Böses Erwachen nach der Wahl von Donald Trump: Höchste Zeit für eine radikale Selbstkritik

Gross war auch in der Schweiz in linken und intellektuellen Kreisen das Entsetzen über die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten. Gründe dafür wurden hauptsächlich bei den viel zu vielen “ungebildeten” Menschen gesucht, die sich von diesem “Populisten” und “Demagogen” – einige bezeichnen ihn sogar als “Faschisten” – hätten über den Tisch ziehen lassen. Nur von Selbstkritik war praktisch nichts zu hören.

Dabei wäre es aus linker und intellektueller Sicht höchste Zeit, sich auch ein paar selbstkritische Fragen zu stellen. War Kamala Harris tatsächlich eine glaubwürdige Alternative? Wie geschickt haben sich die Linken und Intellektuellen im Wahlkampf verhalten? Müsste man nicht, statt sich in oberflächlichen Schuldzuweisungen zu verlieren, grundsätzlich die Frage stellen, in was für einer Welt wir denn eigentlich leben und weshalb so viele Menschen offensichtlich schon so verzweifelt sind, dass sie in Politikern wie Donald Trump so etwas wie die letzte Hoffnung auf ein besseres Leben setzen? Müsste man dann nicht, wenn man dieser Frage konsequent nachginge, früher oder später zum Schluss gelangen, dass die Schuld an allem vermutlich nicht vor allem bei einem besonders “demagogischen” Präsidentschaftskandidaten und einem angeblich “ungebildeten” und “manipulierbaren” Volk liegt, sondern möglicherweise viel eher bei einem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, welches auf eine immer grössere soziale Ungleichheit, ein immer unverschämteres Hinabdrücken und eine immer arrogantere Entmündigung jener Abermillionen von Menschen hinausläuft, die mit ihrer täglichen Schufterei das ganze Gebäude, auf deren obersten Etagen sich neben den Reichen und Reichsten auch die überwiegende Mehrheit der sogenannten Linken und Intellektuellen sonnen, überhaupt noch vor dem drohenden Zusammenbruch bewahren? Wenn dann ausgerechnet jene, die von der Schufterei und dem täglichen knallharten Überlebenskampf derer an den untersten Rändern der Gesellschaft profitieren und sich auf deren Kosten jeden noch so unnötigen Luxus leisten können, diese dermassen Ausgebeuteten, wie das Joe Biden gegen Ende des Wahlkampfs tat, als “Müll” bezeichnen, dann muss das Fass überlaufen.

Mittlerweile hat sich, genährt durch Armut, Ausbeutung, fehlende Wertschätzung, laufend steigende Lebenskosten und die permanente Konfrontation mit jenen privilegierteren Gesellschaftsschichten, die einen viel schöneren und weniger belasteten Alltag vorleben – den man selbst bei grösster Anstrengung nie erreichen und gegenüber dem man lebenslang im Hintertreffen bleiben wird – ein immenses revolutionäres Potenzial aufgebaut. Und genau dieses scheint nun Trump ganz einfach besser abgefangen zu haben als seine Kontrahentin – indem er sich als Systemkritiker und Gegner des “Establishments” darstellte – obwohl er freilich selber auch ein Teil davon ist -, während Kamala Harris keine eigenen Visionen entfaltete, sondern bloss nachplapperte, was unzählige andere Politikerinnen und Politiker des herrschenden Mainstreams schon lange zuvor vorausgeplappert hatten und höchstwahrscheinlich auch weiterhin ausplappern werden. Die Unzufriedenheit in den benachteiligten Bevölkerungsgruppen ist mittlerweile dermassen gross, dass nur ein Politiker oder eine Politikerin, die Hoffnung auf “neue” und “andere” Zeiten zu wecken vermag, Chancen hat, gewählt zu werden. An jeden noch so kleinen Strohhalm würden sich die Menschen klammern, bloss um die Hoffnung nicht zu verlieren, dass sich etwas ändern wird – denn eigentlich, denken sie, kann es nur besser werden. Doch diese Hoffnung ist trügerisch. Denn auch Trump wird nicht viel zu verändern vermögen, solange nicht das kapitalistische Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell grundlegend überwunden wird. Und so stürzen die Menschen von einer Hoffnung zur nächsten und sind jedes Mal von Neuem enttäuscht, wenn sich ihre Hoffnungen nicht erfüllen. So wie damals bei Barack Obama, in den insbesondere die Afroamerikanerinnen und Afroamerikaner immense Erwartungen gesetzt hatten, um anschliessend umso mehr enttäuscht zu sein und nicht mehr eine Demokratin – Hillary Clinton – zu wählen, sondern, mit Donald Trump, einen Republikaner. Gleichzeitig versinken durch diese wiederholten Enttäuschungen und zerstörten Hoffnungen immer mehr Menschen in Resignation und Verzweiflung.

“Es ist die Rache ganz normaler Leute”, sagt Scott Jennings, einst Berater von Ex-Präsident George W. Bush, “die zermürbt und beleidigt wurden. Sie sind kein Müll, keine Nazis. Sie sind einfach gewöhnliche Menschen, die jeden Tag zur Arbeit gehen, um ihren Kindern ein besseres Leben zu bieten. Diesen Leuten hat man zu erkennen gegeben, dass sie den Mund halten sollen. Dabei haben sie sich nur über Dinge beklagt, die sie im Alltag belasten: Hohe Preise, Kriminalität, die Folgen illegaler Einwanderung.” Sie fühlen sich von den geistigen “Eliten”, den Akademikerinnen und Akademikern, den etablierten, gutverdienenden und bloss auf den Erhalt ihrer eigenen Privilegien und Machtpositionen bedachten Politikerinnen und Politikern im Stich gelassen. Das heisst nicht, dass eine Linke, die wieder erfolgreich politisieren will, auf jede Forderung und sämtliche Ängste der Bevölkerung “populistisch” und unkritisch eingehen müsste. Aber sie müsste alles daran setzen, sich für Menschenwürde, soziale Gerechtigkeit und das Wohl der Einzelnen einzusetzen. Und gleichzeitig müsste sie darüber aufklären, dass beispielsweise Kriminalität stets gesellschaftliche Ursachen hat und auch Migrantinnen und Flüchtlinge nichts anderes sind als Opfer des gleichen, auf 500 Jahren Ausbeutung und Kolonialismus beruhenden kapitalistischen Wirtschaftssystems und dass eine nachhaltige Lösung nicht darin bestehen kann, rund um die reichen Länder herum immer höhere Mauern zu bauen, sondern nur darin, eine weltweit gerechte Wirtschaftsordnung aufzubauen, so dass niemand mehr gezwungen ist, seine eigene Heimat zu verlassen, bloss um einigermassen überleben zu können.

Die Menschen an den unteren Rändern der kapitalistischen Klassengesellschaft, die einen Politiker wie Donald Trump zu ihrem Präsidenten wählen, sind nicht dumm. Im Gegenteil, sie durchschauen in aller Regel die Machtspiele der Reichen und Mächtigen sehr genau, besser sogar als all jene, die ein Leben lang – abgeschirmt vom täglichen Überlebenskampf auf der Strasse oder in herabgekommenen Wohnquartieren oder bei Arbeitstagen von 14 Stunden in Fabriken oder auf Gemüsefeldern bei Hitze und Kälte – in irgendwelchen Universitäten herumsitzen und so komplizierte Studien und Bücher verfassen, dass ein normaler Mensch sie nicht einmal verstehen, geschweige denn ihnen irgendeinen Sinn abgewinnen kann. Die Menschen an den unteren Rändern der kapitalistischen Klassengesellschaft würden auch Politikerinnen und Politkern wie Nelson Mandela, Martin Luther King oder Lula da Silva ihre Stimme geben. Aber wenn sie nur die Auswahl zwischen Donald Trump und Kamala Harris haben, dann wählen sie halt das kleinere Übel, und das ist eben der, welcher ein bisschen stärker auf die Pauke haut.

Das gilt ja alles nicht nur für die USA. Wie ja auch der Kapitalismus nicht nur in den USA wütet und immer verrücktere Blüten treibt, wenn auch dort besonders schlimm. Auch die deutsche AfD ist ein Auffangbecken für die immer zahlreicheren Opfer dieses auf reine Profitmaximierung und Ausbeutung von Mensch und Natur fixierte Wirtschaftsmodell, dessen Widersprüche immer klarer zutage treten. Und auch in Deutschland wird die Wut derer, die sich dagegen aufbäumen, nur immer noch stärker, wenn sie von den herrschenden Eliten als dumm, manipulierbar oder gar faschistisch beschimpft werden, ausgerechnet von jenen Eliten, die im Namen von “Demokratie” und “Menschenwürde” mit moralischem Zeigefinger gegen ihre politischen Kontrahenten auftreten, tatsächlich aber nichts anderes sind als Komplizen eines gnadenlosen weltweiten Ausbeutungssystems, an dessen oberem Ende sich immer mehr Multimilliardäre ansammeln und an dessen unterem Ende jeden Tag weltweit rund 10’000 Kinder vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs qualvoll sterben müssen, weil sie nicht genug zu essen haben.

Auch der Erfolg der schweizerischen SVP beruht nicht nur auf falschen Versprechen und falschen Hoffnungen, sondern vor allem auf dem Versagen jener linken politischen Kräfte, die sich schon längst von ihren ursprünglichen revolutionären Idealen verabschiedet, sich himmelweit von den Sorgen und Nöten der “einfachen” Menschen entfernt haben und sich lieber in ihre Ferienhäuschen in der Toscana zurückziehen, um dort und an vielen anderen genussvollen Orten von all den Privilegien zu profitieren, welche ihnen das sich nahtlose Einfügen in das kapitalistische Machtsystem beschert hat.

Wie sehr die Linke ihren ursprünglichen revolutionären Schwung verloren hat, zeigt sich ja auf geradezu absurde Weise bei all jenen Themen, auf die sie sich in letzter Zeit immer akribischer fokussiert. Doch mit Gendersternchen lässt sich nun mal weder das Patriarchat noch der mit ihm unauflöslich verbundene Kapitalismus mit sämtlichen seiner Ausbeutungsmechanismen wirkungsvoll überwinden. Und das müsste doch das eigentliche Hauptziel einer glaubwürdigen Linken sein. Und steht sogar immer noch, wie ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten, im Parteiprogramm der schweizerischen Sozialdemokratischen Partei…

Die Revolution kann man nicht mieten, um sie für immer zu behalten. Man muss sie immer wieder neu erkämpfen, jeden Tag ab dem Punkt Null. Jetzt gerade droht das in allen Menschen im tiefsten Inneren steckende revolutionäre Potenzial, die Sehnsucht nach sozialer Gerechtigkeit, Frieden und einem guten Leben für alle, der Linken ganz gehörig zu entgleiten und in die Hände der Rechten geraten zu sein. Will sie es wieder zurückholen, muss sie sich ganz gehörig auf die Socken machen. Denn die unten sind längst bereit. Nur die oben haben immer noch nicht begriffen, dass die Zukunft der Menschheit nicht in Raffgier und Macht um der Macht willen liegen kann, sondern nur darin, alles Vorhandene möglichst gerecht miteinander zu teilen…

Sonntagszeitung vom 17. November 2024: Wenn die Empörung über die Empörung grösser ist als die Empörung über deren Ursachen…

„Blutrünstige Graffitti“, ein „Klima der Einschüchterung“, „aktivistische Professoren“, „falsche Anschuldigungen“, „extreme Positionen“ – so wird in der Sonntagszeitung vom 17. November die Empörung beschrieben, die bei den Pro-Palästina-Protesten an Westschweizer Unis wahrzunehmen ist. Doch weshalb so viel Empörung?

Rechnet man zu den durch militärische Gewalt getöteten Menschen jene hinzu, die infolge von Hunger und fehlender medizinischer Versorgung bisher ihr Leben verloren haben, sind es rund 90‘000, zu einem grossen Teil Frauen und Kinder, unschuldige Menschen, die mit den Terroranschlägen vom 7. Oktober 2023 nichts zu tun haben. Auch wurden Dutzende von Schulen, Krankenhäusern, Moscheen, Geschäften, Bibliotheken und Bildungseinrichtungen zerstört, ebenso der überwiegende Teil der gesamten Infrastruktur wie die Versorgung mit Wasser, Nahrungsmitteln und Energie. Zudem hat die Schweiz als einziges Land der Welt die Zahlungen an das palästinensische Hilfswerk UNRWA ausgesetzt, was den Hungertod von Millionen von Menschen zur Folge haben könnte.

Und da soll man nicht empört sein und nicht in aller Schärfe demonstrieren dürfen gegen ein Regime, das solche Verbrechen begeht, alle bisherigen Forderungen nach einem Waffenstillstand in den Wind geschlagen hat und nicht einmal – erstmalig in der fast 80jährigen Geschichte der UNO – davor zurückschreckt, den UNO-Generalsekretär nicht mehr einreisen zu lassen, obwohl dieser kein anderes Ziel verfolgt, als diesem unermesslichen Leiden endlich ein Ende zu setzen.

Leider gerade ein Aufnahmestopp für Kinder über zwei Jahren…

Die Schweiz im November 2024: Kein Witz…

Joel, der vor drei Wochen zwei Jahre alt geworden ist, hat sich mit der Scherbe eines zerbrochenen Glases eine Schnittwunde am Daumen zugezogen. Die stark blutende Wunde notdürftig mit einem Verband versehen, melden wir uns, weil es Sonntag ist und alle Arztpraxen geschlossen sind, beim Notfalldienst des Kantonsspitals in der Nachbargemeinde. Die Auskunft am Schalter: Heute sei gerade kein Kinderarzt im Dienst, aber nun ja, man werde schauen, ob ein anderer diensthabender Arzt die Wunde anschauen könnte, doch man könne nichts versprechen, alle seien völlig ausgelastet. Aber dann doch noch: Nach zwei Stunden Warten schaut sich ein Arzt die Wunde an und verschliesst sie mit Klebestreifchen. Es wird uns eine Nachkontrolle zwei Tage später beim örtlichen Kinderarztzentrum empfohlen.

Zwei Tage später: Die Frau am Telefon des Kinderarztzentrums teilt uns mit, dass die Praxis infolge Überlastung kürzlich einen Aufnahmestopp verfügt hätte. Neue Kinder würden nur noch aufgenommen, wenn sie jünger als zwei Jahre sind. Pech gehabt, Joel ist drei Wochen zu alt.

Da Joel und seine Eltern erst seit Kurzem in der Schweiz leben und noch keinen Hausarzt bzw. keine Hausärztin finden konnten, rufe ich meine Hausärztin an, ob sie ausnahmsweise Joels Wunde kurz anschauen könnte. Würde sie ja gerne, aber heute und morgen sei alles voll und am Donnerstag und Freitag sei die Praxis geschlossen. Man empfiehlt uns den Notfallarzt in der fünf Kilometer entfernten Nachbarsgemeinde.

Dort heisst es: Aussichtslos, heute und morgen keine freien Termine. Aber wir könnten es ja in L., einer weiteren unserer Nachbargemeinden, versuchen. Dort praktiziere eine Kinderärztin. Das Problem sei nur, dass man sie kaum erreichen könne, da die Stelle ihrer Praxisassistentin zurzeit gerade nicht besetzt sei. Und jetzt, frage ich? Nun ja, heisst es, dann würde uns halt der Notfallarzt gegen Abend noch irgendwo hineinquetschen, aber es könnte sein, dass wir bis zu zwei Stunden warten müssten.

Wir müssen dann nur eine Stunde warten, der Arzt wirft einen kurzen Blick auf die schon gut verheilte Wunde und lässt uns nach einer Minute wieder gehen.

Das schweizerische Gesundheitssystem am 12. November 2024 in der Schweiz, einem der reichsten Länder der Welt. Ich bin fast ganz sicher, drei- oder vierhundert Jahre früher hätte man in jedem noch so kleinen Dorf eine Naturheilerin gefunden, die für eine kleine Schnittwunde am Daumen eines zweijährigen Kindes ein passendes Kräutchen parat gehabt und den Finger mit dem Blättchen einer wohltuenden Pflanze umwickelt hätte. Aber die hat man ja dann alle als Komplizinnen des Teufels zu Tode gefoltert und auf den Scheiterhaufen verbrannt…

Möglichst viel Sport und Biogemüse, um gesund zu bleiben? Alles pure Illusion…

Meistens, wenn ich älteren Menschen begegne, geht es im Gespräch früher oder später um das Thema Gesundheit, vorher kommt höchstens noch das Wetter oder die Information darüber, wo man die letzten Ferien verbrachte und wohin die nächste Ferienreise gehen soll.

Oft geht es um künstliche Knie- oder Hüftgelenke, zu hohen Blutdruck, Rückenbeschwerden, Kopfschmerzen, Übergewicht oder Schlaflosigkeit. Für viele Menschen, nicht nur für ältere, scheint die Gesundheit fast so etwas wie ihre Hauptbeschäftigung zu sein, schon fast eine Art Religion. Sie besuchen regelmässig für teures Geld ein Fitnessstudio, rackern sich dort an allen möglichen und unmöglichen Geräten fast bis zur Erschöpfung ab und schwingen sich dann, kaum zuhause, zusätzlich noch auf ihren privaten Hometrainer, stemmen Gewichte, machen Liegestütze, Kniebeugen und vieles mehr. Sie ernähren sich ausschliesslich gesund und natürlich biologisch, nehmen möglichst wenig Fett und Zucker zu sich, kontrollieren fast täglich ihr Gewicht. Sie überwachen mit einer immer grösseren Anzahl immer raffinierterer elektronischer Geräte den Zustand ihres Körpers, sind Tag und Nacht auf zwei Stellen nach dem Komma informiert über ihren Puls, ihren Blutdruck, die Zusammensetzung des Blutes und eilen voller Panik in die nächste Notfallstation, wenn irgendeiner dieser Messwerte auf einmal aussergewöhnlich nach oben oder nach unten ausschlägt. Schrittzähler klären sie jeden Abend darüber auf, ob sie an diesem Tag genug Bewegung gehabt und eine genug grosse Anzahl von Schritten zurückgelegt haben. In speziell hierfür eingerichteten Kliniken lernen sie schlafen oder ihr Übergewicht abbauen, in anderen Kliniken werden ihnen Süchte aller Art, Depressionen und Burnouts ausgetrieben. Hotels werben mit Wellnessoasen, Massagen, Yoga und sündhaft teuren Wohlfühlpaketen rund um die Uhr. Falten und andere störende Alterserscheinungen werden wegoperiert, Brillen durch Kontaktlinsen ersetzt, für jede Art von Bewegung ein hierauf spezialisierter Schuh und ein passender Dress gekauft. Und vor allem: Sie treiben Sport, auf Teufel komm raus, fast in jeder Sekunde ihrer Freizeit, legen täglich zwanzig oder fünfzig Längen im Schwimmbecken zurück, klettern möglichst schnell auf möglichst viele hohe Berge, joggen, bis ihnen der Schnauf ausgeht, rasen mit ihren Rennvelos in einem so horrenden Tempo durch die Landschaft, dass man meinen könnte, es ginge ums nackte Überleben. Und doch, seltsamerweise, sind sie nicht wirklich gesund und werden es auch nicht, wie man ja erwarten müsste, immer öfters. Wären sie wirklich gesund, dann würde die Anzahl von Menschen, die regelmässig Medikamente schlucken, nicht in einem so erschreckenden Ausmass laufend zunehmen.

Denn es ist eben alles pure Illusion. Man kann nicht körperlich gesund sein, wenn man nicht gleichzeitig auch geistig-seelisch-sozial gesund ist. Selbst wenn sich alle noch so akribisch gesammelten Messwerte vom Blutdruck über das Körpergewicht bis zum Zustand der Darmflora innerhalb der definierten Normen bewegen, heisst das noch lange nicht, dass man wirklich gesund ist. «Mens sana in corpore sano», sagten schon die alten Römer: Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper. Das bedeutet nicht nur, dass ein gesunder Geist einen gesunden Körper braucht, sondern eben auch umgekehrt, dass der Körper nicht gesund sein kann, wenn nicht auch der Geist gesund ist.

Und zu diesem Geist gehören eben nicht nur der Intellekt und die Gefühle, sondern auch das Soziale, das sich von der Ganzheitlichkeit des Lebens nicht abtrennen, abspalten oder verdrängen lässt, wie es uns im Zeitalter permanenter «Selbstoptimierung» stets vorgegaukelt wird und letztlich einzig und allein der «Gesundheit» all jener dient, die auf die eine oder andere Weise aus dem Gesundheitsmarkt und der Gesundheitsindustrie einen materiellen Nutzen ziehen und deshalb alle diese Verrücktheiten angeblicher «Gesundheitsförderung» immer noch weiter und weiter auf die Spitze treiben.

Reich sein und keine Gefühle und kein Mitleid haben mit Armen. Üppige Mahlzeiten einzunehmen in einer Welt, wo jeden Tag eine Milliarde Menschen hungrig zu Bett gehen. Fleisch essen, Auto fahren und fliegen, wo man doch weiss, dass dadurch sämtliche Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen zerstört werden. Reich werden durch Anteilscheine an Rüstungskonzernen, dank dem Tod Abertausender unschuldiger Kinder, Frauen und Männer. In schamloser Höhe auf Kosten anderer Dividenden und Kapitalgewinne einstreichen, ohne selber dafür arbeiten zu müssen. Lebensgeschichten von Flüchtlingen zu kennen mit all den viel zu vielen Narben auf ihren Körpern und in ihren Seelen, ohne alles in Bewegung zu setzen, um solchen aus Not, Verfolgung und Kriegen entflohenen Menschen eine neue Heimat zu bieten oder aber, alles zu tun im Kampf für eine gerechtere Welt, in der alle Menschen so gut leben können, dass niemand mehr gezwungen sein wird, seine Heimat zu verlassen und an einem ihm gänzlich fremdem Land eine neue Existenz aufzubauen. All das, alles blinde Leben auf der Sonnenseite ohne Mitgefühl für die Menschen auf der Schattenseite, kann nicht wirklich gesund machen, auch wenn man noch so viele Joggingrunden dreht, noch so viele Schlaftherapien absolviert und noch so ausgeklügelte und «gesunde» Nahrung zu sich nimmt.

Wirklich gesund werden können wir nur, wenn wir uns in Erinnerung rufen, dass der Mensch eben nicht ein pures Einzelwesen ist, sondern immer auch Teil eines grossen Ganzen, in dem wir alle gegenseitig füreinander verantwortlich sind, sich alle, denen es besser geht, um jene kümmern müssen, denen es schlechter geht, und wir nur dann wirklich gesund sein können, wenn alle anderen – inklusive Erde, Pflanzen und Tiere – ebenfalls gesund sind, und dies nicht nur innerhalb eines einzelnen Dorfes, einer einzelnen Stadt oder eines einzelnen Landes, sondern weltweit. Solange Milliarden von Menschen, die unter Armut, Hunger, Verfolgung, wirtschaftlicher Ausbeutung, Erniedrigung und Kriegen leiden, nicht gesund sein können, können auch wir, die Reichen und Privilegierten, nicht wirklich gesund sein. Und jegliches Verdrängen, jede Selbstverleugnung, jeder Versuch, die Augen davor zu verschliessen, würde uns nur noch kränker machen.

13. Montagsgespräch vom 14. Oktober 2024: KI – Chancen, Grenzen und Gefahren

KI könne, so wurde mehrfach gesagt, in einzelnen Lebensbereichen wie auch in der Arbeitswelt wichtige Fortschritte beflügeln, so etwa bei der Entwicklung von Hörgeräten, in der Unterstützung von komplizierten chirurgischen Eingriffen, bei der Betreuung oder bei therapeutischen Massnahmen im Alters-, Pflege- oder Behindertenbereich, in der Verwaltung durch Verschlankung von Abläufen sowie in der Landwirtschaft.

Wo es um Informationsbeschaffung geht, sei der Faktencheck wichtig. Nicht alles, was KI liefere, sei vertrauenswürdig. Vor allem seien die Quellen nicht transparent, sodass auch extreme und einseitige Inhalte einfliessen könnten. Den Schreibprogrammen standen mehrere Diskussionsteilnehmende skeptisch gegenüber. Wer Texte von KI schreiben lasse und nicht mehr selber formuliere, könne unter Umständen wichtige Grundfertigkeiten wie etwa die Kreativität mit der Zeit einbüssen. Auch würden von KI zusammengestellte Briefe die Authentizität der Schreibenden verwässern. Hätte man früher aufgrund eines besonders freundlich formulierten Briefs auf den Charakter der betreffenden Person schliessen können, so handle es sich heute meistens um vorgegebene Textbausteine, hinter denen sich die Schreibenden verstecken könnten. Zu befürchten sei auch der Verlust zahlloser Arbeitsplätze durch KI.

KI berge, so mehrere Voten, Gefahren im Bereich von Betrügereien, indem man zum Beispiel bereits Stimmen täuschend echt nachahmen könne. Auch die Machtkonzentration bei ein paar wenigen Grosskonzernen, die weitgehend über Inhalt und Verwendung von KI entscheiden, sei problematisch, weil nicht transparent sei, wer dahinter stecke und welche Interessen dabei verfolgt würden, insbesondere dann, wenn es darum ginge, Kontrolle über andere Menschen auszuüben und diese zu manipulieren. Besonders gefährlich könnte KI im Bereich von Kriegsführung sein, wenn Entscheide so schnell gefasst würden, dass der Mensch gar keine Chance mehr hätte, rechtzeitig einzugreifen und Schlimmes zu verhindern. Aus ökologischer Sicht zu denken geben müsste auch der massive Energie- und Wasserverbrauch, der für die Entwicklung von KI erforderlich sei. Fazit: KI könne in einzelnen konkreten Anwendungen durchaus wertvolle Dienste leisten. Wer aber, wie etwa KI-Forscher Demis Hassbis von der EPF Lausanne, davon träume, dass erst KI die Menschheit zur „vollen Entfaltung“ bringen könne, bewege sich wohl eher im Bereich von Religion als von Wissenschaft. Denn das, was den Menschen ganz wesentlich von der Maschine unterscheide, darin war sich fast die gesamte Diskussionsrunde einig, nämlich das Emotionale, die Gefühle und das Zwischenmenschliche, könnte niemals durch KI ersetzt werden. Es wäre ja auch absurd, wenn der Mensch technischen „Fortschritt“ bloss zu dem Zwecke vorantreiben würde, um sich letztlich selber überflüssig zu machen.

Eine Kellnerin und hundert Gäste: Kapitalistisch-patriarchale Klassengesellschaft pur an einem Sonntagnachmittag im Bahnhofrestaurant

Alle Tische sind besetzt und am Eingang stehen schon ungeduldig ein paar weitere, die unbedingt auch noch einen Platz wollen. Und wenn sie dann einen haben: Alles muss möglichst rasch gehen, denn der Zug wartet nicht und wird auf die Sekunde abfahren…

Die Kellnerin hetzt von Tisch zu Tisch, hier abräumen und einen Berg Teller zur Geschirrsammelstelle schleppen, dort eine Bestellung aufnehmen, hier einem älteren englischsprachigen Ehepaar die Speisekarte erklären, dort einen Tisch putzen und neues Gedeck sowie die Speisekarte auflegen, hier die bestellten Speisen und Getränke servieren, dort den Rechnungsbetrag einziehen, am einen Tisch bar, am nächsten mit der Kreditkarte und wieder an einem anderen mit Twint. Steht sie an einem der Tische und nimmt die Bestellungen auf, schnippen hinter ihr schon drei weitere Gäste mit den Fingern, rufen “Bedienung!”, wollen ebenfalls so schnell wie möglich etwas bestellen oder schon wieder bezahlen, um den Tisch freizugeben für die Nächsten. Was für eine unglaubliche Leistung. Nur mit der alleräussersten Anstrengung schafft sie es, die Gäste immer gerade so weit zufriedenzustellen, dass nicht plötzlich einer ausrastet und die Nerven verliert, weil er zu lange warten musste. Wie ein auf die maximale Höchststufe getrimmter Roboter hetzt sie mit den schnellstmöglichen Schritten von Tisch zu Tisch, die längeren Strecken zur Speiseausgabe und wieder zurück zu den Tischen oder hinüber zur Geschirrsammelstelle legt sie meistens im Laufschritt zurück. Kein Wunder, ist sie total ausser Atem, als sie an meinem Nebentisch eine Bestellung aufnimmt und zuerst einmal tief Luft holen muss, bevor sie die Frage des älteren Herrn beantworten kann, welchen Wein sie ihm zu dem von ihm ausgesuchten Menu empfehlen würde. Als der Herr zwischendurch ungeduldig auf seine Uhr schaut, sagt sie, es tue er leid, dass er so lange warten musste, aber es sei im Moment einfach unglaublich viel los. Vermutlich wären selbst drei Angestellte, wenn man die Arbeit der Kellnerin auf diese verteilen würde, immer noch mehr als ausgelastet…

Aber das Verrückteste ist, dass sie, kaum ist sie an einem Tisch angekommen, jedes Mal die Ruhe selbst ist. Als könnte sie pausenlos vom Modus höchster Geschwindigkeit ohne Übergang in einen Modus absoluter Ruhe und Gelassenheit wechseln. Mit unfassbarer Geduld wartet sie, stets freundlich lächelnd, bis sich die Gäste, oft nach langem Hin und Her, für eines der Menus sowie Getränke und mögliche Zusatzwünsche entschieden haben, während an allen Ecken und Enden viele andere ebenfalls darauf warten, bedient zu werden. Mir fällt auf, dass sie sogar manchmal dem einen oder anderen Gast die Hand auf die Schulter legt, sich auf einen kurzen Smalltalk einlässt oder laut auflacht, wenn an einem Tisch die eine oder andere witzige Bemerkung fällt. Nun ja, die Gastgeberin in Reinkultur, wie man sie sich perfekter nicht vorstellen könnte: Einerseits eine Arbeitsmaschine auf Höchsttouren, anderseits mit so viel Wärme, Fröhlichkeit und persönlicher Ausstrahlung ausgestattet, dass nicht nur den kulinarischen, sondern auch den emotionalen Bedürfnissen der Gäste nur das Allerbeste geboten wird. Und ja, was denn sonst: eine Ausländerin!

Und auf einmal frage ich mich: Wo sind denn die anderen Angestellten des Restaurants? Meine Blicke überfliegen den grossen, fast bis auf den letzten Platz gefüllten Saal. Und ja, ob man es glauben will oder nicht: In der einen Hälfte des Saales mit mindestens hundert Plätzen sehe ich nur sie an der Arbeit. In der anderen Hälfte des Saales, mit ebenfalls rund hundert Plätzen, sind es drei Männer, die ich dort arbeiten sehe und die sich um einiges langsamer und gemächlicher von Tisch zu Tisch bewegen. Ist das von den Vorgesetzten bewusst so geplant? Oder ist es etwas, was sich einfach sozusagen von selber daraus ergibt, wenn eine Frau sich bis zum Äussersten aufopfert und die Männer so die Möglichkeit bekommen, sich immer weiter nach und nach zurückzuziehen?

Aber noch viele weitere Fragen schwirren mir durch den Kopf: Um wie viel höhere Einkommen als diese Kellnerin haben wohl all jene, die auf den “höheren Ebenen” dieses Gastrounternehmens angesiedelt sind, als Verwalter, Geschäftsführer, Buchhalter und was immer bis hinauf zum Manager und noch weiter hinauf zu den Besitzern, wahrscheinlich Aktionäre, die von jedem Franken, welche die Kellnerin bis zum Umfallen erschuftet, die Hälfte einsacken, ohne dafür auch nur einen Fuss vor den andern setzen und ohne Riesenberge von Geschirr schleppen zu müssen und ohne der permanenten Ungeduld all jener ausgesetzt zu sein, die auf keinen Fall ihren Zug verpassen dürfen? Müssten nicht eigentlich sie, die dank möglichst niedriger Lohnkosten ihren Profit aus dem Unternehmen quetschen, und nicht die Kellnerin, dafür entschuldigen, wenn ein Gast zu lange warten musste?

Kapitalistisch-patriarchale Klassengesellschaft wie seit eh und je, drastischer könnte ich sie an diesem Sonntagnachmittag in diesem Bahnhofrestaurant nicht mitbekommen haben. Und als dann, als Tüpfelchen auf dem i, nicht etwa die Kellnerin, sondern einer der Männer, den ich bis jetzt fast immer nur neben der Kasse herumstehen gesehen habe, mit der Rechnung zu mir an den Tisch kommt und dies vermutlich nicht zuletzt mit der Erwartung auf ein nettes Trinkgeld verbindet, verliere ich für einen kurzen Augenblick jeglichen Glauben daran, dass die Gleichberechtigung von Frauen in den vergangenen zehn oder zwanzig Jahren tatsächlich auf breiter Ebene Fortschritte gemacht hat. Zumindest nicht in diesem Bahnhofrestaurant an diesem Sonntagnachmittag. Und wahrscheinlich ebenso wenig an unzähligen anderen Orten der kapitalistischen Arbeitswelt. Bevor ich das Restaurant verlasse, gehe ich zur Kellnerin, danke ihr für ihre unglaubliche Arbeitsleistung und ihre unfassbare Freundlichkeit inmitten von soviel Stress und drücke ihr fünf Franken in die Hand. “Danke”, sagt sie, “ich versuche einfach, mein Bestes zu geben.” Es sind vermutlich nicht viele, die ihr an diesem Sonntagnachmittag dafür gedankt haben, dass sie sich trotz eines so miesen Lohnes dermassen für das Wohl ihrer Gäste aufopfert und damit jene Basisarbeit leistet, ohne welche sämtliche ihrer Vorgesetzten, Chefs und Besitzer auch nicht einen einzigen Franken verdienen könnten…

Zuletzt stellt sich mir unweigerlich die Frage, wie viele der Gäste, die sich heute in diesem Restaurant von Ausländerinnen und Ausländerinnen bedienen lassen, möglicherweise die Gleichen sind, die bei jeder anderen Gelegenheit mit denen mitbrüllen, die sich die “Ausländer-raus-Parolen” auf die Fahnen geschrieben haben. Würden sie dann, wenn alle Ausländerinnen und Ausländer endlich “raus” wären, wohl das Essen im Restaurant selber kochen und sich selber bedienen? Würden sie, wenn alle Ausländerinnen und Ausländer “raus” wären, ihre Strassen und Häuser wieder selber bauen, und würden sie, wenn sie einmal alt geworden wären und im Alters- oder Pflegeheim leben würden, ihre Windeln selber wechseln? Wohl kaum. Wächst doch die Zahl jener, die genug Geld haben, um sich an allen Ecken und Enden von anderen bedienen zu lassen, in gleichem Masse, wie die Zahl jener abnimmt, die überhaupt noch bereit sind – und wenn, dann nur, weil sie keine andere Wahl haben -, zu miesen Bedingungen andere rund um die Uhr bedienen zu müssen und sich dabei erst noch alle möglichen Schikanen gefallen zu lassen. Bis dann vielleicht eines Tages diese Kellnerin noch die Einzige sein wird und ganz alleine über zweihundert Gäste bedienen wird, während draussen beim Eingang weitere zweihundert ungeduldig warten, damit sie ihren Zug auf keinen Fall verpassen werden…

Bahira und Ahmad aus Syrien, seit zehn Jahren in der Schweiz: Integration gegen so viele Hindernisse…

Heute habe ich Bahira und Ahmad besucht. Sie mussten 2014 aus Syrien fliehen, als der Krieg zwischen Regierungstruppen und Aufständischen fast über Nacht wie ein gewaltiger Tsunami über sie hereingebrochen war. Ein halbes Jahr lang lebten sie im Libanon, dann erhielten sie im Rahmen eines UNO-Programms für Kriegsflüchtlinge eine Aufenthaltsbewilligung für die Schweiz, mussten aber ein weiteres Jahr warten, bis die notwendigen Formalitäten erledigt waren und sie tatsächlich in die Schweiz einreisen konnten. Ihre Kinder sind heute 16 und 14 Jahre alt. Ahmad, der vor seiner Flucht aus Syrien als Koch in einem guten Restaurant gearbeitet hatte,  hat eine Stelle als Bäcker, verdient aber, weil er keine Lehre absolviert hat, pro Monat tausend Franken weniger als sein Schweizer Arbeitskollege, der genau die gleiche Arbeit leistet. Bahira, die vor der Flucht als Lehrerin gearbeitet hatte, konnte in der Schweiz nur unter Schwierigkeiten gelegentlich einen kleinen, befristeten Job finden. Zurzeit betreut sie stundenweise eine ältere, pflegebedürftige Frau. Fast alle Bewerbungen für eine grössere und dauerhafte Anstellung blieben unbeantwortet, auf einige erhielt sie eine Absage, meistens mit dem Hinweis auf ihr Kopftuch, das in dem betreffenden Job nicht toleriert würde. Bahira ist gebürtige Syrerin, Ahmad ist Palästinenser, seine Grosseltern mussten 1948 aus ihrer Heimat fliehen, und in seinem Pass stehen unter der Bezeichnung «Nationalität» drei X, was so viel bedeutet wie «staatenlos», etwas, was ihn bis heute zutiefst schmerzt, weil es ihm das Gefühl vermittelt, weniger wert zu sein als andere Menschen. Die Familie leidet unter grossem finanziellen Druck, kann sich nur das Allernötigste leisten, Bahira und Ahmad haben es aber geschafft, sich bis heute nicht zu verschulden, nicht zuletzt auch dank der Übernahme einiger Kosten durch die Caritas, ohne die es zeitweise gar nicht gut ausgesehen hätte.

Voller Stolz zeigt mir Bahira ein Buch, das sie im Verlaufe der vergangenen Jahre geschrieben hat und das kürzlich in arabischer Sprache veröffentlicht wurde. Sie beschreibt darin ihre Geschichte als Flüchtlingsfrau in Form eines Romans. Leider hat sie erst zehn Exemplare verkaufen können. Ihr grösster Traum wäre es, dieses Buch auch in einer deutschen Übersetzung erscheinen zu lassen. Eine Bekannte von ihr hat bereits damit angefangen, den Text zu übersetzen, Bahira sucht nun aber jemanden mit Deutsch als Muttersprache für eine abschliessende Gesamtüberarbeitung des Texts. Was für ein Strahlen in ihren Augen, als ich ihr anbiete, diese Aufgabe zu übernehmen.

Bahira erzählt: «Das Leben in Syrien war vor dem Beginn des Kriegs wunderbar. Wir waren nicht reich, aber wir hatten alle genug für ein gutes Leben. Der Krieg kam sozusagen über Nacht und zerstörte unser ganzes früheres Leben… An die Zeit im Libanon haben wir nur schlechte Erinnerungen. Ohne Aufenthaltsbewilligung hielten wir uns ganz knapp über Wasser, ich als schwarz angestellte Hilfslehrerin und Ahmad als Hilfskoch, für den er keinen Lohn, sondern nur ein gelegentliches Trinkgeld erhielt… Die Aussicht, in der Schweiz ein neues Leben aufbauen zu können, erfüllte uns mit grosser Hoffnung, doch kaum waren wir in der Schweiz, holte uns auch schon die bittere Realität wieder ein. Im Aufnahmezentrum für Asylsuchende kam ich mir vor wie in einem Gefängnis. Ich verstand auch nicht, weshalb man uns die Handys wegnahm. Eines Tages hatte ich das dringende Bedürfnis, meine Mutter anzurufen, irgendwie spürte ich, dass es ihr nicht gut ging, ich schrie und weinte, doch man weigerte sich, mir das Handy zu geben. Eine Woche später erfuhr ich, dass meine Mutter genau an diesem Tag infolge eines Verkehrsunfalls gestorben war… Ein halbes Jahr verbrachten wir dann in einem Flüchtlingsheim, in dieser Zeit verfiel ich in eine tiefe Depression, unter der ich etwa drei Jahre lang litt, bevor ich mich davon einigermassen wieder erholen konnte… Oft wurde mir gesagt, ich müsste doch froh sein, in der Schweiz leben zu können, das müsste doch für jemanden wie uns das Paradies sein. Aber leider muss ich, wenn ich an mein Leben in Syrien vor dem Ausbruch des Kriegs zurückdenke, sagen: Damals lebte ich tatsächlich im Paradies, in der Schweiz aber fühlte ich mich anfänglich wie in der Hölle… Wir fühlten uns sehr alleine, niemand half uns, von allen Seiten spürten wir Ablehnung, auch als wir dann nach dem Aufenthalt im Heim in eine kleine Wohnung umziehen konnten. Alles war schwierig, für alles mussten wir kämpfen, und immer standen uns die noch fehlenden Deutschkenntnisse im Weg… Wir nahmen viel Feindseligkeit war, mehrere Male riefen Nachbarn sogar die Polizei, nur weil unsere Kinder beim Spielen ein bisschen laut gewesen waren… Wir kannten die Gepflogenheiten ganz und gar nicht, wir wussten nicht, wie man eine Frage formuliert oder wie man die Menschen ansprechen muss, damit sie sich nicht angegriffen oder verletzt fühlen. Die Blicke, die wir, wenn wir im Dorf einkaufen oder spazieren gingen, wahrnahmen, vermittelten uns stets das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben, doch niemand sagte uns, was dieses Falsche gewesen sein könnte… Unsere Versuche, mit Schweizer Familien Kontakt aufzunehmen, scheiterten allesamt, auch für die Kinder war es schwer, mit anderen Kindern Freundschaften zu knüpfen… Schlimm war es jeweils, wenn die Angestellten des Sozialamts zu uns nach Hause kamen und wir alles zeigen mussten und dann manchmal zum Beispiel beanstandet wurde, wenn wir einen Markenartikel gekauft hatten, obwohl wir diesen zu einem sehr günstigen Preis bekommen hatten. Diese Feindseligkeit und das Misstrauen, das wir auf Schritt und Tritt verspürten, war für uns ganz neu, von unserem früheren Leben in Syrien kannten wir es ganz und gar nicht, dort lebten die Menschen friedlich und mit grosser gegenseitiger Offenheit. Egal, zu welchem Volk oder zu welcher Religion man gehörte, alle akzeptierten alle…»

Ahmad erzählt: «In Syrien lebten wir an einer Strasse, da kannten sich alle. Gingst du am Morgen durch die Strasse, wurdest du von allen Menschen freundlich begrüsst, alle lachten, scherzten und diskutierten miteinander. Hier in der Schweiz redet nicht einmal der Nachbar, der neben uns wohnt, mit uns. Und wenn wir am Morgen das Haus veranlassen, sagt uns niemand guten Tag… Das Schlimmste war, als unser Bub noch klein war und auf dem Pausenplatz einen Streit mit einem einheimischen Buben hatte. Am nächsten Tag kam der ältere Bruder des Schweizer Kindes auf den Pausenplatz und verprügelte meinen Sohn. Um diesen Konflikt nicht eskalieren zu lassen und ein friedliches Miteinander möglich zu machen, suchte ich am nächsten Tag die Eltern dieses Buben auf, um alles in Ruhe zu besprechen. Kaum stand ich am Gartentor, kam der Vater schon drohend auf mich zu und warnte mich: Das sei sein Grundstück und wenn ich es zu betreten wage, werde er die Polizei rufen. Ich ging nachhause und dieser Mann hat nie mehr mit mir gesprochen. Und auch ich habe weiter nichts unternommen, denn wir haben alle grosse Angst vor der Polizei.»

Ob dieser Mann, wenn er am nächsten Tag zur Bäckerei gehen wird, sich wohl auch weigern wird, ein Brot zu kaufen und zu essen, das von Ahmad gebacken wurde?

Nach zehn Jahren wollen sich Mariam und Ahmad einbürgern lassen, sie zeigen mir einen Stapel an Formularen, die sie nun ausfüllen müssen. Jetzt schon haben sie Angst vor einem negativen Entscheid. Sie brauchen drei Referenzpersonen, aber wie sollen sie diese finden, wenn sie niemanden kennen? Und wie sollen sie beweisen, dass sie schon gut integriert sind, wenn man ihnen genau das so schwer macht, ihnen so viele Hindernisse in den Weg stellt und ihnen so deutlich zu verstehen gibt, dass die meisten Menschen offensichtlich ja gar nicht wollen, dass sie sich in die hiesige Gesellschaft integrieren?

Es ist nun im Verlaufe der letzten vier Wochen dies das zweite Mal, dass ich Bahira und Ahmad besucht habe. Ich habe zwei wundervolle Menschen kennengelernt. Geradezu verblüfft war ich, als Bahira beim zweiten Besuch gesagt hat, dass sie gar nicht so perfekt sein könne und es auch gar nicht wolle, wie man das offensichtlich von ihnen erwarte. 80 Prozent Perfektion sei genug, sagte sie, den Rest an Unzulänglichkeiten müsse man halt akzeptieren, egal, ob man ein «Schweizer» oder eine «Ausländerin» sei, so viel Toleranz müsse sein, und kein Volk sei besser oder schlechter als ein anderes. So viel Selbstbewusstsein hätte sie mittelweile wieder erlangt, nachdem sie dieses während so langer Zeit beinahe verloren hätte. Verblüfft war ich über ihre «80-Prozent-Regel» vor allem auch deshalb, weil ich selber schon vor vielen Jahren genau auf die gleiche Regel gekommen war und das für mich, der ich zuvor immer übertrieben perfekt sein sollte, so etwas wie eine wunderbare Befreiung war und man dann alles viel gelassener und toleranter sehen kann.

Und noch etwas hat mich verblüfft. Bei meinem ersten Besuch sprachen nur Bahira und ich miteinander, Ahmad sass auf einem Sofa, las in einem Buch und beteiligte sich mit keinem Wort an unserem Gespräch. Beim zweiten Besuch sass er schon von Anfang an mit uns zusammen am Tisch und hätte am liebsten gar nicht mehr aufgehört, von all dem zu erzählen, was er in der Schweiz bisher alles erlebt hat. Wahrscheinlich war es das allererste Mal in diesen zehn Jahren, dass ihm ein Schweizer zwei Stunden lang aufmerksam zugehört hat. Nächstes Mal wollen sie mich zum Essen einladen und nächstens möchten sie mich auch einmal bei mir zu Hause besuchen. So schnell und leicht kann das Eis schmelzen, auch wenn es zehn Jahre lang immer dicker geworden ist…

Während dieser beiden Gespräche mit Bahira und Ahmad musste ich ein paar Mal weinen. Und ein paar Mal war ich richtig wütend. Und ein paar Mal schämte ich mich richtiggehend, ein Schweizer zu sein, nicht zuletzt deshalb, weil doch immer alle Schweizerinnen und Schweizer, welche südliche Länder bereisen, so begeistert von der Gastfreundschaft der dortigen Menschen schwärmen, während sie umgekehrt in ihrem eigenen Land Menschen aus fernen Ländern so unglaublich viel Kälte entgegenbringen…

Am späteren Abend schickt mir Bahira noch ein Video. Es zeigt, wie engagiert sich freiwillige Helferinnen und Helfer der syrischen Community Wiens bei den Aufräumarbeiten nach den jüngsten Überschwemmungen beteiligt haben. Doch im Gegensatz zu dem 26jährigen syrischen Asylbewerber, der vor drei Tagen im deutschen Solingen drei Menschen umgebracht und damit eine gesamteuropäische Diskussion zwecks dramatischer Verschärfungen in der Asylpolitik ausgelöst hat, werden solche Nachrichten keine ebenso weit verbreiteten Diskussionen in die entgegengesetzte Richtung auslösen. Und erst recht nicht werden auch die Geschichten von Bahira und Ahmad auch nur annähernd so hohe Wellen werfen. Selbst wenn gerade dadurch, nämlich durch das Öffnen der Türen, durch gegenseitige Wertschätzung, durch das einander Zuhören und Ernstnehmen Vorfälle wie jener in Solingen höchstwahrscheinlich am wirkungsvollsten verhindert werden könnten…

ARD-Tagesschau vom 13. März 2014: Der Ukrainekrieg ist längst entbrannt und die Waffe ist auf beiden Seiten das Gas…

Folgende Auszüge aus der ARD-Tagesschau vom 13. März 2014 verdeutlichen auf erschreckende Weise, wie grundlegende Tatsachen im Verlaufe der vergangenen zehn Jahre verloren gegangen bzw. mutwillig aus dem öffentlichen Bewusstsein ausgelöscht worden sind, indem seither die Lüge, der Ukrainekrieg hätte am 24. Februar 2022 mit dem Einmarsch der russischen Truppen begonnen, allen besseren Wissens zum Trotz aufrechterhalten wird. Die Tatsache, dass eine ARD-Tagesschau im Jahre 2024 unmöglich Nachrichten ähnlichen Inhalts verbreiten könnte, ohne mit heftigsten Vorwürfen und Gegenangriffen rechnen zu müssen, zeigt, wie sehr die Menschen im Westen im Verlaufe dieser zehn Jahre einer massiven Gehirnwäsche unterworfen worden sind, was umso schlimmer ist, als wir uns immer noch in einer Welt purer Gedanken- und Meinungsfreiheit wähnen und Zensur stets nur der Gegenseite vorgeworfen wird…

Westliche Energiekonzerne haben nämlich schon längst ihre Ansprüche angemeldet auf die Erdgasvorkommen der Ukraine. Und die US-amerikanische Politik spielt dabei mit. Dabei geht es weniger um die Unabhängigkeit der Ukraine, sondern darum, wer im Herzen Europas zukünftig das Sagen hat...

Er war einer der ersten nach dem Umsturz in der Ukraine anfangs 2024, US-Aussenminister John Kerry reiste demonstrativ nach Kiew und setzte die Weltgemeinschaft gewaltig unter Druck: “Wenn die Russen nicht bereit sind, mit der neuen ukrainischen Regierung direkt zu verhandeln, dann werden unsere Partner keine andere Wahl haben, als uns zu folgen und auch all die Massnahmen zu ergreifen, mit denen wir in den letzten Tagen schon begonnen haben, um Russland zu isolieren, diplomatisch, politisch und wirtschaftlich.”

Hinter den Kulissen hatten Kerrys Leute offenbar schon vor Monaten klar gemacht, wen die USA in der ukrainischen Opposition in der Verantwortung sehen wollen und wen lieber nicht. Zufall oder nicht, genau so ist es gekommen. Arsenij Jazenjuk ist Ministerpräsident geworden, Boxweltmeister Klitschko hat keinen Posten in der Übergangsregierung übernommen, will später für das Präsidentenamt kandidieren. Der Wirtschaftswissenschaftler Jezenjuk ist schon lange ein enger Freund Amerikas, auf der Homepage seiner persönlichen Stiftung macht er keinen Hehl daraus, wer ihn unterstützt. Das US-Statesdepartment ist dabei, die Nato und vor allem viele westliche Thinktanks.

Es war wieder Victoria Nuland, die im Dezember bei einem Auftritt vor der US-ukrainischen Gesellschaft frank und frei erzählte, mit wie viel Geld die USA schon die “Demokratie” in der Ukraine unterstützt haben: “Wir haben mehr als 5 Milliarden Dollar investiert, um der Ukraine zu helfen, Wohlstand, Sicherheit und Demokratie zu garantieren.”

Wieso ist den Amerikanern ausgerechnet die Ukraine so wichtig? Es geht um geopolitische Ziele, es geht um die Nato, sagen Experten. Simon Koschut von der Universität Erlangen: “Die Ukraine ist wichtig für die Nato vor allem aus Sicht der USA, weil sie dadurch den Einflussbereich der Nato und damit auch der westlichen Politik und den Einfluss der USA weiter in den postsowjetischen Raum vorwärtsbringen und Russland zurückdrängen können. Es sind hier Denkstrukturen des kalten Krieges im Prinzip durchaus noch vorhanden, auch wenn diese nicht immer offen geäussert werden.”

Ein neuer kalter Krieg? Offenbar auch mit den Mitteln der Energiepolitik. Nicht zufällig stand Victoria Nuland bei der US-ukrainischen Gesellschaft vor Sponsortafeln von Exxon Mobil und Chevron, zwei grossen Energiefirmen. Was viele nicht wissen: Beide US-Firmen haben auch massive wirtschaftliche Interessen in der Ukraine. Da sind einmal grosse Schiefergasvorkommen, die Exxon und Chevron mit der Frackingmethode aus dem Boden holen wollen. Und die Firma Exxon würde gerne ein neues Gasfeld im Schwarzen Meer erschliessen.

Grosse Euphorie bei der Vertragsunterzeichnung im November mit dem US-Multi Chevron. Bis 2020, hiess es, könne die Ukraine sogar ganz unabhängig von russischem Gas werden, für die russische Regierung eine Kampfansage. Und das nicht nur mit Gas aus ukrainischem Boden. In den USA machen Republikaner und Firmen massiven Druck auf die Regierung, Schiefergas, das in den USA inzwischen reichlich gefördert wird, solle jetzt vermehrt nach Europa exportiert werden, um die Abhängigkeit der Europäer von russischem Gas zu brechen. Möglich wäre das, wenn mehr Schiefergas in Flüssiggas umgewandelt und in grossen Schiffen nach Europa transportiert würde. Für den russischen Gasmarkt wäre das allerdings eine weitere bedrohliche Konkurrenz.

Auch wenn es in der Ukraine keine militärische Auseinandersetzung geben wird, der Krieg ist längst entbrannt und die Waffe ist auf beiden Seiten das Gas.

Dritter Teil der Geschichte von Amin, Ela, Baran und Aziz: Schlaflose Nächte und Sterne in dunklen Zeiten…

In den ersten beiden Teilen dieser Geschichte habe ich von meinen Erlebnissen mit Amin, Ela, Baran und Aziz erzählt, mit denen ich seit Juni 2024 mein Haus teile. Die Begegnung mit diesen unbeschreiblich liebenswürdigen und trotz allen schlimmen Erfahrungen immer noch so bewundernswert lebenslustigen Menschen aus Afghanistan hat mein Leben in kürzester Zeit tiefgreifender verändert, als dies je zuvor der Fall gewesen war.

Heute erzähle ich von Halime, der vierundzwanzigjährigen, zwei Jahre jüngeren Schwester von Ela, die auf der Flucht aus ihrer Heimat nach einer sechsjährigen Odyssee schliesslich in einem griechischen Flüchtlingscamp landete. Von dort aus flog sie nach Stockholm, zu ihrem Bruder, der ihr das Flugticket besorgt hatte, um anschliessend zu ihrer Schwester und ihrer Familie in die Schweiz zu kommen. Was für unbeschreibliche Glücksgefühle, als sich Ela und Halime nach sechs Jahren zum ersten Mal in die Arme nehmen konnten und Halime ihre beiden Neffen Baran und Aziz zum allerersten Mal gesehen hat…

Halimes Lebensgeschichte erfahre ich nur bruchstückhaft. Ela und Amin haben mir zwar schon einiges erzählt, aber das Allermeiste weiss ich noch nicht. Halime, das spüre ich von Anfang an, möchte nur wenig darüber erzählen. Eben erst ist sie in ihrem neuen Leben angekommen. Ihr grösster Wunsch besteht wohl darin, ihr ganzes bisheriges Leben so schnell wie möglich zu vergessen. Dementsprechend halte ich mich mit Fragen zurück. Doch das Wenige, was ich schon weiss, genügt für schlaflose Nächte mehr als genug…

Mit 18 Jahren, in einem Alter, da junge Frauen bei uns in Strassencafés sitzen, das Leben geniessen und im Sommer nach Mallorca fliegen, musste sich Halime mit ihren paar wenigen Habseligkeiten auf den Weg machen, um einer Hölle von Armut, Gewalt und ständiger Lebensangst zu entfliehen, egal wohin, einfach weit, weit fort, dorthin, wo ein schöneres Leben auf sie warten würde. Zunächst über die Grenze in den Iran…

Wie lange sie im Iran war, wie sie dort überlebte, das alles weiss ich nicht. Ich weiss nur, dass sie eines Tages versuchte, über die Grenze in die Türkei zu gelangen. Was sie dabei erlebte, auch das entzieht sich momentan noch meiner Kenntnis. Nicht einmal ihrer Schwester und ihrem Schwager gelingt es, ihr mehr als ein paar wenige Worte abzuringen. Und so gehe ich wieder ins Internet, um die noch offenen Lücken in Halimes Odyssee zu füllen…

Human Rights Watch, 18. November 2022: “Die Türkei drängt routinemässig Zehntausende Afghanen an ihrer Landgrenze zum Iran zurück oder schiebt sie direkt nach Afghanistan ab, ohne ihre Ansprüche auf internationalen Schutz zu prüfen. Nähern sich Flüchtlinge der türkischen Grenze, schiessen die Grenzbehörden häufig in ihre Richtung oder direkt auf sie, insbesondere dann, wenn sie die Grenze zu überqueren versuchen. Oft werden die Flüchtlinge mit Schlagstöcken und Eisenstangen geschlagen. Wer es trotzdem schafft, in die Türkei zu gelangen, muss von Glück reden, einen Antrag auf internationalen Schutz stellen zu können, denn alle Städte, in denen bereits ein Fünftel der Bevölkerung ausländischer Herkunft sind, nehmen keine Anträge auf eine Aufenthaltsgenehmigung an.”

Irgendwie, ich weiss es noch nicht genau, schaffte sie es, in die Türkei zu kommen. Dort lebte sie vier Jahre lang, “illegal”, in beständiger Angst, von der Polizei aufgegriffen und wieder ausgeschafft zu werden. Den Lebensunterhalt verdiente sie sich als Kosmetikerin, vier Jahre lang täglich zwölf Stunden mit einer Mittagspause von 20 Minuten, keine Ferien und so wenig Lohn, dass sie damit nur knapp überleben konnte. Mit dem ersten Geld, das sie sich erspart hatte, kaufte sie sich auf einem Jahrmarkt einen Fingerring mit einem kleinen blauen Plastikstein, den sie immer noch trägt. Es war für sie das Grösste, wie auch der kleine Pinsel, mit dem sie sich ihr erstes Makeup auftrug. Das Türkische beherrschte sie bald schon so perfekt, dass die meisten Menschen sie nicht für eine Fremde hielten, was für sie überlebenswichtig war.

Türkische Feriendestinationen sind bei Touristinnen und Touristen aus dem Westen nicht zuletzt deshalb so begehrt, weil dank der ausbeuterischen Löhne für Hotel- und Restaurantangestellte, Masseusen und Kosmetikerinnen höchst attraktive Angebote locken. So etwa ist im Ferienkatalog des österreichischen Reisebüros “Schönheitsreisen – Beauty am Meer” zu lesen: “Wir spezialisieren uns auf Schönheitsreisen nach Antalya zu äusserst attraktiven Preisen. Wir kümmern uns um den gesamten Ablauf Ihrer Behandlung und Reise. Entscheiden Sie sich für einen Reisezeitraum und überlassen Sie uns den Rest! So können Sie Ihren Aufenthalt stressfrei geniessen. Und Sie sparen erst noch bis zu 70% der Kosten für eine vergleichbare Behandlung im deutschsprachigen Raum.”

Vier Jahre lang machte Halime mit ihrer Arbeit unzählige Menschen, die genug Geld hatten, um sich diesen Luxus leisten zu können, schön und glücklich, schenkte ihnen ein neues Lebensgefühl. Ihre Reise aber, die Reise in der umgekehrten Richtung, war alles andere als eine stressfreie Schönheitsreise. Als die Sehnsucht nach der Schweiz, wo sie sich ein besseres Leben erhoffte, immer stärker geworden war, schloss sich Halime einer Gruppe von Flüchtlingen an, die sich aufmachten, um nach Griechenland zu entfliehen. 16 Mal versuchte sie es, auf unterschiedlichsten Wegen, oft durch dichtestes Gestrüpp, manchmal auch durch Bäche oder Flüsse watend, so schnell und weit als möglich fort rennend, wenn sie Schüsse oder das Schreien von anderen Flüchtlingen hörte, die von den griechischen Grenzwächtern zurückgeprügelt wurden. Die Nächte verbrachte sie irgendwo im Wald, auf dem nackten Boden schlafend, wo sie sich einigermassen sicher fühlte. 16 Mal war auch sie bei denen, die es nicht schafften. Schon beim ersten Mal waren ihr sämtliche der wenigen Habseligkeiten, die sie noch besessen hatte, abgenommen worden, alle Kleider und das ganze Geld, das sie während der vier Jahre mit der Arbeit als Kosmetikerin in der Türkei verdient hatte. Doch sie gab nicht auf. Und beim siebzehnten Mal gelang es ihr, die Grenze an einer unüberwachten Stelle zu passieren und unbemerkt so weit ins Landesinnere zu gelangen, dass sie, als sie kurz darauf von Polizisten aufgegriffen wurde, nicht mehr über die Grenze zurückgeschickt wurde und in einem Flüchtlingscamp landete.

Aus der “Frankfurter Rundschau” vom 19. Juni 2023: “Immer häufiger werden an der griechisch-türkischen Grenze sogenannte Pushbacks durch kriminelle Gruppen durchgeführt. Schutzsuchende werden von griechischen Sicherheitskräften festgenommen und dann an bewaffnete Männer übergeben. Diese bringen die Betroffenen dann meistens an den Grenzfluss Evros und schicken sie mit einem Schlauchboot zurück auf die türkische Seite. Zuvor werden den Männern und Frauen sämtliche Wertgegenstände und Mobiltelefone weggenommen. Den Geflüchteten wird das Recht auf Schutz verwehrt, auch einen Antrag auf Asyl dürfen die Menschen nicht stellen. Betroffene berichten auch immer wieder von Gewalt durch die maskierten Männer. Nicht selten werden Frauen vergewaltigt.”

Drei Monate lang verbrachte Halime in diesem Flüchtlingscamp in der Nähe von Athen. Auch von dieser Zeit weiss ich erst wenig und lese im Internet nach…

“Meist sind es leere Container”, berichtete die “Deutsche Welle” am 3. Februar 2023, “manchmal gibt es nicht einmal Matratzen. Die Essenszuteilung erfolgt nach willkürlichen Vorgaben des Aufsichtspersonals, je nach Menge der vorhandenen Lebensmittel und der Zahl der Schutzsuchenden, die von Tag zu Tag erheblich schwanken kann. Wer Pech hat und nicht auf der jeweiligen Tagesliste aufgeführt ist, bekommt die Reste, wenn alle anderen im Camp ihr Essen bereits bekommen haben. Meist sind die Mahlzeiten kaum geniessbar. Am schlimmsten aber ist die ständige Unsicherheit und das oft wochenlange Warten auf den Asylentscheid. Da die Türkei mittlerweile durch die EU als sicheres Herkunftsland eingestuft wurde, ist die Gefahr gross, wieder dorthin zurückgeschafft zu werden.”

Zu ihrer grossen Erleichterung wurde nach dem Ablauf der drei Monate ihrem Antrag auf Asyl in Griechenland zugestimmt, die zermürbende Ungewissheit hatte ein Ende. Mit viel Glück, da Ausweiskontrollen am Athener Flughafen nur stichprobenweise erfolgen, konnte sie nach Stockholm fliegen und sich dort bei ihrem Bruder während vier Wochen von den jahrelangen Strapazen ein klein wenig erholen. Dann zog es sie in die Schweiz, zu ihrer Schwester Ela und ihrem Schwager Amin, die sie vor sechs Jahren zum letzten Mal gesehen hatte, und zu ihren Neffen Baran und Aziz, die sie überhaupt noch nie gesehen hatte.

4. September, Mittwoch. Was für Glücksgefühle! Halime schäkert mit den beiden Buben, küsst sie auf die Ohren und auf die Nasen, drückt sie immer wieder ganz fest an sich, und immer wieder lacht sie mit Ela und Amin aus vollem Herzen, jedes Mal, wenn Amin, der Witzbold, wieder etwas Lustiges gesagt hat, wovon ich natürlich kein einziges Wort verstehe, aber es muss schon sehr, sehr lustig sein, denn auch die beiden Buben kugeln sich immer wieder vor Lachen. Was für eine Lebenskraft muss in dieser jungen Frau stecken, die während mindestens acht Jahren – über ihre Kindheit weiss ich ja erst recht noch rein gar nichts – so viel Schreckliches erlebt hat, so viele schlaflose Nächte vor Angst, so viele Verletzungen in ihrem Körper und in ihrer Seele, so viele Tage, an denen sie kaum etwas zu essen hatte, und alles andere, was noch so viel schlimmer gewesen sein muss, dass sie jetzt nicht einmal ihrer Schwester etwas davon erzählen möchte. Was für eine Lebenskraft dies allem zum Trotz, dass sie jetzt so herzhaft lachen und so liebevoll mit den beiden Buben umgehen kann, als hätte sie die glücklichste Kindheit gehabt, die man sich nur vorstellen kann.

5. September, Donnerstag. Nach dem glücklichen Wiedersehen nach so vielen Jahren hat uns auf einen Schlag die Realität knallhart wieder zu Boden geworfen. Denn Halime kann ja höchstwahrscheinlich nicht einfach hier in der Schweiz bei ihren Familienangehörigen bleiben, was verständlicherweise ihr allergrösster Traum wäre. “Dublin-Abkommen”, zischt wie ein greller Blitz durch meine Gedanken. Ein Wort, das so harmlos klingt. Aber konkret bedeutet es, dass Asylsuchende in dem Land bleiben müssen, in dem sie zum ersten Mal einen Schutzstatus bzw. eine Aufenthaltsbewilligung bekommen haben. Beantragen sie in einem anderen Land Asyl, wird aufgrund ihrer Fingerabdrücke mithilfe eines gesamteuropäischen Computersystems in Sekundenschnelle festgestellt, ob sie nicht schon in einem anderen Land einen positiven Asylentscheid haben. Wenn ja, können sie entweder freiwillig dorthin gehen oder werden dorthin ausgeschafft…

Griechenland ist, wie alle wissen, die sich nur einigermassen im europäischen Asylwesen auskennen, das mit Abstand berüchtigste Land. Jegliche finanzielle Unterstützung für Flüchtlinge endet im Moment der Statusgewährung automatisch. 30 Tage nach der Anerkennung des Schutzstatus verlieren die Betroffenen auch ihren bisherigen Unterbringungsplatz, wenn sie denn überhaupt einen hatten. Anschlusslösungen gibt es nicht. Die Schutzberechtigten müssen sich ohne staatliche Hilfe auf dem freien Wohnungsmarkt selber zurechtfinden. Erst wenn sie eine Wohnung haben, erhalten sie eine Sozialversicherungsnummer, welche sie zum Bezug einer knappstens bemessenen Überlebenshilfe berechtigt. Auch bei der Arbeitssuche sind sie voll und ganz auf sich selber gestellt. Und Zugang zur Gesundheitsversorgung erhalten sie ebenfalls erst nach dem Vorlegen zahlreicher Dokumente, über welche die meisten gar nicht verfügen. Aufgrund aller dieser kaum überwindbaren Hürden sind unzählige Flüchtlinge, auch wenn sie über einen offiziellen Schutzstatus verfügen, obdachlos, werden zu Opfern von Menschenhändlern oder landen in der Prostitution.

In der folgenden Nacht kann ich nicht schlafen. Unentwegt sehe ich Halime vor mir, wie sie am Flughafen von Athen ankommt, ohne Geld, mit einem kleinen Koffer und ihren paar wenigen Habseligkeiten, ohne die geringsten Kenntnisse der Landessprache, ohne auch nur einen einzigen Menschen, der ihr hilft. Ich sehe sie schon irgendwo in einer dunklen Strassenecke liegen, todmüde, hungrig, frierend, und wie ein bulliger Mann auf sie zukommt, sie packt, in sein Auto zerrt und später einem anderen bulligen Mann vor die Füsse wirft, der diese wunderschöne junge Frau, diese Blume mitten in der Nacht, zerreissen und in kurzer Zeit zu einem Wrack machen wird. Mir ist, als würde mir das Herz aus dem Leibe gerissen. Einen Moment lang denke ich, wenn ich jetzt nur sterben könnte, um dieses Bild nicht ertragen zu müssen.

Auch in den folgenden Tagen beschäftigt mich Halimes Schicksal so tief, dass ich mich kaum mehr auf die alltäglichen Dinge konzentrieren kann. Ich vergesse den Geburtstag eines lieben Freundes. Es klingelt an der Tür und da steht eine Bekannte, mit der ich abgemacht, es aber komplett vergessen hatte. Ich verwechsle die Wochentage. Plötzlich sehe ich eine Zeitung, die ich vor drei Tagen irgendwo hingelegt und noch gar nicht gelesen habe. Am Billettautomat löse ich ein Ticket, bezahle es, aber im Zug, als die Billettkontrolle kommt und ich mein Portemonnaie öffne, ist es leer – mein Ticket liegt wahrscheinlich jetzt noch in diesem Automaten…

7. September, Samstag. Heute ist Aziz zwei Jahre alt. Sie haben mir gesagt, ich solle oben im Büro warten, sie rufen mich dann, wenn es so weit ist. Und als ich dann kurz darauf gerufen werde und das Wohnzimmer betrete, verschlägt es mir fast den Atem. Meine Frau und ich hatten ja auch, als unsere eigenen Kinder noch klein waren, an Geburtstagen jeweils das Wohnzimmer festlich dekoriert. Aber so etwas habe ich noch nie gesehen. Die ganze Decke hängt voller Ballone, die Fenster sind mit Silberfäden behangen, mitten im Raum ragt ein über einen Meter hoher goldener Ballon in Form einer Zwei in die Höhe, auf dem Tisch glitzert Flitter und mehrere Schüsseln sind mit vielen kleinen, selber gebackenen Küchlein gefüllt. Und mittendrin Halime, in einem langen Festkleid voller Blumenmuster, das sie sich wahrscheinlich von Ela geliehen hat. Und wieder dieses wundervolle Lachen, das alles durchdringt und bis ganz tief in die Seele geht. Sie scheint diese wunderbare Gabe zu besitzen, wie ein Kind voll und ganz nur im Augenblick zu leben und alles, aber auch alles auszublenden, was vorher gewesen ist und was nachher sein wird. Ja, vielleicht ist sie ja noch immer dieses Kind ihrer allerersten Lebenszeit, weil ja alles andere, alles, was später kam, gar kein wirkliches Leben war oder nichts von dem, was man sich normalerweise darunter vorstellt.

Die nächste Nacht ist fast noch schlimmer. Jetzt sehe ich sie nicht nur an einem Strassenrand als Opfer eines Menschenhändlers irgendwo inmitten von Athen. Jetzt sehe ich sie gleichzeitig als ein vollkommenes, an Schönheit nicht zu übertreffendes Geschenk des Himmels. Sie könnte hier, bei uns, zusammen mit ihren Liebsten, ein Leben führen wie im Paradies. Und gleichzeitig könnte sie von einem stockbesoffenen Freier im Hinterhof einer griechischen Kneipe halb zu Tode geprügelt werden und wäre mitten in der Hölle.

8. September, Sonntag. Das Wochenende war die reinste Tortur, weil wir untätig warten mussten. Manchmal lacht Halime in ihrer vollkommenen inneren und äusseren Schönheit durch das ganze Haus. Dann aber wieder sitzt sie irgendwo vor einem offenen Fenster und starrt mit tieftraurigem Blick ins Leere hinaus. Was wohl in diesen Augenblicken in ihr vorgeht? Das Beste an diesem Tag ist noch, dass ein plötzlicher heftiger Südwind das Plakat mit dem Bunkermann auf der anderen Seite der Strasse weggerissen und weit fort geblasen hat.

9. September, Montag. Endlich. Ich erreiche telefonisch die Auskunftsstelle des HEKS, Hilfswerk der Evangelischen Kirchen der Schweiz. Und innerhalb weniger Minuten fällt mir wohl der schwerste Stein vom Herzen, der jemals dort gelegen hatte. Als alleinstehende Frau, die schon in jungen Jahren so viel Gewalt erfahren musste und eine so unvorstellbare Leidensgeschichte hinter sich hat, ist die Chance gross, dass Halime, trotz des griechischen Schutzstatus, in der Schweiz eine F-Bewilligung für eine befristete Aufenthaltsbewilligung bekommen kann, die sich später in eine definitive Aufenthaltsbewilligung umwandeln lässt. Nach dem Telefonat muss ich minutenlang weinen vor Glück.

Als ich ihr die gute Nachricht überbringe, kann sie es im ersten Moment gar nicht glauben. Noch sieht sie wahrscheinlich in solchen Momenten, wenn sie alles immer wieder einholt, nur lauter riesige, schwarze Wände rund um sich. Wahrscheinlich genügt dann nur schon der winzigste Rest von Zweifel, um nicht allzu viel Hoffnung aufkommen zu lassen, die sich dann ohnehin wieder als reine Illusion entpuppen könnte. Mir wird bewusst, wie zerbrechlich diese Blume noch ist und wie viele gute Erlebnisse und Erfahrungen es noch brauchen wird, damit der Boden unter ihren Füssen allmählich wieder fester werden kann. Denn mindestens 18 Jahre lang zwischen der Kindheit und dem Ankommen im Erwachsenenalter, welches die schönste Zeit des Lebens hätte sein können, hat sie nur eines erfahren: Dass sie nicht willkommen ist, nicht im Hause ihres Mannes, nicht in dem Land, wo sie geboren wurde, nicht im Iran, nicht in der Türkei, nicht in Griechenland und nicht einmal in der Schweiz, wo jetzt wieder an allen Ecken und Enden diese Plakate hängen und aus allen Rohren gegen alles geschossen wird, was mit “Ausländischem” oder “Fremdem” zu tun hat. Das Einzige, was sie bis jetzt gehört hat: Geh fort, wir brauchen dich nicht, wir wollen dich nicht, für dich gibt es keinen Platz in dieser Welt.

15. September, Sonntag. Über Nacht ist es bitterkalt geworden, laut Wetterbericht der grösste Temperatursturz seit 30 Jahren. Heute werden wir eine Vorstellung in dem kleinen Zirkus besuchen, der wie durch einen glücklichen Zufall diese Woche in unserer Stadt gastiert. Auf dem Weg dorthin fällt mir auf, dass Halime trotz der Kälte nur ein dünnes Jäckchen trägt. Eine Winterjacke hat sie nicht. Wir werden so schnell wie möglich etwas besorgen müssen…

Und dann, der magische Moment, in dem Amin, Ela, Halime und die beiden Buben das Zirkuszelt betreten. Es ist das allererste Mal in ihrem Leben, dass sie einen Zirkus besuchen und in eine Welt eintauchen werden, von der sie bisher höchstens so viel mitbekommen haben wie von irgendeinem Märchen aus tausend und einer Nacht. Als wir in der Loge sitzen und es zuerst ganz dunkel wird, bis die Musik beginnt, von allen Seiten Scheinwerfer aufleuchten und die erste Akrobatin in ihrem Glitzerkleid die Manege betritt, beginnen für mich zwei Stunden, die ich ganz gewiss in meinem ganzen Leben nie mehr vergessen werde, so schön ist es, die Freude, die Begeisterung, das Lachen und die weit offenen, staunenden und strahlenden Augen von fünf Menschen mitzuerleben, die zum ersten Mal in ihrem Leben in einem richtigen Zirkus sind. Wenn jetzt eine Fee käme und ich könnte mir drei Dinge wünschen, dann würde ich mir drei Mal genau das Gleiche wünschen: Dass alles Geld, welches heute noch für Kreuzfahrtschiffe, Opernhäuser, Luxushotels, Weltraumraketen oder, noch viel, viel schlimmer, für Raketen, Bomben und Kampfflugzeuge verschleudert wird, dafür verwendet wird, dass es in jedem Land auf der Welt so viele und so schöne Zirkusse gibt, dass ein jedes Kind mit seinen Eltern, egal ob in Norwegen, Äthiopien, Neuseeland, Bangladesch oder Mexiko, das erleben dürfte, was Amin, Ela, Halime, Baran und Aziz an diesem Sonntagmorgen in unserer kleinen Stadt in dem kleinen Zirkuszelt erleben durften.

Morgen werden Ela und ich Halime ins Aufnahmezentrum für Asylsuchende begleiten. Zaco aus Pristina, der selber einmal ein Flüchtlingskind war und heute im Asylwesen tätig ist, hat uns noch ein paar wertvolle Tipps mit auf den Weg gegeben: Halime müsse offen über alles reden, was sie erlebt hat und auch vor Unangenehmem nicht zurückschrecken, denn genau das sei oft das Problem, dass sich Frauen für das schämen, was ihnen angetan wurde, lieber darüber schweigen und dann so in den Befragungen nicht die ganze Tragik ihrer Lebensgeschichte sichtbar wird. Weiters sollten wir unbedingt darauf drängen, dass in der Befragung durch Hilfswerke und Migrationsamt sowie vor allem beim Übersetzen vom Persischen ins Deutsche ausschliesslich Frauen diese Aufgaben wahrnehmen. Dies alles könnte entscheidend sein für einen positiven Asylentscheid. Die Verbindung zu Zaco hat mir Medina verschafft, eine langjährige gute Freundin, selber mit Migrationshintergrund, die mir schon von Beginn an, als Amin zum ersten Mal mein Haus betrat und Ela und die Kinder noch im Iran auf ihre Ausreisepapiere warteten, ihre bedingungslose Unterstützung angeboten hatte. Was für Sterne in so dunklen Zeiten.

Ein Bekannter meinte, das wäre ja alles gut und recht. Aber ob ich nicht auch schon daran gedacht hätte, dass Amin, Ela, Baran, Aziz und Halime ja nicht die Einzigen sind mit einer solchen Lebensgeschichte und man ja eigentlich allen helfen müsste und nicht nur ein paar wenigen “Glückspilzen”. Natürlich weiss ich das. Natürlich weiss ich, dass es weltweit Millionen von Amins und Halimes gibt, auf die jetzt gerade an irgendeiner Grenze Bluthunde gehetzt werden und denen tausendfach um die Ohren gebrüllt wird, dass sie nicht willkommen sind, weder hier noch dort noch anderswo. Aber das kann doch nicht Anlass dafür sein, dass ich mich nicht jetzt gerade mit aller Zeit und Energie, die mir zur Verfügung stehen, dafür einsetzen werde, dass Halime in der Schweiz bleiben kann, inmitten von Menschen, die sie gernhaben, und ihr Leben nicht in irgendeinem griechischen Strassengraben viel, viel zu früh enden muss.

Denn, wie es die deutsche Historikerin und Autorin Dagmar Fohl so wunderschön gesagt hat: “Wer ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt.”

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Beispiellose Hexenjagd gegen eine unbequeme junge Frau, die niemandem etwas zuleide getan hat: 40’000 Menschenleben darf man zerstören, ein Papierbild nicht…

Wenn Sanija Ameti, Co-Präsidentin der schweizerischen Operation “Libero”, mit ihrer Sportpistole gezielt auf ein Bild von Maria und Josef geschossen hätte, wäre das zugegebenermassen eine ziemlich derbe Geschmacklosigkeit gewesen. Aber wahrscheinlich war es ja nicht einmal das, sondern ganz einfach ein dummes Mischgeschick, ein zufällig aus einem Kunstkatalog herausgerissenes Bild. Und selbst wenn sie es bewusst gemacht hätte: Dumm und unüberlegt, aber sie hat damit keinem einzigen Menschen etwas zuleide getan. Wenn Anna Wanner im “Tagblatt” vom 10. Dezember 2024 schreibt: “Und jetzt die Schüsse auf Jesus”, so ist das eine fahrlässige Verzerrung der Realität. Sie hat nicht auf Jesus geschossen, sondern auf ein Bild von Jesus. Und das ist doch ein wesentlicher oder sogar der entscheidende Unterschied. Zudem hat sie sich für diesen Fehler sofort entschuldigt und sogar dem Bischof von Chur einen Brief geschrieben, er möge ihr verzeihen. Auch ist sie alles andere als eine fanatische Religionsanhängerin, sondern, ganz im Gegenteil, eine bekennende Atheistin und hat sich auch noch nie zu Religionsfragen öffentlich geäussert. “Eigentlich”, so die “Republik” am 11. September, “hat sie alles richtig gemacht. Wann hat das letzte Mal jemand in der Schweizer Politik so schnell, so bedingungslos und ohne jegliche Relativierung einen Fehler zugegeben? In dieser Hinsicht verdient sie nicht Ausschluss und Häme, sondern Respekt und Grossmut.”

Dennoch waren die Reaktionen erbarmungslos. Innerhalb eines Tages verlor Sanija Ameti ihren Job als Co-Chefin der Operation “Libero” und ihre Stelle bei der PR-Agentur Farner, musste aus der kantonalen Parteileitung austreten und sieht sich jetzt mit einem Ausschlussverfahren ihrer Mutterpartei, der GLP, konfrontiert.

Aber noch viel schlimmer ist die Welle des Hasses, die über sie hereinbrach: Innerhalb kürzester Zeit erhielt sie auf ihrem Post über 3000 fast ausschliesslich negative, vielfach islamophobe Kommentare. Die Junge SVP verglich sie mit einer “islamischen Terroristin” und reichte gegen sie eine Strafanzeige wegen “Störung der Glaubens- und Kultusfreiheit” ein. Ex-SVP-Nationalrat Christoph Mörgeli versuchte ebenfalls einen Zusammenhang zu konstruieren zwischen Sanija Ameti und islamistischen Anschlägen. Nicolas Rimoldi bezeichnete sie als “feindliche Agentin”, die “böswillig unsere Heimat zersetzen” wolle, und als “fremde Invasorin”, die “deportiert werden” müsse. Die “Junge Tat” schrieb: “Raus mit diesem Albanerweib!”. Und die “NZZ”: “Eine Grünliberale, die als schiessfreudige Muslimin die Gefühle von Christen beleidigt, ist das Letzte, was die GLP benötigen kann.” Sogar der Vizechef der deutschen Afd-Jugendorganisation mischte sich ein und fand, Ameti habe “weder bei uns noch in der Schweiz etwas verloren”. Ein rechtsgerichtetes österreichisches Onlinemagazin verbreitete die Lüge, Ameti habe in ihrem Post geschrieben: “Tötet Maria und Josef!”. Und der russische Propagandasender RT veröffentlichte einen Kommentar, in dem Ameti eine “Kugel in den Kopf” gewünscht wird. “Es erinnert”, so Peter Blunschi auf “Watson”, “an eine mittelalterliche Hexenjagd. Es ist unerträglich, dass man sie als moderne Hexe auf dem virtuellen Scheiterhaufen verbrennt. Immerhin bittet sie um Vergebung, was doch guter christlicher Tradition entspricht.” Und der Kommunikationsexperte David Schaerer lässt im “Tagesanzeiger” vom 11. September verlauten, er habe”noch nie erlebt, dass jemand öffentlich so fertiggemacht, so vernichtet wurde.”

Umso verwerflicher und scheinheiliger ist das alles, wenn man bedenkt, dass ausgerechnet die SVP, welche hier wieder einmal an vorderster Front Feindbilder schürt und mit total verzerrten Schuldzuweisungen um sich wirft, genau jene politische Kraft ist, die sich in diesen Tagen im Nationalrat mit der Forderung durchgesetzt hat, dass die Schweiz dem palästinensischen Hilfswerk UNRWA zukünftig kein Geld mehr zur Verfügung stellen soll, und dies, obwohl sämtliche Länder der Welt ausser den USA aufgrund eines Expertenberichts, der die Vorwürfe der israelischen Regierung gegenüber der UNRWA weitgehend als unbegründet befunden hat, ihre Zahlungen an die UNRWA inzwischen wieder aufgenommen haben, selbst Deutschland, das sich noch am längsten um einen Entscheid gedrückt hatte. Sie alle wissen nur zu gut, dass sich ohne diese Zahlungen an die UNRWA schon in naher Zukunft eine humanitäre Katastrophe ungeahnten Ausmasses anzubahnen droht. “Die Lage im Gazastreifen”, so der Zürcher SP-Gemeinderat Severin Meier, der mittels eines Postulats an den Stadtrat die Auszahlung von UNRWA-Geldern durch die Stadt Zürich erwirken möchte, “ist verheerend: 81 Prozent der Haushalte haben keinen Zugang zu sauberem Wasser, 1,1 Millionen Menschen haben ihre Essensvorräte aufgebraucht, eine Hungersnot steht kurz bevor.” Nicolas Walder, grüner Aussenpolitiker, gibt zu bedenken, dass im Gazastreifen keine andere Organisation vorhanden ist, welche die Aufgaben der UNRWA übernehmen könnte: “Die UNRWA bleibt die tragende Säule der humanitären Hilfe in Gaza. Fällt die UNRWA weg, würde dies zu einem Zusammenbruch des gesamten humanitären Systems in Gaza führen.” Und Philippe Lazzarini, Schweizer Diplomat und seit mehreren Jahren Chef der UNRWA, erklärte bereits am 28. März 2024 in einem Interview mit der “Wochenzeitung”: “Was wir heute in Gaza beschreiben müssen, ist eine drohende Hungersnot, die absolut unfassbar ist. Mehr als eine Million Menschen befinden sich in einer katastrophalen, akuten Hungersituation. Wo bleibt die Weltempörung? Es ist, als ob wir der Tragödie, die sich vor unseren Augen abspielt, fast völlig unbeteiligt zusehen würden. Die Hungersnot könnte zwar noch abgewendet werden. Doch dazu müssten wir den Gazastreifen mit Nahrungsmitteln überschwemmen. Als ich letzte Woche nach Gaza einreisen wollte, wurde ich von den israelischen Behörden ohne jegliche Begründung daran gehindert. Die Anschuldigungen gegen die UNRWA-Mitarbeitenden haben sich bis heute nicht bewahrheitet. Es läuft eine unabhängige Untersuchung zu diesem Vorwurf, aber bislang haben weder Israel noch andere Staaten Beweise vorgelegt – obwohl sie dazu aufgerufen wurden. Ich bin überrascht, wie sehr Anschuldigungen und Behauptungen für bare Münze genommen werden.” Doch die Nachricht von der endgültigen Sperrung des Schweizer Beitrags an die UNRWA mitsamt all ihren verheerenden Folgen ging im Getöse des Vernichtungsfeldzugs gegen Sanija Ameti komplett unter. Würde man hundert Schweizerinnen und Schweizer befragen, ob sie diese Nachricht mitbekommen hätten, gäbe es vermutlich nur ein paar vereinzelte, welche diese Frage bejahen würden.

Besonders brisant ist, dass die SVP als treibende Kraft für die Blockierung des Schweizer Beitrags an die UNRWA sich nicht zu schade war, ihre gesamte Argumentation im Nationalrat auf einen einzigen, von einem Genfer Büro aus agierenden kanadischen Anwalt abzustützen, nämlich Hilel Neuer, der seit Jahren alles daran setzt, sein Publikum auf eine Zerschlagung der UNRWA einzuschwören. Der SVP gelang es auf diese Weise, dieser einzelnen Stimme mehr Gewicht zu verleihen als dem langjährigen Leiter der UNRWA, sämtlichen Vertreterinnen und Vertretern schweizerischer Hilfswerke und Menschenrechtsorganisationen sowie einer von 45’000 Schweizerinnen und Schweizer unterzeichneten Petition, welche die Weiterführung der Zahlungen an die UNRWA forderte. Ausgerechnet für die SVP, welche sich sonst stets mit lautestem Geschrei gegen jegliche Einmischung von aussen wehrt, scheint also die Stimme eines einzelnen kanadischen Anwalts ausschlaggebender zu sein als die Stimmen des Schweizer UNRWA-Chefs, zahlloser Schweizer Hilfswerke und weiterer Organisationen sowie den Stimmen von 45’000 Bürgerinnen und Bürger ihres eigenen Landes. Noch viel brisanter und noch viel unglaublicher und erschreckender aber ist, dass sich genügend weitere Parlamentarierinnen und Parlamentarier anderer bürgerlicher Parteien vor diesen Karren spannen liessen und die Schweiz nun somit, abgesehen von den USA, das einzige Land der Welt ist, das sich für eine vorauszusehende humanitäre Katastrophe mit Hunderttausenden, wenn nicht Millionen von Opfern verantwortlich erklären muss. Das Land, das einmal als Hort der Menschenrechte, der Humanität und der Friedensförderung galt und in der gegenwärtig auch noch das Letzte kaputt zu gehen droht, was an diese Zeit erinnert. “Eines der reichsten Länder der Welt”, schreibt die “Wochenzeitung” am 12. September, “ist nicht bereit, auch nur einen Rappen an eine international anerkannte und als unverzichtbar beschriebene Organisation zu spenden, um das Leiden der palästinensischen Zivilbevölkerung wenigstens rudimentär zu mildern.”

In totalem Gegensatz zur Schiessübung von Sanija Ameti wurden im Gazastreifen seit dem vergangenen Oktober nicht etwa Papierbilder zerstört, sondern das reale Leben von über 40’000 Kindern, Frauen und Männern, von denen höchstwahrscheinlich weit über 99 Prozent nicht das Geringste mit dem Terroranschlag der Hamas vom 7. Oktober 2023 zu tun hatten, weitere rund 100’000 wurden verletzt und eine Vielzahl von Spitälern, Schulen, Universitäten, Bibliotheken und Museen wurden dem Erdboden gleichgemacht, ohne dass dies bei jenen politischen Kräften, die nun am heftigsten über Sanija Ameti herfallen, auch nur eine annähernd so grosse Empörung ausgelöst hätte. Und nicht einmal die Tatsache, dass nun infolge der Sperrung des UNRWA-Beitrags weitere Abertausende Unschuldige von baldigem Hungertod betroffen sein könnten, erregt auch nur ansatzweise so viel Empörung, nicht einmal bei all denen, die sich ganz und gar nicht als Anhängerinnen oder Anhänger der SVP oder der anderen, ins gleiche Horn blasenden bürgerlichen Politikerinnen und Politiker verstehen. Fazit: Menschen darf man zerstören, Papierbilder nicht.

Zerstört wird hingegen jetzt auch das Leben einer jungen, unangepassten, vielleicht manchmal etwas aufmüpfigen Frau, die immerhin viel frischen Wind in die oft allzu starre und festgefahrene Schweizer Politlandschaft gebracht hatte und keinem Menschen je irgendeinen Schaden zugefügt hat. Während die israelische Regierung unter Präsident Netanyahu ihr Tötungswerk ungehindert und in aller Ruhe weiterführen kann und die mächtigsten Politiker des Westens dies sogar mit einem nicht mehr zu überbietenden Zynismus damit rechtfertigen, dass es hierbei um die Verteidigung westlicher Werte wie Menschenrechte, Meinungsfreiheit oder Demokratie gehe. In was für einer verrückten Zeit leben wir eigentlich und um noch wie viel verrückter ist, dass wir diese Verrücktheit offensichtlich nicht einmal mehr als solche wahrzunehmen vermögen?