere begonnene Kreuzworträtsel, den einen oder anderen angefangenen Brief an ihre Schwester nur noch lustlos hin und her. Fast jeden Tag fragt sie sich, wo die Sonne in ihrem Herzen, die früher so stark gebrannt hatte, wohl untergegangen sein könnte.

Amir aus Afghanistan ist vierzehn Jahre alt, seine Eltern leben nicht mehr, von seinen beiden Brüdern hat sich jede Spur verloren. Jetzt liegt er auf einer Matratze im Büro einer früheren Fabrikhalle, die notdürftig in ein Durchgangsheim für unbegleitete jugendliche Asylsuchende umgebaut wurde, zusammen mit 50 anderen Jugendlichen, viele von ihnen ebenfalls aus Afghanistan, andere aus Syrien oder Eritrea. Computerspiele, in denen sich grüne, schwarze und gelbe Männchen gegenseitig abschiessen, sind zurzeit sozusagen sein einziger Lebensinhalt. Ein etwas älterer Junge, der aus der gleichen Gegend stammt wie er, hat ihm erzählt, dass junge heimatlose Menschen wie sie hier, im Land ihrer Träume, von vielen Menschen ganz und gar nicht erwünscht seien und es sogar nicht wenige gäbe, denen es am liebsten wäre, sie wären gar nicht da.

Die 36jährige Andrea kümmert sich seit ihrer Scheidung vor einem halben Jahr alleine um ihren dreieinhalbjährigen Sohn Leon und um den Haushalt. Um über die Runden zu kommen, hat sie zwei Jobs angenommen, einen bei einer Steuerbehörde, den anderen als Hauswartin, dennoch reicht das Geld nur für das Allernotwendigste. Ohne ihre Eltern, die bei der Betreuung ihres Kindes einspringen, würde sie es nicht schaffen. Die pausenlose Mehrfachbelastung setzt ihr dermassen zu, dass ihr schon beim Aufwachen am Morgen schlecht ist und sie jeden Tag nur darauf wartet, bis wieder Abend ist und sie sich ins Bett legen kann. Am meisten leidet sie darunter, dass Leon so oft weint, weil sie so wenig Zeit mit ihm verbringen kann.

Anna, in einem kleinen sizilianischen Bergdorf aufgewachsen und mit ihrem Mann Roberto im Alter von 24 Jahren in die Schweiz gekommen, ist seit einem schweren Verkehrsunfall, bei dem sie im Alter von 54 Jahren auf einem Fussgängerstreifen von einem Lastwagen überfahren wurde und nur mit einer Riesenportion Glück überlebte, zu hundert Prozent pflegebedürftig. Die inneren Verletzungen waren so schwer, dass Anna heute nur noch im Bett liegen kann und rund um die Uhr betreut werden muss. Ein kompliziertes, extra für sie entwickeltes Gerät überwacht pausenlos ihre Körperfunktionen, mindestens einmal pro Stunde muss überprüft werden, ob alles in Ordnung ist. Glücklicherweise haben Anna und Roberto eine so grosse Verwandtschaft, dass man genug Geld zusammenbrachte, damit sich Roberto, der als Maurer gearbeitet hatte, frühzeitig konnte pensionieren lassen. Er wurde zum Vollzeitpfleger. Denn Anna hätte sich niemals vorstellen können, das geliebte Haus zu verlassen und in einem Pflegeheim zu leben. Dieser Wunsch seiner Frau war Roberto heilig. Und so kann er nun sein Haus, wenn er nicht das Leben seiner Frau gefährden will, allerhöchstens für eine Stunde verlassen, und das seit Jahren. Mit Freunden am Abend in einer Kneipe ein Bier trinken, einen kleinen Ausflug übers Wochenende, Boccia spielen oder ins Kino gehen – alles nur noch Erinnerungen an frühere, längst vergangene Zeiten…

Edith und Herbert, sie Lehrerin an einer Oberstufe, er Berufsschullehrer, stecken schon seit einem halben Jahr in einer ganz dicken Ehekrise. Kaum eine Mahlzeit ohne gegenseitige Sticheleien, Vorwürfe und Streit. Erst recht schlimm geworden ist alles, seit sich Amanda, ihre 16jährige Tochter, völlig zurückgezogen und abgekapselt hat. Alles Zureden nützt nichts, Amanda schliesst sich Tag und Nacht in ihr Zimmer ein, verlässt es fast nie und lässt ihre Musik so laut durch alle Wände dröhnen, dass es ihren Eltern auch noch den letzten Nerv ausreisst. Sämtliche Kontakte mit ihren früheren Freundinnen hat sie abgebrochen, nach einem sehr belasteten letzten Schuljahr mit vielen Absenzen weist sie alles, was mit Zukunftsplanung und der Bewerbung für eine Lehrstelle oder eine weiterführende Schule zu tun hat, weit von sich. Seit Wochen trägt sie nur noch schwarze Kleider und hat schon mehrere Kilos abgenommen. Selbst dem Vorschlag ihrer Mutter, sich an eine Beratungsstelle zu wenden, verweigert sie sich mit Haut und Haaren. Edith und Herbert schieben einander die Schuld in die Schuhe und werfen sich gegenseitig vor, sich schon seit Jahren viel zu wenig um Amanda gekümmert zu haben.

Schliesslich ist da noch, wie ihn seine Enkelkinder nennen, der 75jährige Opa Wuzz. Ein Büchernarr, Philosoph und Schreiberling. Seit seine Frau gestorben ist, die Familie seines Sohnes in Deutschland lebt und die Familie seiner Tochter nach Australien ausgewandert ist, ist es recht einsam geworden um ihn. Manchmal, wenn er abends sein Tagebuch hervornimmt und seine Gedanken aufschreibt, tropft eine Träne auf seine alte, verwackelte Schrift und in der Erinnerung fliegt er in die Zeit zurück, als seine Frau noch lebte und seine Kinder mit ihr und ihm auf dem Jahrmarkt Zuckerwatte schleckten, er am Kindergeburtstag seine legendären Schnitzeljagden organisierte und sie gemeinsam im Wald ein Feuer entzündeten und Würstchen grillierten.

Eigentlich ist es verrückt. Die einen fühlen sich so einsam, dass sie manchmal am liebsten sterben würden – die anderen gehen sich gegenseitig dermassen auf die Nerven, dass sie oft davon träumen, am liebsten ganz alleine irgendwo auf einer fernen Südseeinsel zu sein. Den einen ist so langweilig, dass sich jeder einzelne Tag wie eine Ewigkeit anfühlt – die Tage der anderen sind dermassen ausgefüllt und ihre Terminkalender so vollgestopft, dass sie jeden Abend nur noch völlig erschöpft ins Bett fallen und die Liste mit allen unerledigten und hinausgeschobenen Pendenzen gleichzeitig immer länger und länger wird. Die einen leben alleine in einem viel zu grossen Haus mit einem viel zu grossen Garten, der meistens leer ist – die anderen müssen sich in winzige Mietwohnungen zwängen und ihre Kinder werden schon am frühen Morgen von einer pingeligen Hauswartin beschimpft, weil sie mit farbigen Kreiden den Vorplatz beim Hauseingang vollgemalt haben. Die einen verbringen Stunden damit, herauszufinden, wo sie all das Geld, welches sie für ihren täglichen Lebensunterhalt gar nicht brauchen, möglichst gewinnbringend anlegen können – die anderen schätzen sich schon glücklich, wenn sie sich überhaupt bis zum letzten Tag des Monats wenigstens eine einzige warme Mahlzeit leisten können.

“Eltern-Burn-Out”, schreibt “20Minuten” am 28. August 2024, “ist keine Seltenheit mehr. Der Spagat zwischen Beruf und Familie fordert seinen Tribut. Ein Phänomen, das in den vergangenen Jahren massiv zugenommen hat.” Kein Wunder, gibt es immer mehr Paare, die kinderlos bleiben und sich all die Belastungen im Zusammenhang mit dem Aufbau einer Familie nicht mehr zumuten möchten. Neue Zahlen, so berichtete der “Tagesanzeiger” am 6. November 2023, zeigen, dass es im Verhältnis zur Bevölkerung in der Schweiz noch nie so wenige Geburten gab. Eine 49Jährige wird im Artikel mit den Worten zitiert, sie sei “jeden Tag dankbar”, dass sie sich gegen Kinder entschieden habe. Erst recht, wenn sie sehe, womit sich ihre Freundinnen und Freunde “herumschlagen” müssten. So viele Mütter, meint sie, würden unter dieser Last leiden und erzählen, wie anstrengend es sei. Alles werde teurer, es fehle an Lehrkräften und Kinderärzten, dem Klima gehe es schlecht und immer wieder käme es zu Kriegen. Weitere Gründe, keine Kinder haben zu wollen, seien die viel zu teuren Krippenplätze, Stress mit der Schule, mit Drogen, Drama bei den Hausaufgaben, psychische Probleme bereits in jungen Jahren, überteuerte Sommerferien mit schlechter Stimmung, Unfälle, Schlafmangel und vor allem: Sorgen, Sorgen, Sorgen.

Überbelastung von Familien auf der einen Seite, sozialer Rückzug auf der anderen: “Wie in allen Industrieländern”, schreibt die “NZZ am Sonntag” vom 14. Juli 2024, “nimmt auch in der Schweiz die Anzahl einsamer Menschen tendenziell zu. Die Ursachen sind vielfältig, es können Mobbingerfahrungen sein, soziale Ängste, schwierige Erfahrungen mit der Familie, der Druck der Leistungsgesellschaft sowie die sozialen Netzwerke, die einem ständig suggerieren, dass man nicht hübsch oder erfolgreich genug sei. In einer Gesellschaft, die fast andauernd bewertet, ist es nicht einfach, sich zugehörig zu fühlen.” Die Folgen von Einsamkeit können verheerend sein. Studien beurteilen sie als genauso gefährlich für die Gesundheit wie das Rauchen und sogar schädlicher als Alkoholabhängigkeit. Wer sich häufig oder über längere Zeit einsam fühlt, hat ein höheres Risiko für psychische Erkrankungen oder Stoffwechselprobleme und trägt in der Regel auch ein erhöhtes Sterberisiko. Einsamkeit kann aber auch dazu führen, dass sich Menschen, die ihre Sorgen mit niemandem teilen können und ihre Verzweiflung über Jahre ganz alleine in sich hineinfressen, plötzlich eines Tages auf ganz aussergewöhnliche Weise Aufmerksamkeit zu verschaffen versuchen. So führten die Spuren einer Serie mehrerer Brandstiftungen im zürcherischen Elgg anfangs 2024, wie der “Tagesanzeiger” am 12. Juli 2024 berichtete, schliesslich zu einer alleinstehenden 44jährigen Frau, die über Jahre völlig zurückgezogen gelebt und mit niemandem Kontakt gehabt hatte. Und in St. Gallen griff am 11. Juli 2024 gemäss einem Bericht des “Tagblatts” ein 34jähriger Schweizer im Treppenhaus eines Wohnblocks unvermittelt eine 29jährige hochschwangere Frau an und attackierte im Weiteren deren Vater, welcher ihr zur Hilfe eilte, fügte ihm schwere Verletzungen zu, ebenso wie einer 31jährigen anderen Mieterin und deren drei Monate altem Baby. In seiner Wohnung wurden hernach eine ausgeschüttete brennbare Flüssigkeit sowie Gas festgestellt. “Es gibt immer mehr Menschen”, so ein Sprecher der Kantonspolizei, “die das Potenzial aufweisen, aggressiv zu werden oder sich selbst zu gefährden – die Schwere der Taten hängt sehr davon ab, wie gut oder wie schlecht solche Menschen in familiäre Strukturen eingebunden sind.”

Alles scheint darauf hinzudeuten, dass die Idealvorstellung der harmonischen Kleinfamilie mehr und mehr nur noch eine Illusion und ein Traum aus früheren Zeiten ist. Während sich viele immer noch trotz aller damit verbundener Belastungen an dieses Modell festklammern, haben es viele andere längst aufgegeben, sind aber infolge fehlender Alternativen der Gefahr von sozialer Isolation und aller damit verbundener Gefahren ausgesetzt.

Höchste Zeit, um über Alternativen zur traditionellen Kleinfamilie nachzudenken…

Und damit sind wir wieder bei jenen 17 Menschen, deren aktuelle Lebenssituationen ich am Anfang des Artikels beschrieben hatte. Und wir sind wieder bei Opa Wuzz. Seit er eines Tages einen Artikel gelesen hatte, in dem die Frage aufgeworfen wurde, ob nicht Grossfamilien eine sinnvolle Alternative zur Kleinfamilie sein könnten, liess ihn diese Frage nicht mehr los. Und je länger er darüber nachdachte, umso mehr Begeisterung stieg in ihm auf. Natürlich konnte es nicht die Rückkehr zur klassischen Grossfamilie früherer Zeiten sein, die wachsende Mobilität hatte schon längst über viel zu lange Zeit alle diese familiären Bindungen und Strukturen früherer Zeiten aufgelöst, das wusste er, dessen Kinder und Enkelkinder nach Deutschland und Australien ausgewandert waren, selber ja am besten. Aber man kann sich eine Grossfamilie ja auch anders denken, moderner und zur heutigen Zeit passend. Die Mitglieder einer “Grossfamilie” müssen ja nicht zwingend miteinander verwandt sein. Opa Wuzz kam ins Schwärmen: Eigentlich sind wir Menschen ja alle irgendwie miteinander verwandt, dachte er. Und irgendwie sind wir doch auch alle miteinander und füreinander verantwortlich. Und eigentlich könnten wir doch mit den Ressourcen, über die wir verfügen, viel sozialer und gemeinschaftlicher umgehen als einfach in der plumpen und egoistischen Art und Weise, dass jeder nur an sich selber oder höchstens an seine eigene kleine Familie denkt.

Und dann, eines Tages, sagte sich Opa Wuzz: Das machen wir. Er kannte sie alle schon, mehr oder weniger gut, einige auch nur ganz flüchtig, die meisten lebten in seinem eigenen Quartier oder nur unweit davon entfernt: Karin, Monika, Heinz und ihre drei Kinder, Conchita und Ruedi, Amir, Andrea und ihren dreijährigen Sohn, Anna und Roberto, Edith, Herbert und die 16jährige Amanda. Sie verstanden zunächst nicht ganz, was er meinte. Sie konnten es sich kaum vorstellen. Doch Opa Wuzz liess nicht locker: Ich weiss ja nicht, ob es funktioniert, sagte er, aber wir könnten es doch mindestens ausprobieren. Verlieren können wir nichts, höchstens etwas gewinnen.

Und so entstand aus diesen 17 Menschen die erste moderne “Grossfamilie”. Ein Jahr später war für sie die Welt eine ganz andere geworden. Und niemand, wirklich niemand von ihnen wollte wieder zurück zu der Zeit, als sie alle noch voneinander getrennt waren. Es ist Herbst im Jahre 2027. Lasst uns schauen, was passiert ist…

Da Monika und Heinz als Einzige der “Grossfamilie” – ich nennen sie im Folgenden einfach “Familie” – ein geräumiges Einfamilienhaus mit einem schönen Garten besitzen, ist dieses zu einer Art Lebensmittelpunkt für die ganze Familie geworden. Alle haben ihre bisherigen Wohnungen behalten, verbringen aber stets einen kleineren oder grösseren Teil des Tages im Haus und im Garten von Monika und Heinz, wobei es freilich auch Tage gibt, die Einzelne für sich alleine verbringen oder an denen sie anderweitigen Verpflichtungen oder Aktivitäten nachgehen. Anna kämpft zwar immer noch gegen ihre Alkoholabhängigkeit, hat aber jetzt eine gewisse Tagesstruktur, geht sie doch jeden Morgen für die ganze Familie einkaufen, zudem kümmert sie sich um die Katze von Monika und Heinz, was alleine schon viel Licht in ihr Leben gebracht hat, war es doch ein gewaltiger Schock für sie gewesen, als ihre eigene Katze, ihre eigentliche Lebenspartnerin, vor zwei Jahren gestorben war, nachdem sie 16 Jahre lang zusammen gelebt hatten. Amir hat im Haus von Monika und Heinz ein eigenes Zimmer bekommen, es war das Gästezimmer, das kaum je gebraucht worden war. Frei und selbstbestimmt kann er jetzt in ein für ihn ganz neues gesellschaftliches Umfeld hineinwachsen, mitbeteiligt am gewöhnlichen Alltag seiner neuen Heimat, in einem Umfeld, von dem er sich getragen, willkommen und geliebt fühlt. Conchita, die leidenschaftliche Köchin und Familienfrau aus Mexiko, ihr könnt es euch vorstellen, ist so etwas wie die Seele oder die Mutter der Familie. Sie kocht mittags und abends für alle in der grossen, modernen Küche von Monika und Heinz, und alle essen fast immer gemeinsam im geräumigen Esszimmer, im Wintergarten oder in der schattigen Pergola, wenn es Sommer ist – das sind die Zeiten, wo meistens alle 17 beisammen sind und auch alles ausgetauscht und besprochen wird, was gemeinsame Pläne oder Aufgaben betrifft. Doch Conchita ist nicht nur die Köchin, sie ist einfach die, die immer da ist und immer Zeit hat – jetzt ist sie wieder voll und ganz, mit Leib und Seele, die Familienfrau, die sie immer schon sein wollte, und die Sonne in ihrem Herzen strahlt wieder in voller Kraft wie früher. Die Kinder von Monika und Heinz brauchen weder Spielgruppe noch Kita, denn immer, wenn sie nachhause kommen, ist da jemand, der auf sie wartet, mindestens Conchita, meistens auch Roberto und fast immer Opa Wuzz, der schon wieder, wie in früheren Zeiten, mit den Kindern auf dem Boden herumkriecht oder ihnen, mindestens einmal pro Woche, eines jener Kasperletheaterstücke vorspielt, die er schon vor 30 Jahren seinen eigenen Kindern vorgespielt hatte – das sind dann die Momente, wo die Familie manchmal auch noch ein bisschen grösser wird, weil schon mal zusätzlich noch das eine oder andere Nachbarskind eintrudelt…

Auch Andrea muss sich nicht mehr damit herumschlagen, wer sich um Leon kümmert, wenn sie arbeiten geht, auch das mühsame Suchen nach einem anderen Platz für die Zeit, wenn ihre Eltern in die Ferien verreisten, ist endlich vorbei, bei Conchita, Roberto und Opa Wuzz ist ihr Leon in den besten Händen – dass es ihr schon am Morgen immer schlecht war, dass sie den ganzen Tag nur auf den Abend wartete, um sich dann total erschöpft ins Bett zu werfen, ohne jede Energie für irgendetwas anderes, all das ist nur noch Erinnerung an die schlimmste Zeit ihres Lebens, neulich hat sie zum ersten Mal seit Jahren sogar wieder ein Buch in die Hand genommen und angefangen zu lesen. Und erst Roberto! Da er jetzt nicht mehr ganz alleine seine Frau betreuen muss, sondern sich zusammen mit ihm Karin, Monika, Conchita, Amir, Herbert und manchmal sogar Amanda diese Aufgabe teilen, kann er ohne schlechtes Gewissen am Abend wieder mit seinen Kollegen ein Bier trinken gehen oder eine Runde Boccia spielen. Selbst die Ehekrise von Edith und Herbert hat längst nicht mehr die Dramatik von früher. Die beiden sind nicht mehr gezwungen, sich ganz alleine an einem kleinen Tisch gegenüberzusitzen, bloss darauf wartend, bis wieder das erste böse Wort fällt – jetzt sitzen sie am grossen Tisch mit vielen anderen, mal mit diesem, mal mit jener scherzend und plaudernd, meistens nicht einmal nebeneinander sitzend, und so hat die Möglichkeit, sich bei Belieben jederzeit gegenseitig aus dem Weg gehen zu können, kurioserweise dazu geführt, dass sie sich sogar wieder ein bisschen näher gekommen sind. Und selbst Amanda verkriecht sich nicht mehr den ganzen Tag in ihrem Zimmer, seit sie Conchita ihr ganzes Herz ausgeschüttet und ihr all das anvertraut hat, was sie ihren eigenen Eltern niemals zu sagen getraut hätte – sie trägt wieder farbige Kleider, sie liebt das Essen und die von Conchita zu jeder Tages- und Nachtzeit zubereiteten Drinks über alles, hat wieder zugenommen und seit ein paar Wochen gibt sie sogar Amir jeden Tag eine Deutschstunde, was ihr so grossen Spass macht, dass sie schon davon träumt, später einmal als Lehrerin zu arbeiten.

Auch die Aufgabenteilung und dass alle das machen, was ihnen am meisten Freude macht und sie am besten können, ist für alle wunderbar entlastend. Wenn es um Formulare, Steuererklärungen oder andere schriftliche Dinge geht, ist Opa Wuzz zur Stelle. Heinz ruft man immer, wenn der Staubsauger nicht mehr funktioniert, ein Siphon verstopft ist oder ein neuer Kasten fachgerecht zusammengebaut werden muss. Bei Computerproblemen ist Herbert derjenige, der auch dann immer noch weiterweiss, wenn alle anderen schon längst am Anschlag sind. Und bei Liebeskummer, Prüfungsangst oder einem Konflikt mit dem Chef werden zentnerschwere Probleme plötzlich ganz federleicht, wenn man von Conchita an der Hand genommen und auf jene Wolke mitgenommen wird, von der sie immer wieder erzählt und von wo aus auch die scheinbar grössten und schwersten Felsen so aussehen wie ein paar kleine Kieselsteine.

Und das ist noch längst nicht alles. Zum Beispiel hat die ganze Familie gemeinsam ein Abonnement der Lokalzeitung. Ohne viel zu bezahlen, haben somit dennoch alle den gleichen Zugang zu den wichtigsten Informationen und sind jederzeit darüber orientiert, was in der Stadt so läuft, oft wird auch über das eine oder andere Thema eifrig diskutiert, unterschiedliche Meinungen werden ausgetauscht. Selbst in ökologischer Hinsicht gibt es nur Vorteile: Um die Mahlzeiten für die 17 Personen zuzubereiten, braucht es jetzt nicht mehr vier oder fünf, sondern nur noch eine einzige Küche. Auch die Zahl der Waschmaschinen, Tiefkühlgeräte, Putzmaterial und Werkzeuge hat sich massiv reduziert. Eine Bohrmaschine, um nur ein Beispiel zu nennen, genügt doch vollauf für 17 Personen – was für ein Luxus und was für eine Verschwendung, wenn es in jedem noch so kleinen Haushalt solche Geräte gibt, die man während weit über 99 Prozent der Zeit gar nie braucht. Auch benötigen 17 Personen nicht vier, fünf oder noch mehr Autos, ein einziges müsste eigentlich genügen.

Unlängst hat Opa Wuzz sogar die Idee einer gemeinsamen Kasse in die Runde geworfen, die von allen, die mehr verdienen, als sie zum Leben brauchen, gefüttert werden könnte, und aus der alle anderen sich dann und wann einen kleinen “Luxus” leisten könnten, einen Ausflug, einen Restaurant- oder Theaterbesuch. Noch radikaler wäre die Idee, alle von den einzelnen Familienmitgliedern erzielten Erwerbseinkommen zusammenzunehmen und unter alle gleichmässig zu verteilen. Doch wahrscheinlich ist, obwohl es tausend gute Gründe dafür gäbe, die Zeit dafür noch nicht reif…

Grossfamilien wären ein Segen vor allem auch für Kinder und Jugendliche. Gewiss kann auch eine “gesunde”, “gut funktionierende” Kleinfamilie Kindern einen guten, fruchtbaren Boden für ihr späteres Leben bieten. Die Gefahr ist aber gross, dass die Kinder – vor allem, wenn es sich um Einzelkinder handelt – mehr oder weniger schutzlos der Willkür ihrer Eltern ausgeliefert sind. “Raya”, so berichtete das “St. Galler Tagblatt” am 5. Juni 2024 über eine tatsächlich dokumentierte, überaus tragische Lebensgeschichte eines betroffenen Kindes, “musste mittags Punkt 12 Uhr zuhause sein. Stiess sie eine Minute zu spät die Haustüre auf, schrie der Vater sie an und warf mit Essen um sich. Doch auch wenn sie pünktlich erschien, blieb sie stets auf der Hut. Wie ist Vaters Stimmung? Wie gelingt es, ihn nicht zu reizen? Denn es flog nicht nur das Essen durch die Luft, auch körperlich und seelisch war er gewalttätig, er trank, konsumierte Drogen, hatte Psychosen und Schizophrenie.” Raya ist inzwischen 39 Jahre alt. Heute weiss sie, weshalb sie als Kind eine extreme innere Anspannung verspürte, häufig an Migräne oder Bauchschmerzen litt und zeitweise feste Nahrung verweigerte. Sie weiss auch, weshalb sie selbst jetzt noch, als Erwachsene, nur mit Medikamenten ihre Ängste kontrollieren kann. Auch Valy war als Kind mit enormen psychischen Belastungen ganz auf sich alleine gestellt. Der Mutter fehlte jegliche Energie, sich um die Tochter zu kümmern. Gleichzeitig lebten sie derart in einem Mikrokosmos, dass sich die Ängste der Mutter auf das Mädchen übertrugen. Etwa, als sich die Mutter mit Panikattacken in der abgedunkelten Wohnung verschanzte: Valy musste damals jeden Abend kontrollieren, ob sich niemand in der Wohnung versteckt hielt und ob alle Storen gut verschlossen waren, plötzlich erlebte auch sie die ganze Welt als eine einzige allgegenwärtige Bedrohung. Und Raya und Valy sind nicht die Einzigen: Zurzeit gibt es in der Schweiz fast zwei Millionen Menschen, die als Kind unter der psychischen Erkrankung eines Familienmitglieds dermassen gelitten haben, dass sie oft lebenslang bleibende Schäden davontragen. Viele von ihnen müssen auch schon in jüngstem Alter Aufgaben im Haushalt und bei der Betreuung von Geschwistern übernehmen, zu denen ihre Eltern nicht imstande sind, was sich meistens auch auf die schulischen Leistungen auswirkt, bleibt ihnen doch kaum Zeit, um ihre Hausaufgaben zu erledigen, oder sind sie am Morgen so müde, dass sie zu spät oder gar nicht zur Schule gehen.

Während Raya, Valy und unzählige andere das alles still ertragen und nicht selten sogar die Schuld für all die Unstimmigkeiten und Qualen bei sich selber suchen, reagieren andere Kinder und Jugendliche auf solche Situationen dadurch, dass sie von zuhause ausreissen. Jahr für Jahr sind es schweizweit rund 25’000 Kinder und Jugendliche, die ihr Zuhause als ein so unaushaltbares Gefängnis empfinden, dass sie keinen anderen Ausweg mehr sehen, als die Flucht zu ergreifen. Viele von ihnen streunen tage- und nächtelang herum, übernachten selbst mitten im Winter irgendwo unter freiem Himmel, nicht wenige von ihnen geraten in die Fänge von Menschenhändlern, werden sexuell ausgebeutet oder verschwinden für immer spurlos – ein nahezu völlig tabuisiertes Thema ausgerechnet in einem so reichen, “fortschrittlichen” Land wie der Schweiz.

Kinder, die der Willkür ihrer Eltern schutzlos ausgeliefert sind, Kinder, die immer schwerere, von ihren eigenen Eltern aufgebürdete Rucksäcke weitertragen müssen, Kinder, die von zuhause ausreissen und von denen nicht wenige für immer spurlos verschwinden – dies alles wird in einer Grossfamilie mit der von allen gegenseitig ausgeübten Aufmerksamkeit und Unterstützung undenkbar sein, nicht nur was Kinder und Jugendliche betrifft, sondern ganz allgemein häusliche Gewalt und Instrumentalisierung von Kindern durch Probleme, Belastungen und übertriebene Erwartungen seitens ihrer Eltern.

Die alleinige Fokussierung auf die Kleinfamilie hat auch zur Folge, dass bei grösseren Krisen oder Todesfällen das gesamte bisherige Lebensgerüst, an dem sich das Kind festgehalten hat, von einem Tag auf den andern zusammenbricht. Meistens werden solche Kinder in eine Pflegefamilie versetzt und müssen sich ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, an dem sie den ganzen bisherigen Boden unter ihren Füssen verloren haben, in eine völlig neue und ihnen total fremde Umgebung einleben und sind auch dann nicht davor gefeit, dass auch die neuen Bezugspersonen unzimperlich oder bevormundend mit ihnen umgehen. Auch das ist in einer Grossfamilie undenkbar. Wenn eine der 17 Bezugspersonen wegbricht, sind immer noch 16 andere da, welche das bisherige Netz an Sicherheit und Geborgenheit aufrechtzuerhalten vermögen, 16 Menschen, zu denen das Kind bereits eine manchmal vielleicht sogar engere Beziehung aufgebaut haben mag als selbst zu den eigenen Eltern. Auch haben die Kinder in der Grossfamilie nicht nur eines oder zwei Vorbilder, sondern viele verschiedene. Sie können nicht nur von einer einzigen oder von zwei Personen etwas lernen, sondern auch von vielen anderen, von jeder etwas, was für ihre Entwicklung wertvoll sein kann. Sie sind nicht einem einzigen Erziehungsstil ausgeliefert, sondern erleben ganz unterschiedliche Verhaltensweisen von Erwachsenen gegenüber Kindern, die sie kritisch und selbstbestimmt miteinander vergleichen und werten können und die zugleich ein kleines Abbild sind einer vielfältigen demokratischen Gesellschaft, in der es nicht nur Richtig und Falsch gibt, sondern unendlich viel dazwischen. So wird die Grossfamilie zu einer eigentlichen Lerngemeinschaft, in der nicht nur die Jungen von den Alten etwas lernen können, sondern auch die Alten von den Jungen und alle miteinander und voneinander.

Umgekehrt liegt in der Grossfamilie auch nicht mehr die ganze Last der Betreuung und der Begleitung der Kinder auf bloss vier oder zwei Schultern. Während sich in der Kleinfamilie Papa und Mama oder sogar ausschliesslich die Mama von früh bis spät, Tag und Nacht, buchstäblich um alles kümmern muss und für alles verantwortlich ist und sich, wenn es trotz allem nicht wie gewünscht herauskommt, als totale Versagerin fühlt, ist dies alles in der Grossfamilie auf viele verschiedene Schultern verteilt, alle tragen Verantwortung für alle und niemand muss es als persönliches Versagen empfinden, wenn dabei, was ja völlig normal ist, vorübergehend auch Schwierigkeiten und Krisen auftreten, die man dann gemeinsam viel besser meistern kann, als wenn man ganz alleine auf sich gestellt und dabei oft hilflos überfordert ist. Wie ein bekanntes afrikanisches Sprichwort besagt, braucht es “ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen”. Oder zumindest eine Grossfamilie, wie auch der bekannte Neurobiologe Gerald Hüther in einer Publikation des Humanistischen Verbands Deutschlands vom 1. Oktober 2021 ausführte: “Erziehung muss nicht eine Individualangelegenheit der Eltern sein. Eingebettet in eine grössere soziale Gemeinschaft bringt sie grosse Chancen für eine ganzheitliche Entwicklung des Kindes. Denn Menschen sind zutiefst soziale Wesen, die bereits im Mutterleib als solche entstehen – sichtbar an physiologischen Mustern, die auf Verbindung mit anderen Menschen abzielen.”

Grossfamilien hätten zweifellos auch eine präventive Wirkung gegen die Gefahr von politischem oder religiösem Extremismus und würden wohl wesentlich dazu beitragen, dass es bei “Randgruppen” nicht zu einer Entwicklung in Richtung Gewalttätigkeit käme. Würde Amir auch noch im Alter von 15 oder 16 Jahren in einem Heim oder an einem anderen, von der übrigen Gesellschaft abgeschotteten Raum leben, weiterhin mit allen möglichen und unmöglichen Botschaften, Aufrufen und Ideologien im Internet und den sozialen Medien sich selber überlassen bleiben, wäre die Wahrscheinlichkeit, dass er eines Tages einer jener “delinquierenden ausländischen Jugendlichen” sein könnte, die landauf und landab in den Medien und in den Kampagnen gewisser politischer Parteien Schlagzeilen machen, wohl unvergleichlich viel grösser, als wenn er in einer sozialen Gemeinschaft gross werden kann, in der er sich verstanden, geborgen und geliebt fühlt und täglich von anderen Menschen Wertschätzung erfährt.

Wahrscheinlich müsste man früher oder später auch den Begriff der “Liebe” ganz anders definieren, als dies heute der Fall ist. Liebe ist doch nicht nur eine – in aller Regel mit Sexualität in Verbindung gebrachte – Paarbeziehung oder allenfalls noch die “Affenliebe” von Eltern, die ihre Kinder verhätscheln und ihnen jeden Wunsch erfüllen. Liebe ist doch auch, wenn Amanda Amir Deutschstunden gibt. Liebe ist doch auch, wenn Anna oder Herbert Roberto einen Teil seiner Betreuungsarbeit für Anna abnehmen, damit er am Wochenende seine Freunde treffen kann. Liebe ist doch auch, wenn Karin jetzt wieder eine Katze an ihre Brust drücken und sie liebkosen kann. Liebe ist doch auch, wenn man möglichst umweltbewusst zu leben versucht und einem die Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen nicht egal sind. Liebe ist doch alles, was sich Menschen gegenseitig an Aufmerksamkeit, Zuneigung, Anteilnahme und Mitgefühl schenken können, das, was wir auch, seit Jesus diese wunderbare Botschaft in die Welt gebracht hat, als Nächstenliebe bezeichnen und zutiefst auch mit innerer Verbundenheit, Verantwortungsgefühl und Solidarität zu tun hat.

Die neue Grossfamilie wäre so etwas wie der erste Kreis, in den ein Mensch hineingeboren wird und in dem er sich bedingungslos willkommen fühlt. Ein Ort der Geborgenheit und der Gewissheit, dass er auch dann nicht zerbrechen wird, wenn einzelne Teile von ihm in Gefahr sind. Den zweiten Kreis könnten zum Beispiel Quartiervereine bilden, grössere soziale Gemeinschaften, in denen aber gleichermassen das Miteinander und das gegenseitige Verantwortungsgefühl im Vordergrund stehen. Der dritte Kreis, das wäre dann die Kommune, die auf den gleichen Grundsätzen weiterbauen müsste. In der heutigen kapitalistischen Leistungs-, Wettbewerbs- und Konkurrenzgesellschaft, in der jeder gezwungen ist, für sich den grösstmöglichen Anteil an Ansehen und materiellem Erfolg zu gewinnen, und so die Mitmenschen vor allem als Konkurrenten im Kampf um einen zunehmend kleiner werdenden Kuchen wahrgenommen werden, fehlt der erste Kreis gänzlich und auch der zweite ist, selbst wenn es ihn da und dort noch gibt, vom Aussterben bedroht. Die Menschen brauchen immer mehr Zeit und Energie für den individuellen Existenzkampf, so dass immer weniger Zeit und Energie für das Gemeinschaftliche, für das Miteinander, für die Solidarität mit Schwächeren übrig bleibt. Solange aber der erste und zweite Kreis fehlen, können auch die weiteren, darüber gestülpten Kreise nicht wirklich funktionieren. Die Menschen, die derart umfassend von ihrem individuellen Kampf für den Aufstieg und gegen den Abstieg innerhalb der herrschenden Klassengesellschaft absorbiert sind, haben kaum noch Ressourcen, sich um das Gemeinwohl innerhalb grösserer Bevölkerungssegmente zu kümmern, alles “Politische” wird zunehmend ausgeklammert und an den Rand gedrängt, was sich nur schon an der geringen Beteiligung an Wahlen und Abstimmungen zeigt. Gleichzeitig führen auch Einsamkeit und Isolation und das Gefühl der zu kurz Gekommenen, zunehmend an den Rand gedrängt und nicht mehr als gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft wahrgenommen zu werden, dazu, sich kaum mehr auf etwas einzulassen, was auch nur im Entferntesten mit “Politik” zu tun hat, denn alle damit verbundenen Erwartungen wurden schon viel zu oft enttäuscht. Dies alles aber ist nichts anderes als eine zunehmende, scheibchenweise Erosion der Demokratie bis in letzter Konsequenz hin zu ihrem völligen Verschwinden.

Unsere Demokratie ist nicht in erster Linie durch irgendwelche ferne Autokraten bedroht, wie so oft behauptet wird, und was dann zynischerweise noch als Begründung für militärische Aufrüstung herhalten muss und damit für die Reduktion öffentlicher Gelder, die man ausgerechnet für soziale Sicherheit und damit für die Aufrechterhaltung einer demokratischen Ordnung dringendst bräuchte. Unvergleichlich in viel höherem Ausmass als durch ferne Autokraten ist unsere Demokratie durch durch unsere eigene Ideologie des kapitalistischen Konkurrenzprinzips bedroht, das auf der Zerschlagung all dessen beruht, was mit gegenseitiger Solidarität zu tun hat, und die Menschen einzig und allein auf den Kampf ums individualistische Überleben reduziert, genau so, wie es die britische Premierministerin Margaret Thatcher 1987 in einem Interview sagte: “So etwas wie Gesellschaft gibt es nicht, es gibt nur Individuen.” Diese auch als “neoliberal” bezeichnete Geisteshaltung, die nebst Thatcher vor allem auch von US-Präsident Ronald Reagan gepredigt wurde, stiess damals noch bei vielen Menschen auf erbitterte Kritik, heute ist sie sozusagen der “Normalzustand”, an den wir uns weitgehend gewöhnt haben und zu dem weitherum keine Alternative mehr in Sicht zu sein scheint.

Diese bloss auf den individuellen Überlebenskampf reduzierte Sicht, aufbauend auf jahrhundertelang zementierter Lügen wie jener, jeder sei “seines eigenen Glückes Schmied”, hat auch dazu geführt, dass die gegenseitige Anteilnahme, das gegenseitige Verantwortungsgefühl und das Interesse für gesellschaftliche Zusammenhänge nicht nur gegenüber den Nachbarn und den Mitbürgerinnen und Mitbürgern im eigenen Dorf und in der eigenen Stadt immer mehr verloren geht, sondern erst recht gegenüber allem, was noch weiter entfernt ist. Wurden noch in den Sechzigerjahren die wirtschaftlichen Ausbeutungsmechanismen zwischen der sogenannten “Ersten” und der sogenannten “Dritten” Welt öffentlich breit diskutiert, so werden die Länder des Südens heute von den meisten überprivilegierten Menschen des Nordens bestenfalls noch als möglichst billige und zugleich höchst attraktive Ziele für die nächste Ferienreise wahrgenommen – die Saat von Thatcher, Reagan und Ihresgleichen ist voll aufgegangen: Alle schwärmen von der Schönheit indischer Kunst- und Bauwerke, von der Farbenvielfalt auf den Gemüsemärkten in Kalkutta und Bangalore, und schicken Tausende Fotos all dieser Schönheiten rund um den Globus, aber niemand spricht davon, dass es im gleichen Land alleinerziehende Mütter gibt, die früh am Morgen ihrem Kind ein so starkes Schlafmittel verabreichen, dass es bis am Abend nicht mehr aufwacht, damit die Mutter zehn Stunden lang in mörderischer Hitze auf einer Baustelle arbeiten kann, nur damit sie und ihr Kind nicht verhungern müssen – was nichts anderes heisst, als dass es einer alleinerziehenden Mutter in der Schweiz, in Kanada oder in Mexiko im Grunde genau gleich geht wie einer alleinerziehenden Mutter in Indien, Kenia oder Bangladesch und nur die weltweite Übernahme gegenseitiger Verantwortung, das Wahrnehmen der weltweiten sozialen, wirtschaftlichen Zusammenhänge und die Solidarität einer möglichst grossen Zahl Privilegierter mit den Unterprivilegierten dauerhaft daran etwas zu ändern vermöchte.

Es ist nur ein kleiner Schritt, dachte sich Opa Wuzz eines Abends, als er wieder einmal sein Tagebuch zur Hand nahm. Aber es könnte vielleicht der Anfang von etwas Grösserem sein. Irgendwo muss es ja beginnen. Und wieder tropfte eine Träne in das Tagebuch, aber dieses Mal war es eine Träne der Freude, und erstaunlicherweise war auch seine Schrift längst nicht mehr so wacklig wie noch drei Jahre zuvor. Als wäre er wieder ein bisschen jünger geworden, seit er mit den kleinen Kindern in seiner Grossfamilie am Boden herumkriecht und mit ihnen all die wunderbaren Luftschlösser baut, die vielleicht eines Tages auf der Wolke von Conchita stehen werden oder im Herzen von Amir, wenn er irgendwann seine Zukunftsträume verwirklichen kann und vielleicht, wer weiss, eine eigene neue Grossfamilie gründen wird…

(Nachtrag am 11. September 2024: Michael Schulte-Markwort berichtet auf “FOCUS-Online” über die seelische Verwahrlosung der Kinder in deutschen Kitas. In Schweizer Kitas wird es vermutlich auch nicht grundsätzlich anders sein. Gäbe es nur noch Grossfamilien wie jene von Opa Wuzz, bräuchte es auch keine Kitas mehr. Schulte-Markwort schreibt: “300 Fachleute schlagen Alarm und warnen in einem offenen Brief vor den Folgen der Kitakrise für Kinder. Die Erzieherinnen müssen viel zu viele Kinder betreuen, was sehenden Auges für die Fachkräfte bedeutet, mitzuerleben, wie schlecht die Kinder selbst bei grössten Bemühungen versorgt sind. Untersuchungen haben gezeigt, dass es mindestens 20 Prozent der kleinen Kinder nicht gut geht. Das ist eine Form der institutionellen Verwahrlosung. Gerade die kleinen Kinder, die noch nicht in der Lage sind, über ihre seelischen Zustände zu sprechen, sind darauf angewiesen, dass sie liebevoll und umfassend gesehen und versorgt sind. Das ist aber nicht der Fall und führt zu psychischen Veränderungen in Form von Rückzug und Introversion und mutet mindestens an wie Vorformen depressiver Symptome… Auf der Seite der Fachkräfte führt zum einen das Erleben der mangelhaften Versorgung, aber auch der Engpass als solches zu psychischen Belastungen, die schnell mit Symptomen wie Erschöpfung oder auch psychosomatischen Krankheitszeichen einhergehen. Der dann entstehende Krankenstand führt zu einem Kreislauf, der die Ausfälle und die Erschöpfung verstärkt und zu immer ausgeprägteren Gefühlen der Sinnlosigkeit führen… Die Familien schliesslich sind immer wieder mit Ausfällen der Fachkräfte konfrontiert, die kompensiert werden müssen. Darüber hinaus müssen sie mit dem Gefühl leben, dass ihr Kind nicht gut versorgt ist und unter Umständen sehr leidet – ohne dass es dazu eine Alternative gibt. Insgesamt ein Kreislauf, der für die Schwächsten unserer Gesellschaft zu unzumutbaren Belastungen führt, die sie mit denen teilen, die sie versorgen wollen… Kinder reagieren immer auf die Psyche der sie umgebenden Menschen. Das ist keine Frage des Alters oder sprachlicher Fähigkeiten. Auch kleine Kinder erspüren immer, wie es zum Beispiel ihren Eltern geht, in welcher seelischen Verfassung sie sind – auch, wenn diese nicht darüber sprechen. Dasselbe gilt für die Fachkräfte in den Kitas. Wenn diese überfordert, erschöpft oder gar depressiv sind, dann erspüren die betreuten Kinder dies immer. Das führt entweder zu einer Übertragung dieser Belastung oder zu kindlichen Phantasien, dass sie selber zu belastend sein könnten für die Erzieherinnen. Damit verstärkt sich auf beiden Seiten die Belastung und unausweichliche Zirkel von psychischen Symptomen entstehen. Wenn die Erzieherinnen merken, wie schlecht es den Kindern geh, strengen sie sich noch mehr an, was die Belastung und Erschöpfung verstärkt, was dann wiederum die Belastung der Kinder erhöht. Ein Kreislauf ohne Aussicht auf Auflösung… Videoanalysen haben unter anderem gezeigt, dass 20 Prozent der Kinder in ihrer Mimik und Körpersprache signifikant ausdrucksloser als die anderen Kinder sind. Das erinnert an depressive Menschen, die hypomimisch werden, an Gesichtsausdruck verlieren und überhaupt weniger Energie und Ausdruck zeigen… Wir wissen aus anderen Untersuchungen an Kindern im Alter zwischen 4 und 8 Jahren, dass etwa 8 Prozent von ihnen die Kriterien für eine Depression erfüllt haben. Entgegen früherer Annahmen wissen wir heute, dass Depressionen auch im Kindes- und Jugendalter vorkommen, mit einer langsamen Zunahme mit dem Alter bis auf etwa 8 Prozent im Jugendalter… Je jünger die Kinder sind, desto weniger psychische Mechanismen haben sie, um mit Stressoren anders umzugehen, als sie aufzunehmen. Die Kleinen können nicht darüber sprechen, man kann ihnen keine Skills beibringen und auch alle anderen gängigen Strategien, auf die man professionell mit gestressten und/oder depressiven Menschen reagiert, können hier nicht zum Einsatz kommen. Da Kitakinder sich in der Regel über ihr psychisches Befinden noch nicht sprachlich ausdrücken können, sind sie darauf angewiesen, dass feinfühlige Eltern sich aufmerksam auf ihr Kind konzentrieren, um Signale wahrzunehmen. Eines der offensichtlicheren ist die Weigerung oder der anhaltende morgendliche Unwille des Kindes, in die Kita gebracht zu werden. Kein Arbeitnehmer würde lange an seinem Arbeitsplatz verweilen, wenn dieser mit morgendlichem Unwillen einhergeht. Komischerweise glauben viele Erwachsene, dass man dies den Kleinsten sehr wohl zumuten kann, weil sie sich dem elterlichen Willen am Ende unterordnen. Diese Unterordnung kann aber psychische Veränderungen nicht aufhalten… Weitere Symptome können körperliche Beschwerden wie Bauchschmerzen oder Appetitlosigkeit in der Kita sein. Die Umlenkung seelischer Impulse in körperliche Symptome sind im Kindesalter weit verbreitet. Ebenso können die Kinder mit (Ein-)Schlafstörungen oder Trennungsangst sowie einer erhöhten Weinerlichkeit auffallen… Natürlicherweise stehen die kindlichen Symptome manchmal den elterlichen Notwendigkeiten, zum Beispiel ihrer Arbeit pünktlich nachzugehen, im Wege. Das kann dazu führen, dass Eltern in ihrer Not die kindlichen Symptome nicht wahrnehmen oder bagatellisieren… Es gibt nach wie vor in unserer Gesellschaft die unausgesprochene Annahme, dass Kinder umso unwichtiger erscheinen, je jünger sie sind. Die Kleinsten werden nicht von Pädagoginnen der frühen Kindheit versorgt, sie sind in viel zu grossen Gruppen mit zu wenig Fachpersonal und dieser Trend setzt sich fort, indem Grundschullehrer weniger gelten als Gymnasiallehrer, Kinderärzte schlechter bezahlt werden als Erwachsenenmediziner und vieles andere mehr. Kinder haben keine Lobby, sie protestieren nicht, passen sich ungenügenden Umständen an und versuchen immer, es uns Erwachsenen recht zu machen. Im Umkehrschluss verwechseln wir diese Stille der Kinder mit Zufriedenheit. Immer wieder wird fürsorglichen Eltern Überfürsorglichkeit unterstellt – dahinter steckt die Annahme, dass Kinder sich von unreif zu reif, von unmündig zu mündig zu entwickeln haben und sie mit zu viel Aufmerksamkeit verwöhnt und lebensunfähig werden. Das Gegenteil ist der Fall!)

Jahrhundertelange Komplizenschaft zwischen Kapitalismus und Patriarchat

Dies ist das 7. Kapitel aus meinem Buch PRO MEMORIA – EINE ANDERE GESCHICHTE DES KAPITALISMUS, das voraussichtlich Mitte 2025 erscheinen wird. Eine Geschichte der Schattenseiten des Kapitalismus und der Opfer eines Wirtschafts- und Gesellschaftssystems, das trotz allem immer noch von vielen als die einzige mögliche und alternativlose Art und Weise angesehen wird, wie das Zusammenleben der Menschen auf diesem Planeten organisiert werden kann.

Wenn du in der Suchfunktion PRO MEMORIA eingibst, findest du die weiteren bereits publizierten Kapitel des Buches.

Wir wähnen uns zwar in «modernen» Zeiten, senden uns Nachrichten, Fotos und Filme in Bruchteilen von Sekunden rund um den Erdball zu, lassen uns von künstlicher Intelligenz ganze Romane schreiben, Bilder malen, musikalische Meisterwerke komponieren und uns vielleicht schon bald von selbstgesteuerten Automobilen spazieren fahren. Doch mitten in diesen «modernen» Zeiten werden unzählige wiedergeborene Hexen, man nennt sie heute «Prostituierte», Nacht für Nacht stundenlang vergewaltigt und halb zu Tode geprügelt, an eiserne Gestelle gekettet und blutig geschlagen, bis fast zum Ersticken gewürgt, mit Betäubungsmitteln gefügig gemacht und am Ende, wenn sie ihren Dienst getan haben, mit Blutergüssen oder einem gebrochenen Kiefer irgendwo an einen Waldrand geworfen. Und unzählige wiedergeborene Scharfrichter, man nennt sie heute «Freier», scheint genau das, die Machtausübung über Schwächere, ihnen hilf- und schutzlos Ausgelieferte, die allergrösste Lust zu bereiten.

IMMER NOCH TAUSENDFACHE ABHÄNGIGKEITSVERHÄLTNISSE UND MACHTUNTERSCHIEDE

Doch Prostitution ist nicht etwas Exotisches, Singuläres, nicht eine abartige Abweichung von der Normalität. Nein, sie ist nur die extremste Form jener «Normalität» tausendfacher Abhängigkeitsverhältnisse und Machtunterschiede zwischen Frauen und Männern, die bis zum heutigen Tag an viel zu vielen Orten und in viel zu vielen Lebensbereichen immer noch gang und gäbe sind. Denn Geld ist Macht. Und wer, wie die Freier, mehr davon hat, als er zum Leben braucht, kann dadurch Macht ausüben über jene, die, wie die Prostituierten, weniger davon haben, als sie eigentlich zum Leben bräuchten. Nur deshalb ist die Prostituierte dem Freier hilflos ausgeliefert, weil sie ohne das Geld, das er im Übermass besitzt, ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten könnte. Und nur deshalb müssen die Kellnerin, das Zimmermädchen und die Coiffeuse jeden Wunsch des Bankers, des Immobilienmaklers und des IT-Spezialisten erfüllen und, wenn diese damit nicht zufrieden sind, sich von ihnen vielleicht sogar noch beschimpfen lassen, weil sie auf das Geld, welches diese besitzen, existenziell angewiesen sind.

Doch weshalb besitzen Männer so viel mehr Geld und damit so viel mehr Macht als Frauen? Aus dem ganz simplen Grund, weil die meisten bis heute weltweit herrschenden politischen Institutionen, Gesetze, Macht- und Besitzverhältnisse ursprünglich nicht von Frauen, sondern fast ausschliesslich von Männern geschaffen wurden, und natürlich in der Weise, dass sie ihren Interessen, den Interessen der Männer, am meisten entsprachen. Sie, die Männer, haben definiert, was «höherwertige» – hauptsächlich von Männern ausgeübte – und deshalb besser bezahlte Tätigkeiten sind, und was «minderwertige» – hauptsächlich von Frauen ausgeübte – und daher schlechter bezahlte Tätigkeiten sind. Und sie, die Männer, haben sogar die unfassbare Tatsache in die Welt gesetzt, dass eine Frau, die sich «nur» um den Haushalt und die Kinder kümmert, dafür auch nicht einen einzigen Rappen Lohn bekommen darf, so dass man selbst heute noch, wenn man ein Kind fragt, was seine Mutter arbeite, zur Antwort bekommt, sie arbeite nicht, sondern koche nur, putze nur die Wohnung, gehe nur einkaufen, füttere nur die Haustiere, jäte nur den Garten, organisiere nur Geburtstagspartys, pflege nur die kranke Grossmutter, unterhalte nur die Beziehungen mit der Nachbarschaft, kümmere sich nur um die Kinder und helfe ihnen nur bei den Hausaufgaben. Eigentlich müsste man noch ergänzen: Dass die Mutter, die ja angeblich gar nicht arbeitet, «nur» von Zeit zu Zeit auch noch ein Kind gebärt – was aus kapitalistisch-patriarchaler Sicht offensichtlich schon gar nicht auch nur im Entferntesten mit «Arbeit» in Verbindung gebracht wird, obwohl es sich dabei doch im Grunde um die zentralste sämtlicher möglicher Arbeitsleistungen handelt, ohne welche es alle anderen Arbeitsleistungen gar nicht erst gäbe. Der gesamte kapitalistische Überbau beruht auf der Gratisarbeit von Frauen. Würden sie diese verweigern, bräche das gesamte kapitalistische Machtsystem von einer Sekunde zur andern i sich zusammen.

Sie, die Männer, haben auch das gesamte Geldsystem, die Banken, die Finanzflüsse, das Prinzip der Selbstvermehrung von Geld in Form von Zinsen und die Lüge, dass Geld selber arbeiten und seinen Besitzer dadurch immer reicher machen könne, all das so eingerichtet, dass jene, die schon reich sind – und auch das sind vor allem wieder Männer –, immer noch reicher werden, während andere, die schon arm sind – und auch das sind vor allem wieder Frauen – lebenslang arm bleiben. Denn es ist zweifellos alles andere als ein Zufall, dass sich unter den weltweit zurzeit 2640 allerreichsten Menschen, mit je einem Vermögen von über einer Milliarde US-Dollar, gerade mal 399 Frauen befinden und unter den 50 Reichsten der Schweiz gerade mal fünf weiblichen Geschlechts sind.

SELBST GOTT IST EIN MANN

Sie, die Männer, haben auch früh erkannt, wie stark der Zusammenhang ist zwischen Sprache und Denken, und so haben sie dann unzählige Wörter, Begriffe und Redewendungen erfunden, in denen wiederum sie, die Männer, im Mittelpunkt stehen und die Frauen entweder verschwiegen, an den Rand gedrängt oder in ein schiefes Licht gerückt werden. Etwas Schönes ist «herrlich», etwas Unpassendes ist «dämlich». Typisch weibliches und negativ bewertetes Verhalten bezeichnet man als «weibisch», aber niemand kommt auf die Idee, ein als mühsam oder lästig empfundenes typisch männliches Verhalten als «männisch» zu bezeichnen. Das englische Wort «woman» kommt von «wifman», was so viel bedeutet wie «weiblicher Mensch», als wäre nur «man» sozusagen der eigentliche, wahre Mensch. Eine «Künstlerin» ist sozusagen eine weibliche Neben- oder Unterkategorie des eigentlichen – als «Norm» empfundenen «Künstlers». Bis in die jüngste Vergangenheit wurden unverheiratete Frauen selbst im Alter von 50 oder mehr Jahren als «Fräulein» bezeichnet, bemitleidenswerte Geschöpfe, die nach so langer Zeit immer noch keinen Mann gefunden hatten, während unverheirateten Männern als «Junggesellen» auch heute noch durchaus Sympathien infolge ihrer «Eigenständigkeit» und ihrer «freien», «selbstbestimmten» Lebensweise entgegengebracht werden. Eine widerspenstige junge Frau ist eine «Göre», ein widerspenstiger junger Mann dagegen ein «Rebell» oder sogar ein «Held». Frauen, die auf Gleichberechtigung mit Männern pochen, sind «Emanzen», Männer, die an traditionellen Vorrechten von Männern gegenüber Frauen festhalten, werden im Volksmund dagegen nur selten «Patriarchen» genannt, dann schon eher, vor allem wenn sie ein Unternehmen erfolgreich leiten, als «Patrons» von altem Schrot und Korn, was meistens sogar mit einer gewissen Bewunderung oder geradezu Ehrfurcht verbunden ist. Nachbarinnen können sich am Gartenzaun mit noch so philosophisch hochstehenden Themen beschäftigen oder noch so viele wertvolle  Erfahrungen im Umgang mit kranken oder hilfsbedürftigen Menschen austauschen, es ist eben nur «Frauengeschwätz», während Verwaltungsräte auch noch mit den dümmsten und unbrauchbarsten Ideen um sich werfen können, stets handelt es sich um, notabene erst noch bestens bezahlte, «Sitzungen», «Konferenzen» oder «Meetings».

Selbst die Wissenschaft haben sie, die Männer, für sich gekapert, und es ist noch gar nicht so lange her, da haben führende und zu ihrer Zeit höchst angesehene Köpfe sogar «wissenschaftlich» zu beweisen versucht, weshalb Frauen weniger intelligent seien als Männer. Das wiederum war dann gefundenes Fressen für jene Mehrheit sämtlicher Männer, die, wie zum Beispiel in der Schweiz, noch bis ins Jahr 1971 felsenfest davon überzeugt waren, Frauen hätten in der Politik nichts zu suchen. Und als Gipfel von allem, aber eigentlich nicht besonders verwunderlich: Der, welcher über allem Irdischen thront, der «Schöpfer» und «Lenker» von allem, ist, wie könnte es auch anders sein – ein Mann. Noch heute wird das Bild dieses «Gottes» den meisten Kindern in den christlichen Ländern schon von klein auf eingeimpft, egal, ob es sich dabei um einen «rachsüchtigen», «allmächtigen» oder «liebevollen» Gott handelt, Hauptsache, es ist ein Mann.

PATRIARCHAT NUR EINES VON ZAHLLOSEN UNTERDRÜCKUNGS-, AUSBEUTUNGS- UND MACHTVERHÄLTNISSEN

Das patriarchale Machtsystem hat sich, wie oft behauptet wird, im Laufe der Zeit nicht abgeschwächt, sondern sich im Gegenteil, Hand in Hand mit allen anderen kapitalistischen Ausbeutungsformen, nach und nach über die ganze Erde ausgebreitet. Patriarchale Machtverhältnisse treffen wir heute nicht nur, in mehr oder weniger starker Ausprägung, in jedem einzelnen kapitalistischen Land an, sie widerspiegeln sich auch in der Dominanz der reicheren und mächtigeren gegenüber den ärmeren und weniger mächtigeren Ländern: So etwa in der erbarmungslosen Ausbeutung von Dienstmädchen aus den Philippinen in den Haushalten der reichen Oberschicht Dubais, Kuwaits oder Saudi-Arabiens, in zwanzigstündigen Arbeitsschichten von Textilarbeiterinnen in Bangladesch zwecks exorbitanter Unternehmensgewinne französischer, italienischer oder kanadischer Modekonzerne, in den bis zum Zerbrechen kaputtgearbeiteten Rücken marokkanischer Erdbeerpflückerinnen unter der sengenden Sonne Andalusiens zur unaufhörlichen Geldvermehrung in den Kassen deutscher oder belgischer Supermärkte und ihrer Aktionäre, in den Leiden und Erniedrigungen brasilianischer, kolumbianischer und kenianischer Prostituierter, aus denen jenes Geld herausgeschunden wird, mit dem dann ihre Zuhälter und weltweit organisierte Menschenhändler wertvollsten Schmuck, prunkvollste Villen und teuerste Luxuskarossen kaufen, mit denen sie ihren Reichtum ganz öffentlich und unverfroren auf den Strassen spanischer oder griechischer Städte zur Schau tragen.

Bei alledem gibt es freilich nicht nur geschlechtsspezifische Macht-, Abhängigkeits- und Ausbeutungsverhältnisse. Im über alle Grenzen hinweg globalisierten Kapitalismus befinden sich die Arbeiter in den kongolesischen Goldminen ebenso auf der Opferseite, wie sich all jene westeuropäischen Frauen auf der Täterseite befinden, welche sich die zahllosen Schmuck- und Luxusgegenstände leisten können, die aus jenem Gold gefertigt wurden, welches die Minenarbeiter qualvoll und unter gefährlichsten Bedingungen aus dem Boden geschürft hatten. Frauen können auch andere Frauen ausbeuten, ebenso wie Männer andere Männer und Frauen Männer, je nach Geburtsort und sozialem Status. Je weiter im Zuge der Globalisierung die Orte des Reichtums und die Orte der Armut auseinandergerissen wurden, umso geringer das öffentliche Bewusstsein darüber, dass letztlich das gesamte kapitalistische Weltwirtschaftssystem letztlich auf nichts anderem beruht als auf der permanenten Ausbeutung jener, die weniger Geld und weniger Macht haben, durch jene, die mehr davon haben. Das Patriarchat ist dabei nur eines von zahlreichen Unterdrückungs-, Ausbeutungs- und Machtverhältnissen, aber zweifellos nach wie vor eines der wesentlichsten und am meisten dominierenden.

DAS PATRIARCHAT KAM ERST AM 31. DEZEMBER UM SIEBEN UHR MORGENS AN DIUE MACHT

Blicken wir weiter in die Geschichte zurück, werden wir sogleich feststellen, dass patriarchale Macht- und Ausbeutungsverhältnisse ganz und gar nicht über Jahrtausende hinweg die Norm waren. Eine im Jahre 1998 durchgeführte Studie ergab, dass 160 von insgesamt weltweit 1267 untersuchten Ethnien bis in die jüngste Gegenwart eine rein matrilineare, also ausschliesslich auf weiblicher Erbfolge beruhende Gesellschaftsstruktur aufweisen und weitere 101 Ethnien ein gleichwertiges Nebeneinander von matrilinearen und patrilinearen Abstammungsregeln.

So etwa kennen die Minangkabau auf Sumatra, mit drei Millionen Menschen die grösste matrilineare Bevölkerungsgruppe der Welt, ausschliesslich die mütterliche Erbfolge. Frauen und Männer haben eine gleichrangige Stellung innerhalb der Gesellschaft, Land und Produktionsmittel sind Gemeineigentum. Die Mosuo, ein ebenfalls matrilinear organisiertes Volk im Südwesten Chinas, betreiben eine reine Tauschwirtschaft ohne Verwendung von Geld. Dem weiblichen Haushaltsvorstand sind alle Haushaltsmitglieder beiderlei Geschlechts untergeordnet. Bei den Beziehungen ausserhalb der Grossfamilie treffen Frauen die geschäftlichen, Männer die politischen Entscheidungen. Die Mosuo kennen keine Ehe zwischen Frau und Mann, sie pflegen ausschliesslich «Besuchsbeziehungen», bei denen sowohl Frauen als auch Männer mit mehreren Partnerinnen oder Partnern nebeneinander oder nacheinander sexuelle Beziehungen haben. Die auf den Trobriandinseln im Südpazifik lebenden Trobriander sind für ein auffallend konfliktarmes Gesellschaftsleben bekannt, auch bei ihnen sind sexuelle Freizügigkeit und Tauschhandel die Regel. Eine noch über den Tauschhandel hinausgehende Wirtschaftsweise trifft man bei den Tolai in Papua-Neuguinea an: eine sogenannte «Schenkökonomie», ein auf allgemeiner Solidarität und Grosszügigkeit beruhendes soziales System, in dem Güter und Dienstleistungen ohne direkte oder zukünftige Gegenleistung weitergegeben werden. Bei den Khasi im Nordosten Indiens liegen Grund und Boden ausschliesslich in der Hand von Frauen. Bei den Tuareg in Nordafrika entscheiden die Frauen, wen sie heiraten, die Frau darf ihren Mann verstossen.       

Auch auf der Insel Orango vor dem westafrikanischen Guinea-Bissao, «Insel des Friedens» genannt, haben heute noch die Frauen das Sagen, wie Heiner Hoffmann im «Spiegel» vom 3. April 2022 berichtete: «Isabel Yaranto hievt ein Schilfbündel auf den Kopf, es ist Baumaterial für das neue Haus ihrer Schwester. So will es die Tradition, Frauen bauen die Häuser, dafür gehören sie ihnen anschliessend. Männer sind darin höchstens zu Gast. Auf Orango wird die Geburt einer Tochter besonders intensiv gefeiert, denn Frauen gebären nicht nur Kinder, sondern managen auch das Leben im Dorf. Entscheidungen gehen auf Orango so, dass zwei Räte, einer aus Männern und einer aus Frauen, Lösungen für Konflikte oder anstehende praktische Fragen diskutieren und anschliessend miteinander einen Kompromiss aushandeln. Zwar arbeiten auch auf Orango die Frauen viel mehr als die Männer, kümmern sich um die Kindererziehung, die Arbeit auf dem Feld, das Sammeln von Meeresfrüchten, den Hausbau und den Haushalt, während Männern lediglich das Fischen und Sammeln von Palmfrüchten vorbehalten ist. Dafür aber gelten die Frauen als das starke Geschlecht und verfügen über viel mehr Macht als die Männer. Nicht nur die Häuser, sondern auch die unzähligen Hühner, Schweine und Kühe gehören ihnen, somit verfügen sie über die Lebensgrundlage der Haushalte. Auch heute noch wird Okinka Pampa, von 1910 bis 1930 die letzte Königin der Insel und so etwas wie die Urmutter der matriarchalen Strukturen, auf Orango zutiefst verehrt. Sie schaffte die Sklaverei ab, stärkte die Frauenrechte und wehrte mehrere portugiesische Kolonialisierungsversuche erfolgreich ab.»

Solche Relikte matriarchaler Traditionen sowie zahllose archäologische Funde aus der Frühzeit der Menschheit, die auf die Verehrung weiblicher Gottheiten hindeuten, legen die Vermutung nahe, dass matriarchale Gesellschaftsstrukturen bis vor etwa rund 4000 bis 5000 Jahren nicht die Ausnahme, sondern eher die Regel waren. Wenn wir davon ausgehen, dass die Geschichte der Menschheit vor etwa 2,5 Millionen Jahren begann, dann wären diese letzten 5000 Jahre, in denen das Patriarchat die Oberhand gewann, weniger als ein Klacks: Rechnen wir die gesamte Menschheitsgeschichte in ein Jahr um, dann wäre also das Patriarchat erst am 31. Dezember um sieben Uhr morgens an die Macht gekommen.

DOCH WIE UND WESHALB ERFOLGTE DIE MACHTERGREIFUNG DURCH DIE MÄNNER?

In ihrem 1988 erschienenen und 2015 neu aufgelegten und aktualisierten Buch «Patriarchat und Kapital» erklärt Maria Mies den Aufstieg des Patriarchats wie folgt: Seit Urzeiten gab es eine geschlechtliche Arbeitsteilung zwischen den Frauen, die hauptsächlich sammelten und Hackbau betrieben, und Männern, welche sich auf die Jagd spezialisierten. Auf diese Weise waren, so Mies, «die Frauen in der Lage, die täglichen Lebensmittel nicht nur für sich selbst, sondern auch für den ganzen Clan zu sichern. Sie waren die Ernährerinnen nicht nur ihrer Kinder, sondern weitgehend auch der Männer, die ja nicht immer Glück auf ihren Jagdexpeditionen hatten.» Es ist anzunehmen, dass die Frauen bis zu 80 Prozent der täglichen Nahrung produzierten. Dies verschaffte den Frauen eine gewisse Machtstellung, die sich zum Beispiel bei den Irokesen in der Weise manifestierte, dass die Frauen ein Mitspracherecht bei Entscheidungen über Jagdexpeditionen und Kriegszügen hatten. Wenn sie es ablehnten, den Männern Proviant mitzugeben, mussten mitunter Jagd- und Kriegszüge abgeblasen werden. Archäologische Funde zeigen, dass die ältesten Werkzeuge Behälter waren, um Nahrung aufzusammeln: Körbe, Behälter aus Blättern oder Rinden und Krüge, offensichtlich lauter Erfindungen von Frauen, so wie auch der Grabstock und die Hacke für den frühen Ackerbau. Die von Männern erfundenen Werkzeuge dagegen waren Wurfspiesse sowie Pfeil und Bogen für die Jagd. So waren die Werkzeuge der Frauen eigentliche «Produktionsmittel, die dazu dienten, etwas Neues zu produzieren und das Produzierte zu transportieren und aufzubewahren. Die Jagdinstrumente jedoch, die Waffen, konnten für keinen anderen Zweck benutzt werden als zum Töten.» Und so wie Tiere getötet werden konnten, so konnten auch Menschen getötet werden – der «Ursprung ungleicher und ausbeuterischer gesellschaftlicher Verhältnisse und einer asymmetrischen Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen. Das gab den Jägern eine Macht über lebende Wesen, Tiere und Menschen. So konnten sie sich auch mit Hilfe der Waffen andere Produzentinnen und Produzenten aneignen und unterwerfen. Indem die Jäger nicht nur Tiere jagen, sondern auch Dörfer anderer Gruppen überfallen konnten, hatten sie auch die Möglichkeit, unbewaffnete Frauen und Kinder zu rauben und sich als Beute anzueignen – erste Formen von Privateigentum. Durch das Monopol der Männer über Zwangsmittel, Waffen und direkte Gewalt konnten permanente Herrschaftsbeziehungen zwischen den Geschlechtern aufgebaut und erhalten werden. Bis heute dient die Produktion von Waffen zur Sicherung eines störungsfreien Zuflusses von billigen Rohstoffen aus den Ländern des Südens in die Länder des Nordens. Die internationale Arbeitsteilung würde sofort zusammenbrechen, wenn sie nicht, in letzter Instanz, durch die militärische Überlegenheit der kapitalistischen Industrieländer aufrechterhalten würde.»

Wie eng die gegenseitige Verflechtung von Patriarchat, Kriegsführung und Terrorregimen ist, sehen wir nur schon daran, dass sämtliche Kriege in Vergangenheit wie Gegenwart nahezu ausschliesslich von Männern angeführt wurden und werden und sich auch unter Diktatoren und Despoten, die ihre eigenen Völker mit eiserner Faust regierten und ihnen gegenüber vor keinen noch so grausamen Menschenrechtsverletzungen zurückschreckten, fast ausnahmslos Männer befinden, von Alexander dem Grossen und Ivan dem Schrecklichen über Francisco Pizarro, Hernando Cortez und König Leopold II von Belgien, Adolf Hitler, Idi Amin und Pol Pot bis Benjamin Netanyahu und den sudanesischen Generälen Abdelfatah Burhan und Mohammed Hamdan Daglo, die anfänglich eng befreundet waren, sich dann aber dermassen zerstritten und sich gegenseitig Rache schworen, dass daraus einer der schlimmsten Kriege unserer Zeit entstand, dem bereits über zehntausend Menschen, zu einem grossen Teil Frauen und Kinder, zum Opfer gefallen sind und der rund sechs Millionen Menschen in die Flucht geschlagen hat. Und das ist nur ein ganz kleiner Ausschnitt aus einer endlosen Liste machtbesessener Männer, von denen die meisten kaum jemals daran gedacht hätten, selber in den Krieg zu ziehen, und die sich stattdessen in sicheren Bunkern und hinter meterdicken Mauern verschanzt hatten und es sich dort wohl ergehen liessen, während unzählige Unschuldige qualvoll für sie leiden und sterben mussten.

Ebenso lang oder vermutlich noch viel länger wäre die Liste der Namen von Pazifistinnen, von Frauen, die oft ihr ganzes Leben dem bedingungslosen Einstehen für eine Welt ohne Waffen und ohne Krieg verschrieben: Bertha von Suttner, Margarete Selenka, Anita Augsburg, Lida Heymann, Minna Cauer, Jane Addams, Edith Ballantyne, Eleonore Romberg, Hedwig von Pötting, Sophie Scholl oder Olga Karach – um nur ein paar ganz wenige von ihnen zu nennen. Doch ihre Namen suchen wir in den allermeisten Geschichtsbüchern vergebens. Obwohl sie sich infolge ihres mutigen und selbstlosen Auftretens in kriegerischen Zeiten grösster Feindseligkeit und nicht selten sogar Lebensgefahr aussetzten und eigentlich als die wahren Heldinnen ihrer Zeit gefeiert werden müssten. Doch die gleiche patriarchale Geschichtsschreibung, welche die Namen der grössten Verbrecher der Menschheitsgeschichte unsterblich gemacht hat, droht ihre Namen, die Namen der Friedenskämpferinnen und all ihrer Mitstreiterinnen, Millionen und Abermillionen namenloser Mädchen und Frauen über Jahrhunderte hinweg, für immer auszulöschen.

PATRIARCHAT UND KAPITALISMUS HAND IN HAND

Patriarchale Macht- und Ausbeutungsverhältnisse gab und gibt es zweifellos auch in vorkapitalistischen Zeiten und in nichtkapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystemen. Aber im Kapitalismus hat das Patriarchat sozusagen einen seiner zuverlässigsten Verbündeten gefunden, beruht der Kapitalismus im Innersten doch auf den genau gleichen Grundprinzipien wie das Patriarchat. «Wie die Kolonien und wie die Natur», so Maria Mies, «so werden im Kapitalismus auch die Frauen als freie Güter betrachtet und auf diese Weise praktisch ohne grosse Kosten ausgebeutet. Diese Kolonisierung von Ländern, Frauen und Natur bildet die Grundlage für den raschen Aufstieg der westlich-kapitalistischen Industrieländer. Ohne all diese Gewalt wäre er nicht möglich gewesen.»

Und hier schliesst sich der Kreis von der Auslöschung der amerikanischen Urbevölkerung über die Hexenverfolgungen bis zur auch in unseren Tagen ungebrochen weitergeführten Ausplünderung der Erde auf Kosten zukünftiger Generationen. Heute, Hunderte Jahre später, empören wir uns über die barbarische Auslöschung der indigenen Urbevölkerung Nordamerikas, über die unfassbaren, von den spanischen und portugiesischen Konquistadoren an den Indios in Zentral- und Südamerika begangenen Grausamkeiten, über die Zwangsdeportation und Versklavung von bis zu 15 Millionen Afrikanerinnen und Afrikanern, über die Ausschweifungen des Sonnenkönigs und seines Gefolges in Versailles und über die unbeschreiblichen, von Männern an Frauen verübten Entsetzlichkeiten im Zuge der Hexenverfolgungen, ganz so, als wären dies alles nur einzelne, voneinander unabhängige Erscheinungen in der Geschichte der Menschheit, von denen jede einen ganz bestimmten Anfang und ein ganz bestimmtes Ende hatte. Tatsächlich aber fand dies alles mehr oder weniger zur gleichen Zeit statt und waren dies alles logisch in sich miteinander verbundene Ausprägungen jenes im Grunde immer gleichen, in sich miteinander verbundenen kapitalistischen Grundprinzips, immer mehr natürliche Ressourcen und immer mehr menschliche Arbeitskraft in immer höhere Profite für die Reichen und Mächtigen umzuwandeln bis zum heutigen Tag.

«Der gesamte Aufstieg der modernen Naturwissenschaft und Technik», so Maria Mies, «gründete letztlich auf nichts anderem als einem gewaltsamen Angriff und einer Vergewaltigung der Mutter Erde. So etwa empfahl Francis Bacon, einer der Väter der modernen Naturwissenschaft, im Bestreben, der Mutter Natur ihre Geheimnisse zu entreissen, die gleichen gewalttätigen Mittel, wie sie von Kirche und Staat benutzt wurden, um zu den Geheimnissen der Hexen vorzustossen, nämlich Folter und Inquisition. Die Tabus gegenüber dem Bergbau, dem Graben von Löchern in den Leib der Mutter Erde, wurden gewaltsam gebrochen, weil die neuen Patriarchen an die wertvollen Metalle und andere Rohmaterialien herankommen wollten, die im Schoss der Erde verborgen waren. Der Aufstieg der modernen Naturwissenschaften, einer rein mechanistischen Weltanschauung, stützte sich auf das Töten der Natur als lebendigen Organismus und ihre Umwandlung in ein gewaltiges Vorratslager an natürlichen Ressourcen, die vom Mann analysiert und in seine neuen Maschinen integriert wurden, mit denen er bestrebte, sich von der Natur mehr und mehr unabhängig zu machen.»  

Die “Sonntagszeitung” vom 4. August 2024 und der Nahostkonflikt: Haben bald nur noch Hardliner das Wort?

Gleich zwei absoluten Hardlinern in Sachen Nahostkonflikt erteilt die “Sonntagszeitung” vom 4. August 2024 das Wort und lässt damit jegliche Ausgewogenheit und demokratische Vielfalt auf geradezu fahrlässige Art vermissen. Es handelt sich einerseits um Shira Kaplan, ehemaliges Mitglied des israelischen Nachrichtendienstes (ausführliches Interview auf Seiten 2 und 3), anderseits um den Publizisten Markus Somm (Kolumne auf S. 17).

Schon der Titel des Interviews mit Shira Kaplan: “Was Israel durchmacht, wird auch auf die Schweiz zukommen” spricht Bände. Einmal mehr das Beschwören der Opferrolle Israels ohne Hinweis darauf, dass die palästinensische Bevölkerung im Gazastreifen seit dem 7. Oktober 2023 wohl unvergleichlich viel mehr mitgemacht und unvergleichbar viel mehr Opfer erbracht hat als die Bevölkerung Israels während dieser Zeit. Und einmal mehr die Solidarisierung der Schweiz mit Israel: Was Israel durchmacht, könnte schon bald auch die Schweiz durchmachen müssen…

Zur gezielten Tötung des Hizbollah-Kommandanten Fuad Shukr und des Hamas-Führers Ismail Haniya meint Kaplan: “Der Schlag zeigte: Wir sind doch zu etwas fähig.” Das mag sich auch die Regierung der USA nach den Atombombenabwürfen von Hiroshima und Nagasaki gedacht haben: Wir sind doch zu etwas fähig. Was für ein Armutszeugnis, wenn die beste eigene “Fähigkeit” bloss darin besteht, andere vernichten oder demütigen zu können, statt etwa darin, eine menschenwürdige Politik zu betreiben, sich um gewaltlose Konfliktlösungen zu bemühen, Menschenleben zu retten. Genau das alles aber hat Israel mit diesen “präzisen Vernichtungsschlägen” verhindert, indem Ismail Haniya ausgerechnet in dem Augenblick, als ein von ihm initiierter Vorschlag für einen Waffenstillstand im Gazastreifen kurz vor dem Durchbruch stand, “eliminiert” wurde. Haben Kaplan und ähnlich Denkende nicht einen einzigen Funken psychologischen Verständnisses? Ist ihnen wirklich nicht bewusst, dass mit jeder Demütigung des “Gegners” dessen Wut und Hass nur immer weiter angestachelt wird und das, was man angeblich zu vernichten versucht, dadurch nur immer noch stärker und mächtiger wird? Aber vermutlich wollen sie ja genau das und träumen schon von der letzten und grössten aller Schlachten mit dem Endsieg des “Guten” gegen das “Böse”.

Nach zehn Monaten Gazakrieg und den quälenden Fragen “Was machen wir da eigentlich? Ist es gut oder schlecht?” hätte nun, so Kaplan, glücklicherweise wieder das befreiende Gefühl Oberhand bekommen, “wir können etwas erreichen.” PR-mässig, so Kaplan, sei die Tötung des Hamas-Führers in Teheran ein “Coup” gewesen, den man zum Beispiel mit der Erschiessung von Osama bin Laden 2011 durch die USA vergleichen könne, und der “in aller Bescheidenheit” gezeigt habe, wie “kreativ” Israelis sind, wenn es darum ginge, “gute Lösungen zu finden”. Man kann nur noch leer schlucken…

Vehement wehrt sich Kaplan gegen jede Kritik an Israel “aus der sicheren europäischen Warte”: “Sorry, wir befinden uns zufälligerweise im Nahen Osten und stehen damit an der vordersten Front der westlichen Zivilisation.” Einer westlichen Zivilisation, die unter Führung der USA seit 1945 über 40 völkerrechtswidrige Kriege und Militärschläge geführt hat und 50 Millionen unschuldige Todesopfer und 500 Millionen Verletzte, Verstümmelte und für den Rest ihres Lebens Traumatisierte zurückgelassen hat…

Noch bunter treibt es Markus Somm in seiner Kolumne unter dem Titel “Von Israel lernen heisst siegen lernen”. Von Michael Gorbatschow und seinem weltberühmten Zitat, wonach man Kriege nicht gewinnen, sondern nur verlieren kann, und echte Siege nur im Schaffen von Frieden bestehen, scheint er noch nie etwas gehört zu haben. “Diese Woche”, so Somm, “hat Israel von neuem bewiesen, dass es vermutlich die schlagkräftigste und intelligenteste Militärmacht der Gegenwart ist.” Wie pervers muss man denken, dass man eine Militärmacht, die innerhalb von zehn Monaten über 40’000 unschuldige Kinder, Frauen und Männer auf dem Gewissen hat, als “Intelligent” bezeichnen kann…

Wie für Kaplan, scheint auch für Somm das höchste Ziel die Demütigung des Gegners zu sein – ungeachtet aller daraus möglicherweise resultierender Gegenreaktionen in Form von Wut, Hass, Verbitterung, allfälligen Terroranschlägen oder gar kriegerischen Rachefeldzügen: “Was für eine Demütigung”, frohlockt Somm, “für das Regime der tödlichen Maulhelden in Teheran!” Die Botschaft sei zwar “primitiv”, doch: “Manchmal ist primitiv besser als kompliziert.” Merkt Somm eigentlich nicht, dass er mit seinen Ausführungen in höchstem Grade genau das betreibt, was er dem vermeintlichen “Gegner” unterstellt, nämlich Hass, Aufruf zu Gewalt, Kriegstreiberei? Ist Somm nicht selber das krasseste nur vorstellbare Spiegelbild jener Feinde, die er an die Wand malt? “Wer meint, mit ihnen philosophische Verhandlungen führen zu können ohne ihnen die Hölle heiss zu machen”, so die offensichtlich höchste Stufe seiner Erkenntniskraft, “bleibt besser in der Kaninchenzucht.” Krieg oder Frieden, so Somm, sei ja gar keine Frage mehr: “Der Krieg ist sowieso schon längst da. Wenn der Westen ihn gewinnen will – ob im Nahen Osten, in der Ukraine oder vielleicht bald in Asien -, dann helfen uns weder humanitäres Völkerrecht noch die UNO, regelbasierte Ordnungen oder gesundbetende Diplomatie, sondern allein eine hochgerüstete Armee und Politiker, die auch bereit sind, sie in Marsch zu setzen.”

Glücklicherweise ist Markus Somm keiner dieser Politiker, sonst wären wir vermutlich schon heute mitten im dritten Weltkrieg. Dass er regelmässig in der “Sonntagszeitung” mit seinen ewiggestrigen, hasserfüllten und geschichtsverleugnenden Theorien seine Kolumne füllen darf, ist schon schlimm genug. Besser wäre es wohl, er würde seinen eigenen Tipp befolgen und sich zukünftig ausschliesslich der Kaninchenzucht widmen, wobei einem selbst diese Tiere noch leid tun müssten. Doch fast noch schlimmer als seine sonntägliche Hasspredigt ist, dass eine der meist gelesenen Schweizer Zeitungen in der gleichen Ausgabe zwei derartig einseitigen Stimmen das Wort erteilt und weit und breit auch nicht die klitzekleinste redaktionelle Einordnung, Relativierung oder kritische Gegenfrage zu lesen ist. Selbst die Leserschaft scheint vor so viel Gewaltverherrlichung förmlich erschlagen zu sein: In der Ausgabe vom 11. August findet sich zumindest kein einziger Leserbrief, welcher der Empörung über so viel Hass und so viel Einseitigkeit Raum zu verschaffen versucht…

Olympische Spiele: Sie nennen es ein “Friedensfest”, tatsächlich aber ist es bloss eine andere Form von Krieg…

Und wieder sind der Jubel der einen und die bitteren Tränen der anderen nur um Millimeter und Tausendstelsekunden voneinander entfernt. Soeben sind acht der 55 Teilnehmerinnen des Frauentriathlons, Seite an Seite auf ihren Fahrrädern mit ihren Konkurrentinnen in horrendem Tempo um den Sieg kämpfend, auf dem nassen und glitschigen Boden ausgerutscht und mit voller Wucht knallhart auf dem Kopfsteinpflaster gelandet, ohne Hoffnung, jemals wieder zur Führungsspitze aufschliessen zu können – und schon durchläuft die strahlende Siegerin unter tosendem Applaus des Publikums das Zielband. Und während die weltbeste Turnerin mit einem Sprung, den noch nie zuvor eine ihrer Konkurrentinnen zu meistern vermochte, schon fast im Himmel des Olymps angelangt ist, muss eine andere Wettkämpferin, die als hoffnungsvolle, ehrgeizige junge Boxerin vom genau gleichen Traum der in unendlichem Glück schwimmenden Goldmedaillengewinnerin beseelt war, schon nach wenigen Sekunden aufgeben, weil ihr die Nase von ihrer Gegnerin dermassen brutal zertrümmert wurde und sie nun so benommen ist, dass sie sich beim nächsten noch so harmlosen Treffer ohne Zweifel kaum mehr wird auf den Beinen halten können. Man nennt es ein “Friedensfest”, bei dem sich die weltbesten Athletinnen und Athleten über alle Grenzen hinweg begegnen, um ihre körperlichen Kräfte, ihre Ausdauer, ihre Geschicklichkeit und ihren Mut aneinander zu messen. Tatsächlich aber ist es bloss eine andere Form von Krieg…

Am 26. September 2004 stürzte der belgische Radrennfahrer Tim Pauwels zu Tode, unmittelbar nachdem er einen Herzstillstand erlitten hatte. Am 26. November 2006 starb der Spanier Isaac Gálvez infolge eines Genickbruchs nach einem Sturz im Sechstagerennen von Genf. Am 31. März 2013 kollidierte der Uruguayer Marcélo Gracés bei der Vuelta Ciclista de Uruguay nach einem Lenkerbruch mit einem Begleitmotorrad und verstarb noch bei der Einlieferung ins Krankenhaus. Am 6. Oktober 2019 verlor der Italiener Giovanni Iannelli, nachdem er mit dem Kopf auf eine Betonplatte geprallt und sein Helm dabei zerbrochen war, das Leben. Am 16. Juni 2023 starb der Schweizer Gino Mäder bei der Tour de Suisse, einen Tag, nachdem er bei der Abfahrt vom Albulapass in eine 20 Meter tiefe Schlucht gestürzt war. Und das sind erst fünf von insgesamt 66 Todesfällen, die allein der Radrennsport in den vergangenen 20 Jahren gefordert hat, zu schweigen von einer noch viel höheren Anzahl von Verletzungen, die zwar nicht zum Tode führten, in vielen Fällen aber lebenslange schwerste Folgen für die Betroffenen hinterlassen haben. Und es ist ja nicht nur der Radrennsport, der so viele Opfer fordert. Auch die Liste von Todesfällen und schwersten Verletzungen in vielen anderen Disziplinen des Spitzensports wie Boxen, Kunstturnen, Tennis, Leichtathletik, Skifahren und vielen anderen wäre ellenlang. Mit Gesundheit hat der heutige Spitzensport auch nicht mehr das Geringste zu tun, eher mit dem Gegenteil…

Doch was treibt Menschen dazu an, solche Strapazen, Qualen, Leiden, Schmerzen, jahrelanges eisernes Training und das permanente Risiko schwerer oder sogar lebensgefährlicher Verletzungen auf sich zu nehmen? Es scheint dahinter so etwas wie eine Art ungeschriebenes Gesetz zu stecken, das man wohl am zutreffendsten als Konkurrenzprinzip bezeichnen könnte: Der Wettbewerb, der Wettkampf, das Feld, auf dem jeder Einzelne alles dafür gibt, besser, schneller, stärker, ausdauernder, mutiger zu sein als alle anderen, diese zu übertreffen, zu überflügeln, auszustechen, um am Ende – The winner takes it all, the loser’s standing small – als Einziger ganz zuoberst auf dem Podest zu stehen, auf alle anderen hinunterschauen zu können und vielleicht sogar in die Geschichte oder das Guinnessbuch der Weltrekorde einzugehen.

Doch ist der Spitzensport bei weitem nicht der einzige Lebensbereich, der von Wettbewerb und Konkurrenzprinzip beherrscht wird. Es beginnt schon in der Schule, beim gegenseitigen Kampf um möglichst gute Noten und die besten Zukunftschancen. Die ganze Arbeitswelt besteht aus nichts anderem als darum, besser und schneller zu sein als andere. Jedes Unternehmen will mehr Gewinn abwerfen und grössere Profite erwirtschaften als alle anderen. Jedes Land will im gegenseitigen Ranking der wirtschaftlich erfolgreichsten möglichst weit oben sein und alle anderen möglichst weit hinter sich zurücklassen. Jede Zeitung will mehr Leserinnen und Leserinnen als alle anderen, jeder Fernsehsender höhere Einschaltquoten als alle anderen, jeder Spielfilm und jede Theaterproduktion mehr Zuschauerinnen und Zuschauer als alle anderen, jede Flug- und jede Schifffahrtsgesellschaft mehr Passagiere als alle anderen, jeder neue Popstar ein grösseres Publikum und mehr verkaufte Tonträger als alle anderen Popstars je zuvor, jeder Teenager auf Tiktok mehr Smileys und Likes als alle anderen. Alles und jedes wird miteinander verglichen, bewertet, rangiert und ist von früh bis spät und rund um die Welt so sehr von Konkurrenzdenken und Wettbewerb geprägt, dass wir uns etwas von Grund auf anderes schon gar nicht mehr vorzustellen vermögen. Tief in uns allen scheint die Überzeugung verankert zu sein, genau dies, der gegenseitige Wettkampf um jeden Preis, entspringe der eigentlichen Natur des Menschen und sei die einzige und beste Art und Weise, um auf allen Lebensgebieten und Arbeitsfeldern dem Menschen die grösstmögliche Verwirklichung seiner Leistungsfähigkeiten und seiner Potenziale abzugewinnen.

Doch es ist nur jahrhundertelange Gewöhnung und weil wir nichts anderes kennen. Tatsächlich aber ist das Konkurrenzprinzip um jeden Preis so ziemlich das Absurdeste und Lebensfeindlichste, was man sich nur vorstellen kann. Denn es beruht auf einer fatalen Illusion, auf einer grandiosen Lüge, und nur weil alle diese Lüge für die Wahrheit halten, kann es weiterhin und in immer bedrohlicherem Ausmass sein Unwesen treiben.

Es ist die Illusion und die Lüge, dass alle zu allem fähig sind, wenn sie sich nur genug anstrengen, nur genug hart an sich arbeiten, nur genug Opfer erbringen, nur auf genug vieles verzichten. Denn jeder und jede, so wird es schon den kleinen Kindern erzählt, könne eines Tages ganz oben auf dem Podium stehen, es sei alles nur eine Frage des Willens und der richtigen Einstellung. Und so wie kleine Kinder an Märchen glauben, so glauben sie auch an dieses Märchen und beginnen davon zu träumen, selber eines Tages ein Prinz oder eine Prinzessin zu sein, der reichste und erfolgreichste Mensch der Welt – oder eben, als Gewinnerin oder Gewinner einer Goldmedaille in die Geschichte einzugehen. Und so sind dann auch allzu viele von ihnen bereit, ihre ganze Kindheit und Jugendzeit diesem Ziel zu opfern, schon im Alter von sechs Jahren um fünf Uhr morgens im kalten Wasser des Hallenbads als zukünftige Synchronschwimmerinnen Ausdauerübungen über sich ergehen zu lassen, bis ihnen fast die Luft ausgeht, sich als zukünftige Kunstturnerinnen und Kunstturner von ihren Trainern jede noch so herablassende Beschimpfung und Beleidigung gefallen zu lassen oder als zukünftige Fussballstars erbarmungslos über das Spielfeld hin und her gejagt zu werden, bis ihnen fast der Schnauf ausgeht.

Die Wahrheit ist, dass eben nicht alle alles erreichen können, selbst wenn sie sich bis zur totalen Selbstaufgabe anstrengen würden. Denn das Konkurrenzprinzip beruht darauf, dass ein jeder Sieg und ein jeder Erfolg des einen nur möglich wird durch die Niederlage und den Misserfolg eines anderen. Dass jedes Glücksgefühl der einen nur entstehen kann aus den Tränen, den Schmerzen und den Enttäuschungen vieler anderer. Dass die einen nur deshalb in der Sonne stehen können, weil sie es geschafft haben, alle anderen in den Schatten zu verdrängen. Dass die Siegerin nur deshalb ganz zuoberst auf dem höchsten Podest stehen kann, weil alle anderen nicht dort oben stehen. Dass einige wenige eben nur deshalb ihre Lebensträume verwirklichen können, weil unzählige andere dazu verdammt sind, sie für immer aufzugeben, auch wenn sie alles Menschenmögliche gegeben und sich mehr angestrengt haben, als sie es jemals für möglich gehalten hätten.

Auch in der Schule, wo jede gute Note nur deshalb eine gute Note ist, weil alle anderen schlechter sind. Auch in dem Modegeschäft, wo die Chefin jeweils am Ende des Monats eine Rangliste aufhängt, auf der ihre Mitarbeiterinnen gemäss des in diesem Monat erzielten Umsatzes abgestuft aufgeführt sind – verbunden mit dem stillen Vorwurf an die Letzte, sie hätte sich wohl einmal mehr viel zu wenig Mühe gegeben. Auch in der Gastronomie, im Tourismus, im Detailhandel, bei den Handwerksbetrieben: Erzielen die einen von ihnen bessere Monats- oder Jahresabschlüsse als in der entsprechenden Vorjahresperiode, dann geht das nur, wenn andere Betriebe im gleichen Zeitraum schlechtere Ergebnisse eingefahren haben. Doch solange die Lüge aufrecht erhalten bleibt, wonach alle alles erreichen können, wenn sie denn nur wollen, solange werden alle, welche die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen, stets die Schuld nur bei sich selber suchen und nie bei jener Lüge, die dahinter steckt und alles zusammenhält. Es wird denn auch nie das Ganze in Frage gestellt bzw. neuen Regeln unterworfen oder gar “therapiert”. Therapiert werden nur die einzelnen Individuen, die dem Gesamtsystem zu wenig Nutzen bringen oder bereits dermassen überarbeitet, ausgelaugt oder ihres gesamten Selbstwertgefühls beraubt sind, dass sie nicht mehr “systemkonform” weiterfunktionieren können.

Das Konkurrenzprinzip und der allgemein gegenwärtige Wettbewerb machen den Menschen zum Feind seiner selbst. Wenn die chinesische Kunstturnerin länger und härter trainiert als je zuvor, zwingt sie, ob sie will oder nicht, alle ihre weltweiten Konkurrentinnen von Brasilien über Frankreich bis Russland dazu, ebenfalls noch länger und härter zu trainieren denn je. Wenn der Postbote des Unternehmens X in noch kürzerer Zeit noch mehr Pakete verteilt als je zuvor, dann zwingt er, ob er will oder nicht, alle Postboten und Postbotinnen der Firma Y dazu, ebenfalls in noch kürzerer Zeit noch mehr Pakete zu verteilen, weil ja alle miteinander unter dem gleichen permanenten Druck stehen, im gegenseitigen Konkurrenz- und Verdrängungskampf nicht unterzugehen. Ob Pizzakuriere, die keine Zeit mehr haben für eine Pause und unterwegs in eine mitgebrachte Flasche pinkeln müssen, ob die Arbeiterinnen und Arbeiter amerikanischer Schlachthöfe, die, weil auch ihnen nicht genügend Pausen gegönnt werden, in Windeln zur Arbeit gehen müssen, ob die Bananenarbeiterinnen in Costa Rica und jene an der Elfenbeinküste und jene auf den Philippinen, deren Unternehmen auf dem Weltmarkt gegenseitig um die grössten Marktanteile kämpfen, ob die Kinder in der Schule, die im permanenten gegenseitigen Wettkampf um die besten Noten und die besten Zeugnisse stehen: Je mehr sich die einen anstrengen, umso mehr sind die anderen gezwungen, sich noch mehr anzustrengen – das Konkurrenzprinzip ist das beste, effizienteste und raffinierteste Mittel, alle zu immer höheren Leistungen anzutreiben, die Peitsche in den Händen der Sklaventreiber des 21. Jahrhunderts, der gegenseitige Überlebenskampf in tödlichem Wasser, wo nicht genügend Rettungsringe für alle vorhanden sind und alle deshalb gezwungen sind, sich gegenseitig diese Rettungsringe unter Aufbietung aller Lebenskraft aus den Händen zu reissen.

Das besonders Fatale daran ist, dass sich dieser gegenseitige, tödliche Konkurrenzkampf aller gegen alle naturgemäss immer weiter verschärft. Da es an der Spitze immer enger wird, muss stets eine immer noch grössere Leistung erbracht werden, um sich gegenüber der Konkurrenz wenigstens einen auch noch so winzigen Vorteil zu verschaffen. Aufwand und Ertrag klaffen immer mehr auseinander, für einen immer kleineren Zugewinn auf der einen Seite müssen immer grössere Opfer auf der anderen Seite erbracht werden. Für den Rest des Lebens kaputttrainierte Körper, die explosionsartige Zunahme von Burnouts auf den Chefetagen, die immer weiter ansteigende Zahl von Depressionen und Suizidversuchen Jugendlicher, zunehmender Drogen- und Medikamentenkonsum, immer längere Warteschlangen vor den Türen von psychotherapeutischen Beratungsstellen, Behandlungszimmern, Therapieräumen und Kliniken: Das ist alles kein Zufall, sondern nur die ganze logische Folge des sich naturgemäss immer weiter verschärfenden Konkurrenzprinzips, vergleichbar einem Karussell, das sich immer schneller dreht und in dem es immer schwieriger wird, sich an den einzelnen Sitzen festzuklammern, um nicht in ein unbestimmtes, bedrohliches Nichts hinausgeschleudert zu werden.

Immer wieder wird behauptet, dies alles liege in der Natur des Menschen. Schon die kleinsten Kinder würden es lieben, sich in gegenseitigem Wettstreit zu messen. Was für eine Unterstellung, was für eine Projektion von Phantasien Erwachsener auf das eben erst erwachte Leben der Kinder. Gerade sie zeigen uns doch am deutlichsten, dass der gegenseitige Wettkampf um Erfolg und Misserfolg eben nicht in der Natur des Menschen liegt. Es stimmt, dass ein Kind zu weinen und zu schreien beginnt, wenn ein anderes zwei Spielzeuglastwagen hat und es selber keinen. Es will das, was andere auch haben. Aber das hat nichts zu tun mit Konkurrenzkampf, sondern nur mit dem elementaren Anspruch auf Gerechtigkeit. Lässt man die kleinen Kinder in Ruhe, so zeigen sie ein so hohes Mass an sozialem Verhalten und sind immer darauf bedacht, alles gerecht untereinander zu verteilen, dass wir Erwachsene nur staunen müssten und immer wieder von ihnen lernen könnten. Viel zu schnell aber leben wir ihnen das Gegenteil vor und müssen uns dann freilich nicht wundern, wenn auch die Kinder möglichst schnell in unsere Fussstapfen treten wollen und nach und nach der Wunsch, stärker, besser und reicher zu sein als andere, das ursprünglich so tief verwurzelte soziale Verhalten nach und nach zu verdrängen beginnt.

Auch ein Blick in die Geschichte der Menschheit zeigt, dass das Konkurrenzprinzip nur eine von vielen, aber beileibe nicht die einzige Möglichkeit ist, wie das Arbeiten und das Zusammenleben in einer Gesellschaft organisiert werden können. Wie der an der Universität Wien lehrende Soziologe Khaled Hakami kürzlich in einem Interview mit der “NZZ am Sonntag” eindrücklich beschrieben hat, beruht zum Beispiel die Lebensphilosophie der Maniq, einem im südlichen Thailand wohnhaft indigenen Volk, auf einem von Grund auf anderen Wertesystem. Tätigkeiten der täglichen Arbeitswelt werden nicht unterschiedlich bewertet, nichts ist mehr oder weniger wert als anderes. Es gibt keine Hierarchien, keine Anführer, keine sozialen, politischen oder ökonomischen Unterschiede und praktisch keine Gewalt. Es gibt keine Unterschiede zwischen den Geschlechtern und auch nicht zwischen Kindern und Erwachsenen. Ein Maniq würde nie auf die Idee kommen, auf einen Berg zu rennen oder an einen Strand zu wollen. Die Maniq arbeiten zwei bis vier Stunden am Tag, das reicht, um die nötigen Nahrungsmittel zu beschaffen. Den Rest der Zeit ruhen sie sich aus, liegen herum, rauchen, kuscheln und – modern ausgedrückt – chillen. Das Vergleichen ist ihnen fremd. Sie haben in ihrer Sprache, in der es weder einen Komparativ noch einen Superlativ gibt, nicht einmal die Möglichkeit dazu, ebenso wie es auch keine Vergangenheits- und Zukunftsformen gibt. Die Maniq kennen viele Spiele, aber kein einziges, bei dem man gewinnen oder verlieren kann – ihre Spiele enden dann, wenn einer keine Lust mehr hat. Jeglicher Wettbewerb ist ihnen völlig fremd. Zudem sind sie durch und durch friedfertig und gehen sich bei Streitigkeiten aus dem Weg. Auch kennen sie kein Konzept von Eigentum – wenn sie etwas brauchen, nehmen sie es sich einfach. An Dingen wie Smartphones, Messern oder anderen Objekten der “zivilisierten” Welt zeigen sie absolut kein Interesse. “Unsere westliche Welt”, so Khaled Hakami, “ist für sie vollkommen bedeutungslos”, und er fügt hinzu, dass die Lebensphilosophie der Maniq, gesamtgeschichtlich betrachtet, nicht eine seltene Ausnahme bildet, sondern das verkörpert, was während der weitaus längsten Periode der Menschheitsgeschichte Normalität war: “So wie wir westliche Menschen heute ticken, haben die meisten Menschen, die je auf diesem Planeten gelebt haben, nie getickt.”

Es ist für uns westliche, “moderne” Menschen, zutiefst beseelt von einem kaum je in Frage gestellten “Fortschrittsglauben”, offensichtlich kein Thema, dass sich Geschichte auch in eine andere Richtung bewegen könnte als nur in jener einer permanenten Profitmaximierung, Leistungssteigerung und technologischer Perfektionierung. Doch nur schon das Wort “Fortschritt” zeigt uns, dass wir uns, mit dem ständigen Blick in eine noch “perfektere” Zukunft, gleichzeitig auch von etwas anderem “fort” bewegen, was nicht a priori schlechter gewesen sein muss als alles “Moderne”. Käme man zur Erkenntnis, dass wir an einer bestimmten Stelle der Menschheitsgeschichte falsch abgebogen sind, was sollte uns dann daran hindern, zu dieser Stelle zurückzugehen und nochmals nachzuschauen, ob es nicht vielleicht einen besseren Weg gegeben hätte. So wie sich jedes Individuum irren kann, so kann sich auch die Menschheit als Ganzes irren. Doch wäre es nicht ein Zeichen grösster Intelligenz, sich einen solchen Irrtum auch ehrlich einzugestehen und daraus die notwendigen Schlüsse zu ziehen?

Doch auch wenn wir nicht rechtzeitig zu einer solchen Einsicht gelangen, wird uns das Leben früher oder später schlicht und einfach dazu zwingen. Denn bald schon werden die Opfer des weltweiten Konkurrenz- und Wettkampfs aller gegen alle so gross sein, dass sich die daraus entstehenden Probleme auch rein ökonomisch nicht mehr werden bewältigen lassen. Und dann wird und muss das Zeitalter des Gegeneinander ein Ende haben und einem neuen Zeitalter des Miteinander Platz machen. Dann werden wir vielleicht eher wieder so leben wie die Maniq im Süden Thailands und alle unsere Begabungen und Lebenskräfte nicht mehr nur darauf verwenden müssen, potenzielle Konkurrenten aus dem Feld zu schlagen, sondern dazu, unser Bestmögliches zum Gelingen und zum Wohl des Ganzen beizutragen. Doch müssen wir wirklich so lange warten, bis alles von selber zusammenbricht? Müssen wir wirklich noch so viele unzählige Opfer in Kauf nehmen? Wäre es nicht jetzt schon höchste Zeit für ein radikales Umdenken zum Wohle aller?

Und um auf den Ausgangspunkt dieses Artikels, die Olympischen Spiele, zurückzukommen: Höchstmögliche körperliche und akrobatische Leistungen werden auch in einem neuen Zeitalter des Miteinander zu bewundern sein. Aber nicht mehr in römischen Amphitheatern, bei Gladiatorenkämpfen, in Wettkampfarenen und bei olympischen Spielen im Kampf aller gegen alle um die paar wenigen goldenen, silbernen und bronzenen Medaillen, während alle anderen leer ausgehen. Sondern auf Plätzen mitten in den Städten, auf einem Dorffest oder in einem Zirkus, wo Menschen ihre besten und aussergewöhnlichsten Talente zur Schau stellen können, nie irgendwer mit irgendwem verglichen wird, alle Formen von Ranglisten für immer der Vergangenheit angehören und das Glück, der Triumph und der Erfolg der einen zugleich immer auch das Glück, der Triumph und der Erfolg aller anderen sind.

(Nachtrag am 3. August 2024: Anlässlich der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Paris inszenierten die Sängerin Juliette Armanet und der Pianist Sofiane Pamart auf einem Floss in der Seine treibend und mit einem brennenden Flügel John Lennons “Imagine”. Am polnischen TV-Sender TVP kommentierte ein Moderator diese Darbietung mit folgenden Worten: “Eine Welt ohne Himmel, ohne Nationen und ohne Religion, das ist eine Friedensvision, die alle ergreifen sollte.” Im Anschluss an die Sendung wurde er entlassen.)

(Nachtrag am 4. August 2024: An den Olympischen Spielen in Paris stemmte sich die Slowakin Tamara Potocká nach ihrem Vorlauf über die 200 Meter Lagen aus dem Becken, brach zusammen und blieb bewusstlos liegen. Später sagte sie: “Ich habe mir gesagt, dass ich alles geben werde und meine Seele im Pool lassen werde.”)

(Nachtrag am 9. August 2024: Seit einer Woche wird heftigst diskutiert, ob die algerische Boxerin Imane Khelif aufgrund ihres männlichen Geschlechtsstatus an den Wettkämpfen der Frauen an den Olympischen Spielen teilnehmen dürfe oder nicht. Es sind zahlreiche Fälle dokumentiert, in denen Sportlerinnen in solchen Fällen schon Suizid begangen haben. Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs. Im Grunde ist Wettbewerb immer unfair. Denn die Hochspringerin mit den längeren Beinen hat nun mal naturgemäss grössere Chancen als die mit den kürzeren Beinen. Der Skirennfahrer Beat Feuz saust dank seines überdurchschnittlichen Körpergewichts logischerweise schneller ins Tal als seine leichteren Mitkonkurrenten. Und die 14jährige Turnerin hat nun mal biegsamere Gelenke als die 24Jährige. Die einzige logische Schlussfolgerung aus dieser Erkenntnis ist, dass Vergleichen immer absurd und ungerecht ist, sei es in der Schule, am Arbeitsplatz oder im Sport. Kein Mensch verfügt in irgendeinem Leistungsbereich über die genau identischen Voraussetzungen wie ein anderer. Man kann schlichtweg, wie es eine Schweizer Redenwendung sagt, Äpfel nicht mit Birnen vergleichen, auch nicht ein Krokodil mit einem Regenwurm, auch nicht Max mit Röbi. Also: Finger weg vom Vergleichen, vom Wettbewerb, vom Konkurrenzprinzip, das immer nur dem “gerecht” wird, der die besseren Voraussetzungen mitbringt.)

(Nachtrag am 18. August 2024. Was ebenfalls kaum je thematisiert wird, wenn die “erfolgreichsten” Nationen nach Olympischen Spielen ihre Medaillen zusammenzählen und ihre Ranglisten von den Besten bis zu den Schlechtesten veröffentlichen: Der Leistungsförderung in den reicheren Ländern stehen unvergleichlich viel höhere finanzielle Mittel zur Verfügung. Ihre Sportlerinnen und Sportler sind weitgehend mit viel Geld und allen weiteren zur Verfügung stehenden Raffinessen und Tricks aufgepumpte Leistungsmaschinen, gegen welche die Menschen in den ärmeren Ländern, selbst wenn sie noch so sportlich begabt wären, nicht die geringste Chance haben. Was wieder den Vergleich mit dem Krieg nahelegt, wo Pfeil und Bogen von Naturvölkern hoffnungslos unterlegen sind im Kampf gegen die Panzer und Raketen aus den Ländern der Reichen. Was für ein unsichtbares Potenzial, von dem niemand spricht. Selbst siebenjährige Kinder irgendwo in Indonesien oder auf einer der Pazifikinseln, die auf ihrem täglichen Schulweg gefährlichste Felswände überwinden oder sich durch den dichtesten Dschungel voller gefährlicher Tiere hindurchkämpfen müssen, vollbringen vermutlich grössere körperliche Leistungen als manch eine Europäerin oder ein US-Amerikaner, der soeben von den Olympischen Spielen in Paris mit einer Medaille nach Hause gekommen und dort wie ein Gott empfangen worden ist. Hätte nicht auch jene zwölfjährige Inderin, die zur Coronazeit ihren an einen Rollstuhl gefesselten Vater über 800 Kilometer weit über Strassen und Wege voller Steine und Löcher stiess, eine olympische Goldmedaille verdient?)

Klimawandel und vieles mehr: Der Kapitalismus darf nicht zerbrechen, nur die Menschen, die zu zerbrechlich sind und eine zu wenig dicke Haut haben, um ihn zu überleben…

“Die Schweiz muss sich besser an die Hitze anpassen”, titelt das Gratisblatt “20 Minuten” am 30. Juli 2024, dem Beginn einer prognostizierten Hitzewelle, bei der das Thermometer in einzelnen Regionen unseres Landes bis auf über 35 Grad ansteigen dürfte. “Wenn wir jetzt nichts unternehmen, wird die Hitzemortalität, die schon 2022 innerhalb eines einzigen Jahres schweizweit 623 Menschen das Leben gekostet hat, weiter zunehmen”, sagt die Umweltepidemiologin Ana Maria Vicedo-Cabrero und fordert eine “umfassende und systematische Strategie des öffentlichen Gesundheitswesens zum Schutze der Bevölkerung”. Als wirkungsvolle Massnahmen zur Prävention gegen mehr Sterbefälle nennt Vicedo-Cabrero unter anderem “angepasste Kleidung, Reduzierung körperlicher Aktivitäten und Verzicht auf Drogen- und Medikamentenkonsum”. Auch Grünen-Fraktionschefin Aline Trede ärgert sich, dass “zu wenig gemacht wird und vor allem zu wenig koordiniert”. Dabei, so Trede, seien die Grundlagen darüber, was helfe, schon längst klar. So etwa könnten “fliessendes Wasser, angepasste Bäume und Entsiegelungen” in den Städten für deutlich mehr Abkühlung sorgen.

Der weltweite Kampf gegen den Klimawandel, von dem vor nicht langer Zeit noch die Rede war, scheint sich mittlerweile also nur noch darauf zu beschränken, mit was für Massnahmen die eigene Bevölkerung möglichst wirksam vor den Gefahren zunehmender Hitze geschützt werden kann. So empfiehlt auch das Bundesamt für Gesundheit: Mindestens 1,5 Liter Wasser sollten an einem Hitzetag getrunken werden, Alkohol sei zu meiden, der Konsum von zucker- und koffeinhaltigen Getränken sei zu reduzieren, fettarme Nahrung sei zu bevorzugen, der Körper sollte regelmässig durch kaltes Duschen oder Baden, Lotionen oder Kältepackungen abgekühlt werden, zu Hause sollten tagsüber die Fenster geschlossen werden, Lüften sollte man nur abends, nachts oder morgens früh, körperliche Aktivitäten sollten wenn möglich auf die Morgen- und Abendstunden verschoben werden.

Was für eine Diskrepanz zu jener in der Anfangszeit der grossen Klimademonstrationen immer wieder erhobenen Forderung nach einem “System Change”, einer grundlegenden gesellschaftlichen und ökonomischen Neuorientierung, ausgehend von der Erkenntnis, dass eine auf unbegrenztes Wachstum und unbegrenzte Profitmaximierung fixierte Wirtschaft und das Ziel einer massiven Reduktion der CO2-Emissionen unmöglich miteinander in Einklang gebracht werden können. Auf höchst erschreckende Weise scheint diese so grundlegende, zentrale und alles entscheidende Erkenntnis voll und ganz auf der Strecke geblieben zu sein: Von einem “System Change” spricht heute fast niemand mehr. Die weit überwiegende Mehrheit der Menschen in den reichen Ländern und die Angehörigen einer wachsenden Oberschicht in den armen und ärmsten Ländern der Welt fliegen auf Teufel komm raus und in immer grösserer Zahl über alle Kontinente, als wäre nichts geschehen. Doch nicht nur das Reisen, auch unzählige andere Luxusvergnügungen, die sich eine privilegierte und immer reicher werdende Minderheit der Weltbevölkerung zu leisten vermag, schlagen alle Rekorde. Nur noch ein paar wenige “Unverbesserliche” tragen die Hoffnungen, von denen eben noch Millionen junge Menschen weltweit erfüllt waren, in ihren Herzen und müssen zu immer drastischeren Mitteln greifen, um überhaupt irgendwie noch wahrgenommen zu werden, während Millionen andere längst schon alle Hoffnungen auf eine lebenswerte Zukunft wohl für immer begraben haben.

Selbst Menschen, die eben noch an vorderster Front für ein radikales “Umdenken” und ein neues “Wertesystem” eintraten und von denen einige sogar von einer baldigen “Zeitenwende” träumten, scheinen sich kleinlaut damit abgefunden zu haben, dass sie heute bestenfalls noch “Expertinnen” und “Experten” sind beim Empfehlen von Massnahmen, mit denen sich eine sowieso schon höchst privilegierte, winzige Minderheit der gesamten Weltbevölkerung mit kühlem Wasser, Kältepackungen, Schatten, geschlossenen Fensterläden, wenig Bewegung, geringem Alkoholkonsum und fettarmer Ernährung gegen die zunehmende Hitze schützen kann, während siebenjährige Kinder in Indien bei 50 Grad auf endlosen Baustellen unter ihren Lasten fast zerbrechen, aus steinharter, tief vertrockneter Erde sich in immer weiter und weiter ausbreitenden Zonen des Südens kaum noch etwas Essbares herausarbeiten lässt, ganze Inselvölker ihre Häuser im Kampf gegen einen unerbittlich steigenden Meeresspiegel für immer zu verlieren drohen und selbst in den “wohlhabenden” Ländern des Nordens Strassenarbeiter beim Ausgiessen von 160 Grad heissem Asphalt und Landarbeiterinnen beim Ausstechen von Spargeln selbst zur heissesten Mittagszeit wohl nur ein müdes Lächeln übrig haben können, wenn irgendein “Gesundheitsexperte” in seinem vollklimatisierten Büro die Empfehlung herausgibt, schwere körperliche Arbeit sei in die frühen Morgenstunden oder späten Abendstunden zu verlegen.

Was für ein Triumph für all jene, die, als vor fünf Jahren Millionen von jungen Menschen weltweit mit dem Slogan “System Change” auf die Strasse gingen, schon das Weiterbestehen des kapitalistischen Wirtschaftssystems in Gefahr sahen. Nun können sie wieder aufatmen. Die Gefahr ist vorüber. Statt die Ursache zu bekämpfen, werden wieder einzig und allein nur die Symptome bekämpft. Statt das System den Menschen anzupassen, wird nun wie eh und je wieder alles daran gesetzt, die Menschen dem System anzupassen. Auch der Skirennfahrerin, die nach einem lebensgefährlichen Sturz das Abtragen einer besonders gefährlichen Schanze fordert, wird von den Rennverantwortlichen gesagt, sie hätte offenbar ihren Beruf verfehlt. Der Kunstturnerin, die sich beim Training den Knöchel gebrochen hat, wird nicht erlaubt, das Training abzubrechen, es wird ihr einfach ein genug dicker Verband angelegt, sodass sie trotz fast unerträglicher Schmerzen das Training fortsetzen kann. Als sich der Postbote bei seinem Vorgesetzten über starke Rückenschmerzen beklagt, die infolge der immer schwereren Pakete und des zunehmenden Zeitdrucks seit Monaten immer mehr zugenommen hätten, wird ihm gesagt, er könne ja kündigen und bei der Konkurrenz eine neue Stelle antreten. Als ein siebzehnjähriger Lehrling auf einer Baustelle infolge einer Betonplatte, die auf seinen Rücken fiel, verstirbt, wird bloss sein direkter Vorgesetzter zur Rechenschaft gezogen, mit keinem Wort aber das dahinter steckende System ständig zunehmenden Zeitdrucks infolge der gnadenlosen Vorgaben von Bauherren, Immobilienfirmen und Investoren auch nur ansatzweise in Frage gestellt. Als ein dreijähriger Bub von einem Lastwagen überrollt wird und seinen schweren Verletzungen erliegt, wird dem Fahrer der Führerschein entzogen, doch an den internen Richtlinien der Firma, welche die Einhaltung der ohnehin schon äusserst knapp bemessenen maximal zulässigen Fahrzeiten bis fast auf die Sekunde reglementieren, wird auch nicht ein einziger Punkt oder ein einziges Komma geändert.

Total überarbeitete und ausgelaugte Angestellte in Führungspositionen, die sich jeden Tag nur noch qualvoll zur Arbeit schleppen, werden zum Psychiater oder in eine Burnoutklinik geschickt, um für ihren Job so schnell wie möglich wieder fit zu werden, ohne dass bei den Arbeitsabläufen der Firma auch nur das Geringste geändert würde. Der Pflegerin im Altersheim, die von einer extrem aggressiven und widerspenstigen Patientin fast zu Tode gebissen worden wäre und nun wünscht, zukünftig bei solchen Einsätzen von einem männlichen Mitarbeiter begleitet zu werden, wird beschieden, dass dies infolge der einzuhaltenden Sparmassnahmen leider nicht möglich sei. Eine Laborantin, die nach 20 Stunden Arbeitseinsatz ohne Pause eine Blutprobe verwechselt hat, was beinahe zum Tod des betroffenen Patienten geführt hätte, nimmt sich das Leben, aber auch ihre Nachfolgerin muss infolge Personalmangels Einsätze von über 20 Stunden ohne Pause leisten und sich dabei permanent davor fürchten, früher oder später ebenfalls einen lebensbedrohlichen Fehler zu begehen. Der Friseurin, die unter fast unerträglichen Schmerzen in den Fingergelenken und ebenso in den Beinen, bedingt durch stundenlanges Stehen, leidet, schlägt ihre Chefin vor, ihr Arbeitspensum zu reduzieren, ohne zu bedenken, dass die alleinerziehende Mutter dann viel zu wenig verdienen würde, um den Lebensunterhalt für sich und ihre Tochter bestreiten zu können. Als eine Umfrage bei vierzehnjährigen Schülerinnen ergibt, dass immer mehr von ihnen dermassen unter dem schulischen Leistungs- und Prüfungsdruck leiden, dass Suizidversuche in erschreckendem Ausmass zugenommen haben, empfiehlt die zuständige pädagogische Fachstelle nicht etwa die Überprüfung der schulischen Vorgaben, sondern, dass sich diese Mädchen halt, zum Beispiel durch sportliche Betätigung, schlicht und einfach eine “dickere Haut” zulegen müssten. Wenn nach 300 fast pausenlos aufeinanderfolgenden Konzerten die Stimmbänder der Popsängerin versagen, wird ihr jede erdenkliche medizinische Hilfe zuteil, aber nur, damit sie so schnell wie möglich wieder auf der Bühne steht und auch die nächsten 300 Konzerte zur Zufriedenheit all derer, die damit ihr grosses Geld verdienen, einigermassen unbeschadet zu bewältigen vermag. Denn der Kapitalismus, auch wenn er noch so tödlich ist, darf nicht zerbrechen. Zerbrechen dürfen nur all jene, die offensichtlich zu schwach und zu zerbrechlich sind und eine zu wenig “dicke Haut” haben, um ihn zu überleben.

Als die Umweltepidemiologin Ana Maria Vicedo-Cabrero eine “umfassende und systematische Strategie des öffentlichen Gesundheitswesens zum Schutze der Bevölkerung” gefordert hat, habe ich mir darunter eigentlich etwas anderes vorgestellt. Aber dass alles mit allem zusammenhängt und sich ohne eine Überwindung des kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells alle jetzt schon mehr als genug grossen Probleme, Belastungen und Zukunftsbedrohungen bis hin zu einer möglichen Auslöschung der gesamten Menschheit infolge von Armut, Hunger, Krieg und Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen nur immer weiter verschärfen werden, solange bloss reine Symptombekämpfung betrieben und den tatsächlichen Ursachen von allem auf den Grund gegangen wird, von diesem Gedanken scheint die weit überwiegende Mehrheit der Menschheit zurzeit meilenweit entfernt zu sein, geblendet durch die ungebrochen wiederholten Heilsversprechen einer Minderheit Privilegierter, die aus allem Elend immer noch genug Nutzen ziehen und deshalb kein Interesse haben an einer grundlegenden Veränderung der bestehenden Machtverhältnisse. Bis auch sie, wie Bertolt Brecht einst sagte, hoch auf ihren goldenen Karossen “von den schwitzenden Zugtieren mit in den Abgrund gerissen werden.” Noch hätten wir es in der Hand, ein solches Ende zu verhindern. Doch was müsste geschehen, um es nicht so weit kommen zu lassen?

(Nachtrag am 20. August 2024: Der “Tagesanzeiger” berichtet über ein neu entwickeltes Projekt, bei dem junge Menschen ab 16 Jahren zu “Wellguides” ausgebildet werden, die mit Schülerinnen und Schülern über Ängste, Sucht und Essstörungen diskutieren sollen. Die “Wellguides” zeigen, wie man mit seiner psychischen Gesundheit umgeht und wo man sich Hilfe holen kann, sie zeigen als sogenannte “Mental-Health-Influencerinnen” in aufwendigen Powerpointpräsentationen voller koomplizierter Schemas, wie psychische Krankheiten entstehen, sprechen über Bewältigungsstrategien gegen Stress, weisen auf Internetquellen, Broschüren und Anlaufstellen hin und stellen meistens gleich auch noch die Schulsozialarbeiterin vor, die als Vertrauensperson stets zur Verfügung steht. Nur etwas wird mit keinem Wort erwähnt: Dass es sich bei alledem um reine Symptombekämpfung – und bloss ein weiteres lukratives Geschäftsfeld handelt – handelt, so lange nicht den tieferen Ursachen der psychischen Probleme auf den Grund gegangen wird. Typisch: In den Workshops ist immer wieder die Rede vom Einfluss der sozialen Medien und den durch Klimawandel und Kriege verursachten Ängste. Doch mit keinem Wort wird die Schule mit ihren steigenden Leistungsansprüchen, dem zunehmenden Stress, dem permanenten Prüfungsdruck und dem immer härteren gegenseitigen Konkurrenzkampf um gute Noten, Zeugnisse und Zukunftschancen erwähnt – und dies, obwohl in sämtlichen Umfragen bei Jugendlichen die Schule als Stressfaktor Nummer eins angegeben wird. Doch wird dieses System als etwas so Gottgegebenes, Unveränderbares und Unbeeinflussbares hingenommen, dass nur schon der erste Gedanke an eine mögliche Veränderung dieses Systems sozusagen einem generellen, heimlichen, nicht offen ausgesprochenen und doch einem alles beherrschenden Denkverbot unterworfen ist. Erneut hat auch innerhalb des vergangenen Jahrs die Zahl von Suizidversuchen Jugendlicher zugenommen und liegt jetzt bei fast fünf Prozent. Welche Prozentmarke muss wohl überschritten werden, bis endlich die “Heilige Kuh” Schule geschlachtet werden kann?)

“Wir brauchen kein schlechtes Gewissen zu haben”: Die absurden Ideen des “Wirtschaftshistorikers” Tobias Straumann zum Thema Kolonialismus…

“Die Menschen wollen hören, dass unser Wohlstand auf Blut aufgebaut ist” – so der Titel eines zweiseitigen Interviews mit dem “Wirtschaftshistoriker” Tobias Straumann in der “Sonntagszeitung” vom 28. Juli 2024. Schon mit dieser Aussage suggeriert Straumann, dass eine kritische Sicht auf die Geschichte des Kolonialismus offenbar nicht so sehr mit historischen Gegebenheiten begründet sei, sondern vielmehr ein Zugeständnis sei an ein Publikum, welches hören wolle, dass der westliche Wohlstand möglicherweise auf Verbrechen in der Vergangenheit beruhen könnte. Was für eine absurde Behauptung! Tatsächlich ist es doch genau umgekehrt: Die meisten Menschen wollen eben gerade nicht ein schlechtes Gewissen haben und möglichst nicht daran erinnert werden, dass unser westlicher Wohlstand auch eine ganz andere, dunkle Seite haben könnte. Umso wichtiger ist die wissenschaftliche Aufarbeitung der Zusammenhänge zwischen Reichtum auf der einen, Elend und Ausbeutung auf der anderen Seite. Aber davon will Straumann, wie die folgenden Ausschnitte aus dem Interview zeigen, offensichtlich ganz und gar nichts wissen.

Auf die Frage, ob die Schweizerinnen und Schweizer ein Volk von Ausbeutern, Profiteuren und Komplizen des Kolonialismus sei, antwortet Straumann mit der Gegenfrage: “Wie kommen Sie darauf?”, um dann weiter auszuführen: “Ein solches Bild ist völlig übertrieben.” Im Widerspruch dazu steht dann aber folgende Aussage: “Wir wissen schon lange, dass Schweizer Kaufleute bereits im 18. Jahrhundert sehr international orientiert waren und deshalb direkt oder indirekt mit Kolonialismus und Sklaverei zu tun hatten.” Aha, also doch? Gänzlich kann ja auch Straumann nicht sämtliche historische Tatsachen ausblenden. Und doch geht durch seine ganzen Ausführungen hindurch ein fast reflexartiges sich Aufbäumen und die Zurückweisung all jener Theorien, wonach die Schweiz einen wesentlichen Anteil ihres Wohlstands kolonialer Ausbeutung in Vergangenheit und Gegenwart verdanke: “Dass die Schweiz mitverantwortlich sei für das Elend der Welt”, so Straubhaar, “diese Behauptung ist historisch und theoretisch falsch.”

Vielmehr sei, so Straumann, der heutige Wohlstand der Schweiz – und damit auch der anderen westlichen Länder des globalen Nordens – sozusagen fast ausschliesslich der Eigenleistung dieser Länder zu verdanken: “Länder werden nur reich, wenn sie konstant die Effizienz und die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft durch Forschung, Entwicklung und Innovation zu steigern vermögen.” Deshalb kann Straumann auch den Thesen von Howard French, US-Publizist, Uniprofessor und Autor des Bestsellers “Afrika und die Entstehung der modernen Welt”, wonach erst die Gewinne aus dem transatlantischen Sklavengeschäft die europäische Industrialisierung ermöglicht hätten, ganz und gar nichts abgewinnen: “Diese These ist falsch, kein seriöser Historiker teilt sie.”

Was aber tatsächlich falsch ist, das ist nicht diese These von Howard French, sondern die Behauptung Straumanns, die europäische Industrialisierung – und damit die Grundlage des modernen Kapitalismus – hätte nichts zu tun mit dem transatlantischen Sklavengeschäft. Das pure Gegenteil ist der Fall. Nur dank der gnadenlosen Ausbeutung von rund 15 Millionen afrikanischen Sklavinnen und Sklaven auf den Plantagen und in den Bergwerken Amerikas konnten jene Profite erwirtschaftet werden, dank denen europäische Banken und Handelshäuser entstehen konnten und damit die finanzielle Basis für die Industrialisierung. Und nur weil alle hierzu benötigten Rohstoffe wie Baumwolle, Metalle, aber auch Landwirtschaftsprodukte wie Zucker, Kakao und Kaffee zu dermassen tiefen Preisen oder fast kostenlos aus dem Süden in den Norden verfrachtet wurden und dort zu industriellen Fertigprodukten verarbeitet und zu einem x-fach höheren Preis weiterverkauft werden konnten, wurden die Länder des Nordens immer reicher und verarmten die Länder des Südens gleichzeitig immer mehr – koloniale Ausbeutung, die bis zum heutigen Tag ungebrochen weitergeht: Wo früher in den Ländern des Südens Nahrungsmittel für die Eigenversorgung angebaut wurden, werden heute fast ausschliesslich Produkte angebaut, die für den Export in die reichen Länder bestimmt sind, der überwiegende Teil davon Luxusprodukte, die auf den Tischen der Reichen landen, und zwar in einem derartigen Überfluss, dass rund ein Drittel davon gar nicht konsumiert wird, sondern im Abfall landet – während gleichzeitig in den Ländern des Südens jeden Tag rund 10’000 Kinder schon vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs sterben, weil sie nicht genug zu essen haben.

Tatsachen, die heute in jeder einigermassen seriösen wissenschaftlichen Analyse zu finden sind. Ich frage mich, was für Bücher Tobias Straumann liest. Und ich frage mich, ob er sich noch nie gefragt hat, weshalb die Schweiz so reich ist. In Anbetracht der Tatsache, dass die Schweiz praktisch über keinerlei Bodenschätze verfügt und der Anteil der landwirtschaftlichen Nutzfläche weit geringer ist als in den meisten anderen Ländern, müsste die Schweiz nämlich eines der ärmsten Länder der Welt sein. Dass sie eines der reichsten ist, ist nur mit – kapitalistischen – Handels- und Ausbeutungsbeziehungen zu erklären: Grosskonzerne wie Nestlé verdanken ihre Riesengewinne nahezu ausschliesslich der Differenz zwischen tiefen Rohstoffpreisen und x-fach höheren Preisen für Fertigprodukte – von den zehn Franken, die wir bei Starbucks für eine Tasse Kaffee bezahlen, sieht die Kaffeebäuerin in Kenia, die zwölf Stunden pro Tag schuftet und mit ihrem Lohn dennoch ihre Familie kaum zu ernähren vermag, bloss ein paar wenige Rappen. Keinen Tropfen Öl finden wir in Schweizer Boden, kein Körnchen Gold und kein Körnchen Silber, keinen einzigen Diamanten, nicht ein Milligramm Lithium oder Kobalt – und doch verdienen Rohstoffkonzerne wie Glencore oder Xstrata mit dem Kaufen und Verkaufen dieser Produkte und mit ihrem Hin- und Herschieben über den gesamten Globus Milliardengewinne. Auch von den fast 8000 Milliarden Franken, welche auf Schweizer Banken liegen, stammt rund die Hälfte aus dem Ausland, gewonnen aus der Verwertung natürlicher Ressourcen und der Arbeitsleistung von Millionen von zu Hungerlöhnen schuftender Arbeiterinnen und Arbeiter in Ländern, wo es an allem mangelt. Laut der Entwicklungsorganisation Oxfam erwirtschaftet die Schweiz im Handel mit sogenannten “Entwicklungsländern” einen 50 Mal höheren Gewinn, als sie diesen Ländern in Form von “Entwicklungshilfe” wieder zurückerstattet. Wenn Straumann behauptet, der “Anteil der Schweizer Wirtschaft am globalen Kolonialismus” sei “unbedeutend” gewesen, so ist das nichts anderes als eine totale Geschichtsverfälschung. Kolonialismus besteht ja nicht nur darin, wie stark ein Land in den transatlantischen Sklavenhandel verstrickt war – obwohl auch hier die Schweiz durchaus ganz gehörig ihre Finger im Spiel hatte, wie mehrere neuere Studien belegen -, sondern vor allem auch darin, wie stark ein Land in das global installierte kapitalistische Wirtschafts-, Ausbeutungs- und Machtsystem integriert ist – und es wird wohl niemand ernsthaft bestreiten können, dass die Schweiz da an vorderster Front stets mit dabei ist, dieses Land, das Jean Ziegler dereinst sogar als “Gehirn des Monsters” bezeichnete.

Tatsachen, von denen Straumann offensichtlich nichts wissen will. Stattdessen versteigt er sich zu Behauptungen wie “Handel entsteht dann, wenn beide Seiten einen Gewinn daraus ziehen”, “Die überwiegende Mehrheit der Weltbevölkerung hat heute einen viel höheren Lebensstandard als praktisch alle Menschen, die vor 1800 lebten”, “Der Westen ist die einzige Kultur, welche die Sklaverei wirklich abgeschafft hat” und “Selbstkritik ist eine grosse Stärke der westlichen Kultur”. Aussagen, die jeglicher wissenschaftlicher Seriosität zutiefst widersprechen: Erstens wäre es ja schön, wenn Handel immer beiden Seiten zugute käme, aber diese Idealvorstellung existiert wohl nur in der naiven Traumwelt eines “Wissenschaftlers”, der selber zu jener Gesellschaftsschicht gehört, die von finanziellen Alltagssorgen fast gänzlich befreit ist und offensichtlich nicht mehr mitbekommt, dass die meisten “Handelsbeziehungen” stets auch mehr oder weniger krasse “Ausbeutungsbeziehungen” sind, in denen höchst selten alle über die gleich langen Spiesse verfügen, um ihre Interessen auch tatsächlich adäquat durchzusetzen. Zweitens trifft es zwar zu, dass ein grosser Teil der Weltbevölkerung über ein historisch einmalig hohes Niveau von Wohlstand verfügt, aber eine solche Behauptung verliert ganz und gar ihre Glaubwürdigkeit, wenn man nicht gleichzeitig auch darauf hinweist, dass die Einkommens- und Vermögensunterschiede weltweit ebenfalls in der Geschichte noch nie so gross waren wie heute und dass der “durchschnittliche” Wohlstand all jenen über 800 Millionen Menschen, die jeden Abend hungrig schlafen gehen, ganz und gar nichts nützt, und zudem der heutige “Wohlstand” zu einem überwiegenden Teil auf einer derart massiven Ausbeutung der natürlichen Lebensgrundlagen beruht, dass von diesem “Wohlstand” für zukünftige Generationen nur wenig oder vielleicht sogar überhaupt nichts mehr übrig bleiben wird. Drittens ist es geradezu zynisch, davon zu sprechen, der Westen sei die einzige “Kultur”, welche die Sklaverei abgeschafft habe. Bevor man sie nämlich abschaffen konnte, musste man sie erst einmal schaffen, und dies war ganz und gar ein Werk kapitalistisch-westlicher “Kultur”. Zudem verschweigt Straumann an dieser Stelle, dass sklavenartige Arbeitsverhältnisse bis in die Gegenwart andauern: Noch heute müssen gemäss Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation ILO weltweit 28 Millionen Menschen Zwangsarbeit verrichten, auf Baustellen, in Steinbrüchen, auf Feldern, in Minen, in Textilfabriken, als Hausangestellte oder in der Prostitution. 160 Millionen Kinder zwischen 5 und 17 Jahren sind gezwungen, einer Erwerbsarbeit nachzugehen, weil ihre Familien sonst nicht überleben könnten, viele von ihnen müssen unter gefährlichen Bedingungen arbeiten, sind giftigen Substanzen ausgesetzt oder müssen viel zu schwere Lasten tragen. Viertens ist auch die Behauptung, Selbstkritik sei eine “grosse Stärke der westlichen Kultur” in Anbetracht der Tatsache, dass die USA als führende westlich-kapitalistische Staatsmacht seit 1945 über 40 völkerrechtswidrige Kriege und Militärschläge mit über 50 Millionen Todesopfern angezettelt haben, ohne dass dies jemals zu Einsicht, Reue oder einer grundsätzlichen Neubesinnung geführt hätte, mehr als vermessen.

Befremdlich ist nicht nur, dass ein “Wirtschaftshistoriker” mit Fakten und Zusammenhängen, die doch eigentlich sein Forschungsgebiet sein müssten, dermassen einseitig und geradezu demagogisch umgeht, bloss um sein eigenes Weltbild aufrechtzuerhalten und gegen jegliche Störfaktoren zu verteidigen. Mindestens so befremdlich ist, dass ein allgemein als seriös und “objektiv” wahrgenommenes Informationsmedium wie die “Sonntagszeitung” solchen Ausschweifungen ganze zwei Zeitungsseiten zur Verfügung stellt, ohne wenigstens in Form eines redaktionellen Kommentars die eine oder andere Aussage zu relativieren, zu ergänzen oder kritisch zu hinterfragen. Auf erschreckende Weise wird in solchen Momenten deutlich, wie weit Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Medien offensichtlich schon zu einem Machtsystem verschmolzen sind, das bereits als völlig “normal” und “alternativlos” hingenommen wird und keine grundsätzlich anderen Sicht- und Denkweisen mehr zulässt. Mitgeschrieben von einem “Wirtschaftshistoriker”, von dem man eigentlich erwarten würde, ein bisschen etwas sowohl von Wirtschaft wie auch von Geschichte zu verstehen, und der sogar so anmassend ist, seine eigene “Wahrheit” als die einzig richtige darzustellen und allen anderen vorzuwerfen, sie hätten bloss populistische Motive und würden nur deshalb die Geschichte des Kolonialismus kritisch analysieren, weil dies gerade “im Trend” und nun leider auch “auf die Schweiz übergeschwappt” sei.