Nach den Schuljahren 2007/08, 2012/13 und 2017/18 fand im Schuljahr 2022/23 in der Stadt Zürich zum vierten Mal eine vom Gesundheitsdienst durchgeführte Befragung der rund 2000 Schülerinnen und Schülern der zweiten Oberstufe statt. Die Resultate können zweifellos, allenfalls mit gewissen Abweichungen, auf die gesamte schweizerische Schulsituation übertragen werden.
Auffallend sind die Unterschiede zwischen den Rückmeldungen von Mädchen und Knaben. Mädchen äussern sich in Bezug auf ihre schulische Situation weitaus negativer. 52% der Mädchen – 14% mehr als vor fünf Jahren – fühlen sich durch Prüfungen, Druck in der Schule und Noten stark belastet, bei den Knaben sind es deutlich weniger. Nur 23% der Mädchen sind mit ihrer Schulsituation sehr zufrieden, der tiefste Wert seit Beginn der Befragungen. 57% Prozent der Mädchen und 42% der Knaben äussern Traurigkeit und Zweifel an sich selbst. 55% der Mädchen und 47% der Knaben geben an, sich in schwierigen Situationen nicht auf die eigenen Fähigkeiten verlassen zu können. Nur die Hälfte der Mädchen haben Vertrauen in die eigenen Lehrkräfte, vor fünf Jahren waren es noch 67%, bei den Knaben ging der entsprechende Anteil von 71% auf 67% zurück. Das Gefühl, zur Schule zu gehören, hat innerhalb der vergangenen fünf Jahre bei den Mädchen von 82% auf 72% abgenommen, bei den Knaben von 84% auf 78%. 21% der Mädchen und 13% der Knaben fügen sich Selbstverletzungen zu. Zugenommen haben – um insgesamt 5 bis 9 Prozent – sowohl bei den Mädchen wie bei den Knaben Rücken-, Kopf- und Bauchschmerzen sowie Angststörungen und Depressionen. 51% der Mädchen und 37% der Knaben nehmen regelmässig Medikamente gegen Schmerzen. 23% der Mädchen und 10% der Knaben haben schon ernsthaft daran gedacht, sich das Leben zu nehmen. Von diesen 23% sämtlicher Mädchen haben wiederum 29% schon mindestens einmal versucht, sich das Leben zu nehmen, bei den Knaben sind es 24%. Gemessen am Total aller Befragten, inklusive derjenigen, welche auf diese Frage keine Antwort gaben, sind es 4,5%, die schon einmal versucht haben, sich das Leben zu nehmen.
Fehlende positive Gefühle, mangelnde Erfolgserlebnisse und der steigende Leistungsdruck sind wohl Ursachen dafür, dass sich viele Jugendliche irgendwelche «Ersatzbefriedigungen» suchen, so etwa, indem sie sich in ferne Phantasie- und Traumwelten flüchten, welche ihnen in den sozialen Medien vorgegaukelt werden. Nur zu oft unterliegen sie dabei der Gier, sich eine möglichst grosse Zahl von «Freundinnen» und «Freunden» im Internet zu ergattern, so etwa durch gegenseitiges Wetteifern um Schönheit und gutes Aussehen – um meist früher oder später gänzlich desillusioniert festzustellen, dass auch in diesen auf den ersten Blick so verheissungsvollen Welten am Ende genau das gleiche Prinzip gilt, nämlich, dass nur wenige wirklich erfolgreich sein können auf Kosten vieler anderer.
Wieder andere werden aggressiv, gegen Eltern oder Lehrkräfte, oder sie geben den Druck in Form von «Mobbing» an Mitschülerinnen und Mitschüler weiter. Wie die «Sonntagszeitung» vom 12. Februar 2023 berichtete, ist gemäss einer Auswertung im Rahmen der Pisa-Studie jedes zehnte Kind in der Schweiz im Laufe seiner Schulzeit ein Opfer von Mobbing, was einen europäischen Spitzenwert bedeutet. Und obwohl viele Schulen versuchen, das Problem mit Sozialarbeit oder präventiven Workshops zu bekämpfen, steigen die Zahlen weiter an. Die «Sonntagszeitung» vom 21. Mai 2023 spricht sogar von einem «alltäglichen Hass im Klassenzimmer»: In einer Umfrage bei über 1000 Zürcher Lehrpersonen berichtete jede zweite von körperlichen Angriffen unter Schülerinnen und Schülern, noch häufiger seien Demütigungen und Bedrohungen.
Auch der steigende Konsum von Suchtmitteln durch Kinder und Jugendliche könnte sich, zumindest teilweise, mit Lebenssituationen erklären lassen, die entweder als besonders belastend empfunden werden oder aber dem Urbedürfnis nach Wohlbefinden, geselligem und fröhlichem Zusammensein und lustvollen Erlebnissen zu wenig Rechnung tragen. «Wenn es einer Person nicht gut geht», so Markus Meury von der unabhängigen Stiftung «Sucht Schweiz» im «Tagesanzeiger» vom 21. März 2024, «ist das Risiko grösser, dass sie nach Substanzen greift, von denen sie sich eine Besserung verspricht». Entsprechend alarmierend sind die Zahlen: Gemäss einem Ende 2023 veröffentlichten Bericht von «Sucht Schweiz» rauchen von den 15Jährigen fast 28 Prozent der Jungen und fast 29 Prozent der Mädchen Zigaretten, entweder konventionelle oder E-Zigaretten oder beides. Der häufige Konsum von E-Zigaretten – an mindestens zehn Tagen pro Monat – nahm bei den 15jährigen Mädchen von 1,2 Prozent im Jahre 2018 auf 8 Prozent im Jahre 2022 zu. Besonders beliebt ist auch der sogenannte «Lutschtabak», etwa in Form von «Snus», wo sich bei den 15Jährigen der Konsum im Vergleich zu 2018 auf 13 Prozent geradezu verdoppelt hat. Auch der Alkoholkonsum weist steigende Zahlen auf: So gaben 43 Prozent der 15Jährigen bei der erwähnten Befragung an, im Verlauf der vorangegangenen 30 Tage mindestens einmal Alkohol getrunken zu haben. Rauschtrinken, also der gleichzeitige Konsum von fünf oder mehr alkoholischen Getränken, kommt bei einem Viertel der 15Jährigen regelmässig vor.
Auch «Jugendgewalt», «Jugendkriminalität» oder die Instrumentalisierung durch extremistische Gruppierungen politischer oder religiöser Ausrichtung könnten – zusätzlich zu ungünstigen familiären oder gesellschaftlichen Rahmenbedingungen – eine wesentliche Ursache in einem Schulsystem haben, dem es offensichtlich nicht gelingt, Menschen genug gross und stark werden zu lassen, damit sie es nicht nötig haben, sich ihre Erfolgserlebnisse, ihre Selbstbestätigung und die Anerkennung durch Gleichaltrige oder Erwachsene auf anderen, gefährlicheren oder wenn nötig auch «illegalen» Wegen zu suchen. Denn nichts ist für die Persönlichkeitsentwicklung eines jungen Menschen so wichtig, als sich anerkannt und geliebt zu fühlen und mit seinen Stärken wahrgenommen zu werden. Wenn ihm der tägliche Schulunterricht diese Nahrung nicht bietet, sucht er sie dann halt möglicherweise ganz anderswo.
Gleichwohl würde man wohl zu weit gehen, wenn man alle diese Probleme allein der Schule in die Schuhe schieben wollte. Dennoch kann es wohl kaum ein Zufall sein, dass sämtliche der beschriebenen Symptome und «Fehlentwicklungen» parallel miteinander in Zunahme begriffen sind. Der allgemeine Leistungsdruck in Gesellschaft und Arbeitswelt wie auch in den Schulen scheint sich gegenseitig zu verstärken und die meisten Schulen sind alles andere als ein Ort, wo die Kinder und Jugendlichen eine so dringend nötige, angenehme, Wohlbefinden, Selbstvertrauen und gegenseitige Wertschätzung fördernde «Gegenwelt» vorfinden.
Zusätzlich manifestiert sich der steigende Leistungsdruck in einer immer höheren Anzahl von Kindern und Jugendlichen, die sich schlicht und einfach verweigern, zur Schule zu gehen. Gemäss der bereits zitierten Zürcher Gesundheitsbefragung vom November 2023 kamen innerhalb der vorangegangenen zwölf Monate 57% der Mädchen und 61% der Knaben mindestens einmal zu spät zur Schule, eine deutliche Zunahme gegenüber 2017/18, bei den Mädchen gar eine Verdoppelung. Mindestens einen ganzen Tag lang fehlten ohne Begründung 15% der Mädchen und 12% der Knaben. Mehrere Tage fehlten 7% der Mädchen und 5% der Knaben.
Als Hauptgrund für das «Schuleschwänzen» wurde in der Befragung die «Unlust, zur Schule zu gehen» angegeben, dann weiter auch «Unter- oder Überforderung», «Kritik an der Unterrichtsgestaltung», «Desinteresse an einem bestimmten Fach», «Langeweile im Unterricht» und «Angst vor einer Prüfung». Ernüchtert kommt der Gesundheitsbericht in diesem Zusammenhang unter anderem zum Schluss, dass von der vielbeschworenen Figur des «Klassenlehrers» und der «Klassenlehrerin» mit ihrem ganz besonderen, persönlichen Vertrauensverhältnis zu den Schülerinnen und Schülern ganz offensichtlich nicht allzu viel übrig geblieben ist: «Auffallend ist, wie selten Lehrpersonen aufgesucht werden, wenn Betroffene nach Unterstützung suchen. Da sie nicht nur eine Förder-, sondern auch eine Bewertungsfunktion einnehmen, zum Beispiel in den Prüfungen, und damit Autoritätspersonen sind, lässt sich leicht nachvollziehen, dass sie für diese Schülerinnen und Schüler nicht Anlaufstelle der ersten Wahl sind.»
«Schuleschwänzen» bzw. Schulabsentismus ist vielleicht die «gesündeste» Art und Weise, wie ein Kind auf eine Situation, die es in Bezug auf seine Lebensqualität dermassen tief beschneidet, reagieren kann. Allerdings steht das Kind, welches diesen Weg gewählt hat, ganz alleine da – ganz alleine gegen Lehrkräfte, Erziehungsinstitutionen, Behörden und meist auch gegen die eigenen Eltern. Zunehmend aber, so ein weiterer Befund der Zürcher Gesundheitsbefragung, reagieren Eltern, Lehrkräfte und Behörden nur noch zurückhaltend auf dieses Phänomen, man überlässt es den Kindern, man nimmt ihre Verweigerung in Kauf – statt sie als das wahrzunehmen, was sie tatsächlich ist, nämlich ein gewaltiger Notschrei darüber, was alles in unseren Schulen schiefläuft, waren doch alle diese «Schulverweigerinnen» und «Schulverweigerer», die ohne jeglichen Zweifel in der Zukunft immer zahlreicher sein werden, vor noch nicht allzu langer Zeit fünf- oder sechsjährige Kinder, die sich mit leuchtenden Augen auf nichts sehnlicher gefreut hatten als auf ihren allerersten Schultag.
Wie man auch ganz allgemein gegenüber all diesen Notschreien der Kinder und Jugendlichen taub zu sein scheint. Nähme man die Resultate der Zürcher Gesundheitsbefragung vom November 2023 wirklich ernst, so müsste man augenblicklich eine Riesendiskussion lostreten über den Sinn und Unsinn von Noten, Lehrplänen, Jahrgangsklassen und Prüfungen, die keinen Sinn für das Leben haben, sondern nur dazu dienen, Kinder und Jugendliche in einen zerstörerischen gegenseitigen Konkurrenzkampf zu zwingen. Man müsste wieder einmal die Schriften Johann Heinrich Pestalozzis hervorklauben und dort lesen, dass kein Kind mit dem andern verglichen werden dürfe, sondern nur jedes mit sich selber, und dass Lernen ohne Freude keinen Heller wert sei. Und man müsste endlich all die wunderbaren Erfahrungen jener Schulen ernstnehmen, die schon längst ohne Noten und mit individuellen Lernplänen arbeiten und gerade dadurch den Lernerfolg und die Lernfreude ihrer Schülerinnen und Schüler so unglaublich wieder zum Blühen gebracht haben.
Doch nichts dergleichen geschieht. Lesen wir die «Schlussfolgerungen» dieses Gesundheitsberichts, so finden wir nur dies: «Es ist deshalb wichtig, dass in der schulischen Doppellektion des Präventionsprogramms HEB SORG weiterhin gezielt gearbeitet wird und mit praktischen Übungen sozial herausfordernde Situationen nachgestellt und Lösungsmöglichkeiten aufgezeigt werden. Wichtig ist auch, dass anlässlich der Elternabende im Rahmen dieses Projekts weiterhin nicht nur theoretische, sondern auch praktische Hilfeleistungen angeboten werden. Was Depressionen betrifft, drängt sich in Anbetracht der Tatsache, dass davon betroffene Schülerinnen und Schüler in deutlich höherem Masse über erfolgte Suizidversuche berichten, eine Ausweitung des Projekts HEB SORG auf. Hierzu bedarf es der sorgfältigen Planung und Vorbereitung und der vertieften Zusammenarbeit mit weiteren Fachleuten. Der Schulpsychologische Dienst bietet schon heute in verschiedenen Schulkreisen Beratungsstunden für Jugendliche an. Dort können individuelle Probleme angesprochen werden und es können erste konkrete Hilfeleistungen erfolgen. Wichtig ist vor allem eine gute Triage, damit Schülerinnen und Schüler, welche einen grösseren Unterstützungsbedarf haben, nicht zu lange alleine gelassen werden. Wichtig für eine gute Abstimmung und Zusammenarbeit ist die Schulsozialarbeit. Die Tatsache, dass mehr als vier Prozent der Schülerinnen und Schüler mindestens einmal versucht haben, sich das Leben zu nehmen, und diese anschliessend mit niemandem darüber reden konnten, weist auf einen Nachholbedarf in der öffentlichen Thematisierung hin.»
Hätte eine Bäckerei bei ihrer Kundschaft so katastrophale Umfragewerte, wie sie die Gesundheitsbefragung der Stadt Zürich vom November 2023 auf der zweiten Oberstufe aufgezeigt hat, dann würde man vermutlich auf der Stelle das ganze Personal entlassen oder gleich die ganze Bäckerei dicht machen. Doch bei dieser Befragung ging es eben nicht um Brot, sondern nur um junge Menschen in einer der wichtigsten Phasen ihres Lebens. In was für einer verrückten Zeit leben wir eigentlich?