In Ergänzung und Weiterführung meines Ende Juni 2024 erschienenen Buches DIE SCHULE NEU ERFINDEN – DAMIT DAS LERNEN WIEDER FREUDE MACHT veröffentliche ich an dieser Stelle weitere Artikel, Informationen und Diskussionsbeiträge zum Thema. Um bisher veröffentlichte Texte zu finden, gibst du am besten auf dieser Homepage den Suchbegriff OLW ein…
BIS KEIN KIND MEHR ZUR SCHULE GEHT
9. Oktober 2024. Eine kantonale Bildungspolitikerin meinte, als sie mein Buch gelesen hatte: “Ich teile deine Vision einer offenen Welt des Lernens anstelle der traditionellen Lehrplan- und Jahrgangsklasse voll und ganz. Ich sehe nur keinen Weg, wie man das konkret umsetzen könnte.” Gleichzeitig nehmen die psychischen Belastungen der Kinder und Jugendlichen weiter und weiter zu, immer mehr Lehrkräfte resignieren, Eltern laufen Amok, Schulbehörden verzweifeln, der Schulabsentismus greift immer weiter um sich und die Zahl der Kinder, die in Homeschooling unterrichtet werden, wächst von Jahr zu Jahr. Eine radikale Veränderung wird kommen, so oder so. Wenn nicht von innen, dann von aussen. An das “von innen” glaube ich je länger je weniger. Wahrscheinlich lässt sich diese Schule wirklich nicht radikal verändern, sondern nur auflösen, um etwas von Grund auf Neuem Platz zu machen. Vielleicht müssen wir einfach diese Gegenwelt des offenen, freien, selbstbestimmten und total individuellen Lernens so stark und attraktiv aufbauen, bis eines Tages kein einziges Kind mehr zur traditionellen Schule geht. Dann nimmt mich Wunder, was die Lehrerinnen und Lehrer machen, wenn sie eines Morgens alleine in ihren Schulzimmern sitzen und die Kinder und die Jugendlichen, auf denen sie ein Leben lang herumgehackt haben, einfach nicht mehr erscheinen…
ZWEI LERNSTUNDEN ZWISCHEN CHUR UND CELERINA
15. Oktober 2024. Lernen findet überall im Alltag statt, ob wir wollen oder nicht. Schulen im traditionellen Sinne, in der Art und Weise, dass man 20 oder 25 Kinder in ein Zimmer einsperrt und sie einem vorgegebenen Lehrplan unterwirft, sind in Bezug auf das Lernen nicht nur überflüssig, sondern geradezu schädlich. Im Zug von Chur nach Celerina sitzt ein Grossvater mit drei Enkelinnen im Alter zwischen fünf und zehn Jahren. In seinem sympathischen Bündner Dialekt und stets mit einem Schmunzeln im Gesicht erzählt er eine Geschichte nach der andern und zwei Stunden lang ohne Pause sind die Mädchen Aug und Ohr, hängen buchstäblich an seinen Lippen, saugen jedes seiner Worte auf und lachen immer wieder laut auf. Jede Geschichte löst bei den drei Kindern weitere Fragen aus und aus jeder dieser Fragen entsteht wieder eine neue Geschichte, wie ein Baum, der immer wieder neue Zweige und neue Blüten hervorzaubert. Ich glaube, das könnte noch zehn Stunden so weitergehen und wäre immer noch nicht langweilig. So sehr es dem Grossvater Spass macht, seine Geschichten zu erzählen, so sehr scheint es den Kindern Spass zu machen, ihm zuzuhören. Ich glaube nicht, dass diese drei Mädchen so schnell wieder vergessen werden, was ihr Grossvater ihnen während diesen zwei Stunden alles erzählt hat. Lernen in Reinkultur. Es ist so spannend, dass auch ich, zwei Abteile davon entfernt, zuhören muss, ob ich will oder nicht. Gerade erklärt er in allen Einzelheiten, wie man Holz scheitet. Einem der Mädchen kommt dabei der “Hau-den-Lukas” in den Sinn, den sie mal auf einem Jahrmarkt sah. Und schon ist der Jahrmarkt das nächste Thema. Weiter geht es mit dem Schulweg des Grossvaters, was er als Kind dabei alles erlebte, was für Strafen es damals in der Schule gab und dass man sogar zehn Minuten nachsitzen musste, wenn man sich während des Unterrichts am Kopf kratzte. Weiter mit Geschichten aus dem Militär, wie man von den Vorgesetzten herumschikaniert wurde. Dann hat eines der Mädchen die Karte mit dem Bündner Eisenbahnnetz entdeckt, die auf der Tischplatte am Zugfenster zu sehen ist. Und schon ist der Grossvater in einem neuen Element und schöpft aus seinem fast endlos scheinenden Wissen: Wie man das Eisenbahnnetz plante, wann und wo, wie man die Brücken baute und die Tunnels, was daran schwierig war und welche der Pläne realisiert werden konnten und welche nicht und weshalb. Dann der Blick durchs Fenster hinaus, neue Bilder, neue Fragen, ein Bach, der endlos weitersprudeln würde, wenn wir nicht gerade in Celerina angekommen wären und alle den Zug verlassen müssten. Was für eine Heiterkeit auf den Gesichtern des Grossvaters und seiner drei Enkelkinder. “Lernen ohne Freude”, sagte Johann Heinrich Pestalozzi, “ist keinen Heller wert.”
POLITIKER DIE VON PÄDAGOGIK KEINE AHNUNG HABEN
16. Oktober 2024. Fast täglich schiesst FDP-Präsident Thierry Burkhart in den Medien aus allen Rohren gegen Inklusion, Integration, spricht von “immer mehr verhaltensgestörten Kindern” und fordert die Wiedereinführung von Klein- und Sonderklassen. Ein Politiker, der von Pädagogik rein gar nichts versteht, hat die Themenführerschaft übernommen, wenn es darum geht, wie sich die Schule in Zukunft verändern und entwickeln sollte. Dabei ist doch nicht die Integration das Problem, auch nicht die Inklusion, auch nicht “verhaltensgestörte Kinder” und auch nicht “schwierige Eltern”. Das eigentliche Grundproblem ist doch die Fiktion der Jahrgangsklasse, die auf der Illusion beruht, man könnte 20 oder 25 Kinder nach dem gleichen Lehrplan, mit den gleichen Methoden und im gleichen Tempo sinnvoll und erfolgreich unterrichten, bloss weil sie im gleichen Jahr geboren wurden. Tatsächlich kann eine Schulklasse nie homogen sein, auch wenn man sich das noch so sehr wünschte. Schon zwei Kinder bilden eine heterogene Lerngruppe. Homogen wäre die Klasse erst, wenn sie aus einem einzigen Kind bestehen würde. Denn glücklicherweise ist die grösstmögliche Verschiedenartigkeit das wesentlichste Merkmal des Menschen. Nicht die Inklusion muss abgeschafft werden, sondern nur die Schule in ihrer heutigen Form. Denn diese schlägt sich bloss mit Problemen herum, die es ohne sie gar nicht gäbe.
DEMOKRATISIERUNG DES GESCHICHTSUNTERRICHTS
17. Oktober 2024. In der traditionellen Lehrplanschule bekommen alle Kinder einer Schulklasse den genau gleichen Geschichtsunterricht, vorgegeben durch den staatlichen Lehrplan und geprägt von einer einzelnen Lehrperson. Ihnen ist das Kind ohne Alternative ausgeliefert. Ganz anders in einer offenen Lernwelt, wo verschiedenste Angebote in Form von Filmen, Büchern, Kursen, Referaten, Workshops und Debattierklubs zur Verfügung stehen, aus denen sich alle Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen je nach Interessen ihren jeweiligen eigenen “Geschichtsunterricht” zusammenzimmern können. Nicht politische Parteien bzw. politische Mehrheitsverhältnisse, nicht irgendwelche Interessengruppen oder “Bildungsexperten” bzw. “Bildungsexpertinnen” würden dann aufgrund gegenseitiger Machtkämpfe über die Inhalte des Vermittelten bestimmen, sondern einzig und allein die Lernenden selber. Dies gilt freilich auch für alle anderen Wissensgebiete ebenso.