Offene Lernwelt (OLW) 1: Fortsetzung meines Buches DIE SCHULE NEU ERFINDEN – DAMIT DAS LERNEN WIEDER FREUDE MACHT

In Ergänzung und Weiterführung meines Ende Juni 2024 erschienenen Buches DIE SCHULE NEU ERFINDEN – DAMIT DAS LERNEN WIEDER FREUDE MACHT veröffentliche ich an dieser Stelle weitere Artikel, Informationen und Diskussionsbeiträge zum Thema. Um bisher veröffentlichte Texte zu finden, gibst du am besten auf dieser Homepage den Suchbegriff OLW ein…

BIS KEIN KIND MEHR ZUR SCHULE GEHT

9. Oktober 2024. Eine kantonale Bildungspolitikerin meinte, als sie mein Buch gelesen hatte: “Ich teile deine Vision einer offenen Welt des Lernens anstelle der traditionellen Lehrplan- und Jahrgangsklasse voll und ganz. Ich sehe nur keinen Weg, wie man das konkret umsetzen könnte.” Gleichzeitig nehmen die psychischen Belastungen der Kinder und Jugendlichen weiter und weiter zu, immer mehr Lehrkräfte resignieren, Eltern laufen Amok, Schulbehörden verzweifeln, der Schulabsentismus greift immer weiter um sich und die Zahl der Kinder, die in Homeschooling unterrichtet werden, wächst von Jahr zu Jahr. Eine radikale Veränderung wird kommen, so oder so. Wenn nicht von innen, dann von aussen. An das “von innen” glaube ich je länger je weniger. Wahrscheinlich lässt sich diese Schule wirklich nicht radikal verändern, sondern nur auflösen, um etwas von Grund auf Neuem Platz zu machen. Vielleicht müssen wir einfach diese Gegenwelt des offenen, freien, selbstbestimmten und total individuellen Lernens so stark und attraktiv aufbauen, bis eines Tages kein einziges Kind mehr zur traditionellen Schule geht. Dann nimmt mich Wunder, was die Lehrerinnen und Lehrer machen, wenn sie eines Morgens alleine in ihren Schulzimmern sitzen und die Kinder und die Jugendlichen, auf denen sie ein Leben lang herumgehackt haben, einfach nicht mehr erscheinen…

ZWEI LERNSTUNDEN ZWISCHEN CHUR UND CELERINA

15. Oktober 2024. Lernen findet überall im Alltag statt, ob wir wollen oder nicht. Schulen im traditionellen Sinne, in der Art und Weise, dass man 20 oder 25 Kinder in ein Zimmer einsperrt und sie einem vorgegebenen Lehrplan unterwirft, sind in Bezug auf das Lernen nicht nur überflüssig, sondern geradezu schädlich. Im Zug von Chur nach Celerina sitzt ein Grossvater mit drei Enkelinnen im Alter zwischen fünf und zehn Jahren. In seinem sympathischen Bündner Dialekt und stets mit einem Schmunzeln im Gesicht erzählt er eine Geschichte nach der andern und zwei Stunden lang ohne Pause sind die Mädchen Aug und Ohr, hängen buchstäblich an seinen Lippen, saugen jedes seiner Worte auf und lachen immer wieder laut auf. Jede Geschichte löst bei den drei Kindern weitere Fragen aus und aus jeder dieser Fragen entsteht wieder eine neue Geschichte, wie ein Baum, der immer wieder neue Zweige und neue Blüten hervorzaubert. Ich glaube, das könnte noch zehn Stunden so weitergehen und wäre immer noch nicht langweilig. So sehr es dem Grossvater Spass macht, seine Geschichten zu erzählen, so sehr scheint es den Kindern Spass zu machen, ihm zuzuhören. Ich glaube nicht, dass diese drei Mädchen so schnell wieder vergessen werden, was ihr Grossvater ihnen während diesen zwei Stunden alles erzählt hat. Lernen in Reinkultur. Es ist so spannend, dass auch ich, zwei Abteile davon entfernt, zuhören muss, ob ich will oder nicht. Gerade erklärt er in allen Einzelheiten, wie man Holz scheitet. Einem der Mädchen kommt dabei der “Hau-den-Lukas” in den Sinn, den sie mal auf einem Jahrmarkt sah. Und schon ist der Jahrmarkt das nächste Thema. Weiter geht es mit dem Schulweg des Grossvaters, was er als Kind dabei alles erlebte, was für Strafen es damals in der Schule gab und dass man sogar zehn Minuten nachsitzen musste, wenn man sich während des Unterrichts am Kopf kratzte. Weiter mit Geschichten aus dem Militär, wie man von den Vorgesetzten herumschikaniert wurde. Dann hat eines der Mädchen die Karte mit dem Bündner Eisenbahnnetz entdeckt, die auf der Tischplatte am Zugfenster zu sehen ist. Und schon ist der Grossvater in einem neuen Element und schöpft aus seinem fast endlos scheinenden Wissen: Wie man das Eisenbahnnetz plante, wann und wo, wie man die Brücken baute und die Tunnels, was daran schwierig war und welche der Pläne realisiert werden konnten und welche nicht und weshalb. Dann der Blick durchs Fenster hinaus, neue Bilder, neue Fragen, ein Bach, der endlos weitersprudeln würde, wenn wir nicht gerade in Celerina angekommen wären und alle den Zug verlassen müssten. Was für eine Heiterkeit auf den Gesichtern des Grossvaters und seiner drei Enkelkinder. “Lernen ohne Freude”, sagte Johann Heinrich Pestalozzi, “ist keinen Heller wert.”

POLITIKER DIE VON PÄDAGOGIK KEINE AHNUNG HABEN

16. Oktober 2024. Fast täglich schiesst FDP-Präsident Thierry Burkhart in den Medien aus allen Rohren gegen Inklusion, Integration, spricht von “immer mehr verhaltensgestörten Kindern” und fordert die Wiedereinführung von Klein- und Sonderklassen. Ein Politiker, der von Pädagogik rein gar nichts versteht, hat die Themenführerschaft übernommen, wenn es darum geht, wie sich die Schule in Zukunft verändern und entwickeln sollte. Dabei ist doch nicht die Integration das Problem, auch nicht die Inklusion, auch nicht “verhaltensgestörte Kinder” und auch nicht “schwierige Eltern”. Das eigentliche Grundproblem ist doch die Fiktion der Jahrgangsklasse, die auf der Illusion beruht, man könnte 20 oder 25 Kinder nach dem gleichen Lehrplan, mit den gleichen Methoden und im gleichen Tempo sinnvoll und erfolgreich unterrichten, bloss weil sie im gleichen Jahr geboren wurden. Tatsächlich kann eine Schulklasse nie homogen sein, auch wenn man sich das noch so sehr wünschte. Schon zwei Kinder bilden eine heterogene Lerngruppe. Homogen wäre die Klasse erst, wenn sie aus einem einzigen Kind bestehen würde. Denn glücklicherweise ist die grösstmögliche Verschiedenartigkeit das wesentlichste Merkmal des Menschen. Nicht die Inklusion muss abgeschafft werden, sondern nur die Schule in ihrer heutigen Form. Denn diese schlägt sich bloss mit Problemen herum, die es ohne sie gar nicht gäbe.

DEMOKRATISIERUNG DES GESCHICHTSUNTERRICHTS

17. Oktober 2024. In der traditionellen Lehrplanschule bekommen alle Kinder einer Schulklasse den genau gleichen Geschichtsunterricht, vorgegeben durch den staatlichen Lehrplan und geprägt von einer einzelnen Lehrperson. Ihnen ist das Kind ohne Alternative ausgeliefert. Ganz anders in einer offenen Lernwelt, wo verschiedenste Angebote in Form von Filmen, Büchern, Kursen, Referaten, Workshops und Debattierklubs zur Verfügung stehen, aus denen sich alle Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen je nach Interessen ihren jeweiligen eigenen “Geschichtsunterricht” zusammenzimmern können. Nicht politische Parteien bzw. politische Mehrheitsverhältnisse, nicht irgendwelche Interessengruppen oder “Bildungsexperten” bzw. “Bildungsexpertinnen” würden dann aufgrund gegenseitiger Machtkämpfe über die Inhalte des Vermittelten bestimmen, sondern einzig und allein die Lernenden selber. Dies gilt freilich auch für alle anderen Wissensgebiete ebenso.

3sat, 22. September 2024: “Alles im Wunderland” – eine bitterböse Schulkritik…

Selten habe ich eine so brillante und scharfsinnige Kritik am herrschenden Erziehungs- und Schulsystem angetroffen wie an diesem 22. September 2024 auf 3sat, in der Satiresendung “Die Anstalt” zum Thema “Alles im Wunderland” mit Max Uthoff. Im Folgenden einige zentrale Passagen aus seinen Aussagen zu den Themen Erziehung und Schule.

Diese seltsame Sucht nach mehr Autorität in der Politik, woher kommt das? Könnte es sein, dass sich da auch das Grösserwerden im eigenen Haushalt abbildet? Und zwar nicht nur in rechten Haushalten. Alice landet im Wunderland und trifft stets auf grössere Gestalten, ältere Gestalten, die sie unentwegt herabwürdigen. Was meinen Sie? Würden Sie mit einem Erwachsenen, den Sie lieben, ebenso sprechen wie mit Ihren Kindern? Würden Sie zu einem Tiefbauingenieur, mit dem Sie liiert sind, sagen: “Sei artig!” oder “Benimm dich!” Würden Sie einer Ärztin, mit der Sie verheiratet sind, sagen: “Das tut man aber nicht!” oder “Da war jetzt aber jemand besonders unartig!” Wir beugen uns von oben herab zu den Kindern und sagen ihnen, was sie zu denken und zu fühlen haben. Bizarre Feststellungen wie “Das hat doch gar nicht weh getan!” oder “Sag mal, wie alt bist du eigentlich?” oder “Na, wie heisst das Zauberwort?”

Immer diese vermeintliche Weisheit der weissen Königinnen und der verrückten Hutmacher, die glauben, im Recht zu sein. Einzige Begründung: Alter. Das Ansammeln von Lebensjahren reicht aus als Begründung für Zurechtweisung, wir beugen uns von oben herab zu den Kindern und beurteilen sie aus unserer Sicht, was sich Adultismus nennt, weil wir glauben, die sind noch nicht fertig, da müsse man noch herumschrauben. Aber die sind schon fertig, wir sollten sie nur in erster Linie in Ruhe lassen…

Und in der Schule geht es weiter mit den Demütigungen. Was ist eine Fünf in Mathe anders als eine Demütigung. Und Schülerinnen und Schüler, die eine bessere Note haben, freuen sich in diesem Moment ja nur, weil sie die Erwartungshaltung der Gesellschaft oder der Eltern erfüllen. Dieses permanente System der Bewertung von kleinen Menschen, nicht etwa nach Talenten, Solidarität, Kollegialität, nein, wir ersetzen die kindliche Neugierde durch formatiertes Wissen, weil wir vergessen, dass wir vor unserer Formatierung auch einmal neugierig gewesen waren. Nutzloses Wissen, dass zurecht sogleich wieder vergessen geht, weil nur Wissen, dass man intrinsisch und mit Neugierde lernt, dauerhaft bei einem bleibt. Fast das gesamte Wissen, das wir in der Schule lernen, kann man in 20 Sekunden googeln. Das Wissen der Welt verdoppelt sich alle 15 Jahre. Heute ginge es vor allem darum, zu lernen, wie man sich gewisses Wissen vom Leibe halten kann.

Immer noch beurteilen wir Schülerinnen und Schüler danach, wie gut sie gewisse Informationen abrufen können, die sie zeitlebens nie mehr brauchen werden. Und stellen Sie sich nicht vor, dass die Kinder es nicht merken. Meine jüngste Tochter kam nach Hause, da war sie in der 2. Klasse, acht Jahre alt, stellte sich vor uns hin und sagte: “Mama, Papa, die Schule steht meinem Leben im Weg.

Wenn wir unseren Kinder schon in frühen Jahren die Erkenntnis von Søren Kierkegaard vermitteln würden, der Vergleich ist das Ende des Glücks und aller Anfang der Unzufriedenheit, dann würden sie ihre Brotzeitboxen augenblicklich zusammenklappen und nach Hause gehen…

Wie sollen wir eine Demokratie mit Leben füllen, wenn alles, was wir Kindern bis zum 18. Lebensjahr zumuten, die Wahl eines Klassensprechers ist, der nichts zu entscheiden hat. Die bayrische Staatsregierung will nun vermehrt den Kindern Demokratie näherbringen, und wie machen sie es? Indem sie ihnen zusätzlich zum normalen Unterrichtsstoff jetzt jede Woche eine Viertelstunde Verfassungsgeschichte lehren. Das ist etwa so, wie wenn man jemandem das Schwimmen beibringen wollte, indem man ihm einen nassen Waschlappen ins Gesicht wirft...

Und diese lächerliche Panik, die uns immer wieder bei diesen dussligen Pisastudien erfasst. Man hat festgestellt, dass der Schüler in Mathe nicht so gut ist, und was macht man? Jetzt gibt es einfach noch mehr von diesem erfolglosen Matheunterricht, in der Hoffnung, dass noch mehr vom selben zu einem guten Ergebnis führen wird. Gekürzt wird dafür bei so “sinnlosen” Fächern wie Kunst und Musik.

Unser Schulsystem regeneriert in seiner Mehrstufigkeit die bestehende Klassengesellschaft. Und es ist in der Benachteiligung von Menschen mit Migrationsgeschichte zutiefst rassistisch…

Der Unterricht beginnt am Morgen zu einer Zeit, da die meisten Schlafforscher noch nicht einmal ihren ersten Kaffee getrunken haben…

Es gibt weltweit keine einzige Studie, die klar belegt, dass Hausaufgaben irgendeinen pädagogischen Nutzen haben, trotzdem können wir nicht damit aufhören…

Die einzige Begründung, die uns für für den menschenverachtenden-Ellbogen-Demütigungsvergleich in Schule und Gesellschaft einfällt, ist: Es hat uns ja auch nicht geschadet. Also: Der Vergleich ist nötig, schon bei den Kleinsten, der Druck für später, denn auch für uns Erwachsene gilt: Der Vergleich ist der Schmierstoff des Systems…

Eigentlich schon verrückt, dass all dies zur besten Sendezeit über Zehntausende von Bildschirmen flimmern kann und auch das Studiopublikum begeistert mitklatscht, ohne dass es längst fällige, radikale Reformen dieses Systems auszulösen vermag, das Uthoff so meisterhaft und zutreffend kritisiert. Aber auch die Worte von Johann Heinrich Pestalozzi, des wohl berühmtesten Pädagogen aller Zeiten, der schon vor über 250 Jahren genau das Gleiche sagte – “Vergleiche nie ein Kind mit dem andern, sondern stets nur jedes mit sich selber” – sind bisher im Leeren verhallt. Die Kräfte des Bewahrenden und die Macht der Gewohnheit müssen schon nahezu unerschütterlich übermächtig sein und zutiefst resistent gegenüber jeglicher Vernunft.

Die klein-grosse Geschichte eines Schulverweigerers, der heute Dozent an der Hochschule für Gestaltung in Luzern ist und als DER Experte für chinesische Buchkunst gilt…

Lieber Heinz. Die “Kleine Geschichte”, die du mir heute geschickt hast, ist für mich eine ganz wirklich Grosse Geschichte. Würde man das, was sich aus ihr lernen lässt, wirklich ernst nehmen, würde unser traditionelles, auf Jahrgangsklassen und Lehrpläne zugeschnittenes Schulsystem augenblicklich wie ein längst veraltetes und morsch gewordenes Kartenhaus in sich zusammenbrechen. Danke für deinen Mut und deine Konsequenz, sie sollten allen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, ein leuchtendes Vorbild sein…

Und das ist die klein-grosse Geschichte vom Schulverweigerer, der heute Dozent für Gestaltung an der Hochschule Luzern ist und als DER Experte für chinesische Buchkunst gilt:

Ende der 70er Jahre unterrichtete ich während zwei Jahren an einer Realschule in einer Vorortgemeinde von Luzern. Eine ältere Lehrerin hatte verlangt, nur noch Mädchen zu unterrichten, und das wurde ihr erlaubt. Unglaublich. Also hatte der Neue, also ich, nur Jungs. In meiner Klasse war der Christian, ein lieber Junge, aber das Schulische verweigerte er konsequent – allerdings gar nicht auf eine renitente Art. Er fragte mich einfach, ob er zeichnen dürfe, und zwar wandgross. Das erlaubte ich ihm und spannte ein grosses Papier auf. Wochenlang tat er nun nichts anderes, er zeichnete eine Schlacht, die Preussen gegen die Ulanen, Hunderte von Figuren. Als ruchbar wurde, dass bei mir einer nur zeichne, gab es natürlich Zoff mit der Schulleitung. Doch das war mir egal. Als Christian die Zeichnung fertig hatte, fragte er, ob er seine Nähmaschine in die Schule mitnehmen dürfe. Auch das erlaubte ich ihm, worauf er für etwa 30 Stofftiere Fussballtrikots nähte und dann auf grünem Stoff Matches nachstellte und diese fotografierte.

Auch nach der Zeit, während der er bei mir in der Schule war, hatte ich immer wieder Kontakt mit ihm. Und eines Tages eröffnete er mir, dass er gerne auf dem zweiten Bildungsweg das Lehrerpatent machen würde. Ich sagte ihm, dass er drauf achten müsse, dass die Prüfungskommission nicht merken würde, dass er „nur“ einen Realschulabschluss hatte. Tatsächlich schaffte er es, flog dann aber wegen seiner schlechten Französischkenntnisse hinaus. Inzwischen hatte er aber ein Diplom in Italienisch und Spanisch, was für einen Primarlehrer wohl mindestens so wichtig ist wie das Französische.

Irgendwann rief er mich an, ob er mir die Arbeiten zeigen dürfe, die er für die Aufnahme für den Vorkurs an der Schule für Gestaltung habe anfertigen müssen. Nach dem erfolgreich abgeschlossenen Vorkurs ging er zum Weiterstudium nach Dresden. Dann hörte ich lange nichts mehr von ihm und als er eines Tages wieder auftauchte, erzählte er mir, er sei vier Jahre lang in China gewesen und nun als Dozent an einer Hochschule in Dresden tätig.

Mittlerweile ist Christian 60 Jahre alt und Dozent an der Hochschule für Gestaltung in Luzern. Er sei, habe ich erfahren, DER Experte, wenn es um chinesische Buchkunst gehe.

Ich will absolut nichts für mich in Anspruch nehmen, aber manchmal frage ich mich schon, was wohl gewesen wäre, wenn ich ihn nicht so lange Zeit ausschliesslich zeichnen und nähen gelassen hätte…

Miguel und die Deutschprüfung zum Thema “Nomen”: Wenn Steine, statt sie wegzuräumen, mitten in den Weg des Lernens gelegt werden…

Der elfjährige Miguel ist vor drei Jahren mit seiner Familie aus Mexiko in die Schweiz gekommen. Jetzt ist er in der fünften Klasse. Morgen steht eine Deutschprüfung zum Thema “Nomen” an. Wir schauen uns die Lernziele an. Er ist voller Eifer, möchte unbedingt eine gute Note machen. Akribisch notiert er sich die Tipps, die ich ihm gebe, alles in Spanisch, damit er es sich besser einprägen kann.

Eines der Lernziele lautet: Nomen mit dem richtigen Artikel versehen. Also: Was ist korrekt, “der Ball” oder “das Ball”? Miguel fragt mich, ob es dafür eine Regel gäbe. Leider nicht, sage ich, man muss das bei jedem Wort wieder neu lernen. Es gibt keinen logischen Zusammenhang. Es ist leider auch nicht so, dass es in jeder Sprache gleich ist, im Spanischen ist es “la pelota”, also weiblich, im Deutschen “der Ball”, also männlich. Wie dumm, meint Miguel, warum haben die das nicht miteinander abgemacht, als sie die Sprachen erfunden haben, es wäre doch so viel einfacher. Enttäuscht notiert er in sein Heft “ninguna regla” – keine Regel. Zweifellos wird er in diesem Teil der Prüfung keine hohe Punktzahl erreichen. Schlicht und einfach deshalb, weil er im Vergleich zu seinen Mitschülerinnen und Mitschülern mit deutscher Muttersprache alle diese Artikel noch viel zu wenig oft gehört hat, um diese sozusagen “automatisiert” zu haben.

Ein weiteres Lernziel lautet, in einem Text, in dem alle Wörter mit Grossbuchstaben geschrieben sind, die Nomen zu erkennen und diese zu unterstreichen. Eine seltsame Aufgabe, denn normalerweise werden ja in einem Text nie alle Wörter mit Grossbuchstaben geschrieben. Miguel ist offensichtlich verwirrt. Wir lesen eine Beispielübung zu diesem Lernziel und ich stelle fest, dass er – völlig verständlich – die Bedeutung etwa der Hälfte der Wörter gar nicht kennt. Da kommen Wörter vor wie “nacheifern”, “unterstellen” oder “aufgeben”, die Miguel noch nie gehört hat. Wie soll er nun in einem Text die Nomen erkennen können, wenn er so viele Wörter nicht einmal versteht? Es nützt auch nichts, wenn ich ihm die Bedeutung dieser Wörter erkläre, denn in der Prüfung werden wieder ganz andere Wörter vorkommen, die Miguel ebenfalls noch nie gehört hat. Ich erkläre ihm dann, dass man Nomen dadurch erkennt, dass man sie mit einem Artikel versehen kann. Das probiert er sogleich aus und es funktioniert tatsächlich. Weil er aber die Sätze in ihrem Gesamtzusammenhang nicht erkennt und intuitiv merkt, welches die Nomen sind, muss er nun diese Regel bei jedem einzelnen Wort ausprobieren, was äusserst zweitaufwendig ist. Wenn er das in der Prüfung so machen will, dann wird er für diese einzige Aufgabe vermutlich so viel Zeit brauchen, dass ihm für die restlichen Aufgaben kaum mehr viel Zeit zur Verfügung stehen wird.

Ein drittes Lernziel lautet, aus Adjektiven oder Verben durch Anhängen eines entsprechenden Suffixes ein Nomen zu bilden, also zum Beispiel aus “nachhaltig” die “Nachhaltigkeit”, oder aus “üben” die “Übung”. Wieder fragt mich Miguel nach einer Regel. Und wieder muss ich ihn enttäuschen. Es gibt keinen logischen Grund, weshalb es “Nachhaltigkeit” heisst und nicht “Nachhaltigung”, warum “Übertreibung” und nicht “Übertreibigkeit”. Man muss die Wörter einfach genug oft gehört haben, es muss einfach genug tief ins Ohr bzw. ins Unbewusste eingedrungen sein, anders kann es sich nicht im Gedächtnis festhalten, ganz abgesehen davon, dass Miguel ja nicht einmal weiss, was “nachhaltig” bedeutet und es eigentlich völlig absurd ist, wenn er nur Nomen aus Wörtern bilden soll, die für ihn überhaupt keinen Sinn machen. Wieder notiert er in sein Heft “ninguna regla” und ahnt wahrscheinlich bereits, dass er auch in diesem Teil der Prüfung nicht sehr viele Punkte erreichen wird.

Die weiteren Lernziele sind ähnlich. Wenn es keine muttersprachliche, über viele Jahre schon ab der Geburt nach und nach gewachsene Verankerung im Sprachgedächtnis gibt, kann Miguel noch so viele Regeln auswendig lernen, sich noch so sehr anstrengen – immer wird er hoffnungslos im Nachteil sein gegenüber seinen Mitschülerinnen und Mitschülern deutscher Muttersprache. Nicht weil er weniger “gescheit” wäre, nicht weil er weniger “sprachbegabt” wäre, nicht weil er ein schlechteres Gedächtnis hätte, sondern schlicht und einfach deshalb, weil das Deutsche nicht seine Muttersprache ist, die er schon als Baby sozusagen mit der Muttermilch in sich aufgesogen hat. Fazit: Man kann Miguel deshalb gar nicht mit seinen Mitschülerinnen und Mitschülern vergleichen, ebenso wenig, wie man eine Schnecke mit einem Hasen, ein Gänseblümchen mit einer Rose, Äpfel mit Birnen vergleichen kann.

Und doch tut man es. Miguel muss exakt die gleiche Prüfung absolvieren wie alle seine Mitschülerinnen und Mitschüler deutscher Muttersprache. Wozu? Weshalb? Und mit welchen Folgen? Mit Lernförderung hat dies nicht das Geringste zu tun. Lernförderung wäre, Miguel bei seiner individuellen Sprachentwicklung – bei der er im Übrigen innerhalb der drei Jahre, die er bisher in der Schweiz gelebt hat, schon unglaubliche Fortschritte gemacht hat – gezielt zu unterstützen, ihm dabei ganz viele positive Erlebnisse und Gefühle zu vermitteln, ihn dabei immer mehr zu stärken und ihm das Gefühl zu vermitteln, ein unglaublich begabter, intelligenter Mensch zu sein, denn das ist er zweifellos. Aber diese Deutschprüfung zum Thema “Nomen”, mit der er morgen konfrontiert sein wird, wird genau das Gegenteil bewirken. Es wird zweifellos für ihn, der doch so gerne eine gute Note schaffen würde, eine riesige Enttäuschung sein, es wird an seinem Selbstvertrauen nagen und er wird sich vielleicht sogar im schlimmsten Fall die Frage stellen, ob er vielleicht tatsächlich ein bisschen dümmer ist als Röbi, Marianne und Christine, die mit ihren Fünfeinhalbern und Sechsern erhobenen Hauptes nach Hause gehen und von ihren Eltern beglückwünscht werden, während Miguels Papa und Mama die Stirn runzeln und vielleicht nicht einmal so richtig verstehen können, weshalb Miguel keine bessere Note hätte schaffen können, auch wenn er sich noch so sehr angestrengt hätte.

Wie absurd. Lehrkräfte beklagen sich über mangelnde Deutschkenntnisse “fremdsprachiger” Kinder. Aber sie tun alles, damit es nur noch schlimmer wird. Denn Prüfungen wie diese haben nicht den geringsten Lerneffekt, sie zerstören bloss bereits Vorhandenes. Es ist im Grunde doch völlig zweitrangig, ob es korrekt “der Ball”, “die Ball” oder “das Ball” heisst. Es spielt im wirklichen Leben auch nicht die geringste Rolle, ob man das Wort “Ball” mit einem kleinen oder grossen Anfangsbuchstaben schreibt. Zu 99 Prozent ist das Wesentliche, dass Miguel weiss, was ein “Ball” ist. Wenn er beim Spielen seinen Ball nicht mehr findet, dann zählt, wenn er das Nachbarkind fragt, ob es ihn irgendwo gesehen habe, einzig und allein, dass er dieses Wort kennt und verwenden kann, alles andere, die grammatikalische “Perfektion”, ist völlig nebensächlich – wie es auch überhaupt nicht wesentlich ist, ob man “ich bin gesessen” oder “ich bin gesitzt” sagt, das Entscheidende ist doch einzig und allein, dass mein Gesprächspartner versteht, was für eine Botschaft ich ihm übermitteln will – die Perfektion kommt mit der Zeit ganz von selber, so wie wir das beim natürlichen Lernen der ersten Lebensjahre beobachten können: Auch im Alter von vier oder fünf Jahren sagen viele Kinder noch “Ich bin gesitzt” – ein oder zwei Jahre später sagt ein jedes von ihnen “ich bin gesessen”, ohne dass hierfür irgendein von aussen vorgeschriebenes “Lernziel”, eine Prüfung oder eine Note nötig gewesen wäre, sondern nur ganz einfach dadurch, dass das Kind genug oft das “Richtige” gehört und sich dieses Richtige dadurch früher oder später “automatisiert” hat. Und genau so lernt auch Miguel. Auch er wird eines Tages wissen, dass der Ball “männlich” ist und die Zitrone “weiblich” und man nicht “Nachhaltigung” sagt, sondern “Nachhaltigkeit”. Aber hierfür bräuchte es rein gar nichts in der Art wie die Deutschprüfung, die er morgen absolvieren muss und die ihm heute schon so viel Bauchweh bereitet.

Die Schule schafft es, diesem einen Prozent Unwesentlichen gegenüber dem 99 Prozent Wesentlichen unvergleichlich viel zu viel Gewicht zu geben und damit den lernenden Kindern unnötig viel zu viele Steine in den Weg zu legen, über die sie stolpern können, statt alle diese Steine möglichst aus dem Weg zu räumen und die Flügel der Kinder, egal woher sie kommen und egal, welche Lernerfahrungen sie schon gesammelt haben, auf dem Weg ihres Lernens immer mehr zu stärken. Denn die brutale Folge ist, dass Miguel wegen der schlechten Note in der “Nomenprüfung”, die fast zwangsläufig auf ihn zukommen wird, mehr oder weniger viel von seinem Selbstvertrauen verlieren wird, sein Verhältnis zur Sprache dadurch auch mehr und mehr negativ belastet werden könnte, er auch in einer weiteren Prüfung vermutlich wieder scheitern wird und die Konsequenz von alledem darin besteht, dass er irgendwann als Schüler mit “schwachen” sprachlichen Leistungen taxiert wird und ihm deshalb dann zahlreiche zukünftige Lern-, Entwicklungs- und Bildungswege verwehrt bleiben werden, die für andere ganz selbstverständlich sind. Nicht weil er weniger intelligent, weniger ehrgeizig, fleissig und wissbegierig wäre, sondern einzig und allein deshalb, weil er das “Pech” hatte, erst im Alter von acht Jahren in jenes “Sprachbad” eintauchen zu können, in dem sich alle anderen schon acht Jahre lang bewegt hatten. So absurde und lernfeindliche Dinge wie eine Deutschprüfung, bei der Kinder wie Miguel resigniert zum Schluss gelangen müssen, dass es leider “ninguna regla” gibt, müssten für immer der Vergangenheit angehören…

(Nachtrag am 5. September 2024. Mein Brief an die Deutschlehrerin von Miguel: “Er hat sich voller Eifer auf diesen Test vorbereitet, er wollte unbedingt eine gute Note machen. Aber beim Üben wurde mir bewusst, dass dies für ihn, da ja Deutsch nicht seine Muttersprache ist, nahezu unmöglich ist. Er kennt einfach noch nicht die korrekten Artikel bzw. das Geschlecht der Nomen. Kann er auch nicht, weil es ja hierfür keine logischen Regeln gibt und er einfach, im Gegensatz zu seinen Mitschülerinnen und Mitschüler mit deutscher Muttersprache, dies noch nicht „im Ohr“ hat, noch nicht verinnerlicht hat, es noch nicht in seinem Gedächtnis verankert und in seinem Unterbewusstsein angekommen ist. Er könnte stundenlang üben, aber es würde nicht viel nützen. Das Gleiche, wenn er in einem Text, in dem alle Wörter mit Grossbuchstaben geschrieben sind, die Nomen erkennen soll. Wenn er etwa die Hälfte der Wörter gar nicht versteht und deshalb auch keinen Sinnzusammenhang hat, kann er, wiederum im Gegensatz zu seinen deutschsprachigen Mitschülerinnen und Mitschülern, nicht intuitiv erfassen, welches die Nomen sein könnten, also muss er bei jedem einzelnen Wort ausprobieren, ob man ihm einen Artikel voranstellen könnte oder nicht. Das braucht aber so viel Zeit, dass ihm dann wahrscheinlich viel zu wenig Zeit bleibt, um auch noch die übrigen Aufgaben zu bewältigen. Auch herauszufinden, wie man aus Adjektiven Nomen bilden kann, ist für ein Kind, dessen Muttersprache nicht Deutsch ist, extrem anspruchsvoll. Wenn er nicht einmal die Bedeutung des Wortes „nachhaltig“ kennt, wie soll er dann wissen, dass das zugehörige Nomen „Nachhaltigkeit“ heisst? Es könnte ja ebenso gut „Nachhaltigung“ lauten, er verfügt deshalb über keine Regel, auf die er sich abstützen kann. Bei allen Aufgaben des Tests ist das fremdsprachige Kind zum Vornherein überfordert und gegenüber den deutschsprachigen Mitschülerinnen und Mitschülern krass benachteiligt. Und so kam es, wie ich erwartet hatte: Trotz fleissigem Üben und seinem starken Willen und Ehrgeiz schaffte er nur eine 3,5, die – wie er mir sagte – viertschlechteste Note der Klasse, und war entsprechend enttäuscht. Ich habe mir dann überlegt, ob man nicht für diese Kinder einen separaten Test machen könnte, in dem sie zeigen können, was sie schon alles können und gelernt haben, und nicht damit konfrontiert werden, was sie noch nicht können und noch nicht lernen konnten. Folgende Testaufgaben könnte ich mir für anderssprachige Kinder vorstellen: Sie sollen zu vorgegebenen Nomen ein passendes Adjektiv setzen, also zum Beispiel zu „Ball“ das Adjektiv „rund“ oder zu „Haus“ das Adjektiv „hoch“. Eine andere Aufgabe könnte sein, dass sie 10 Nomen bekommen, die sie in einem Lückentext an der richtigen Stelle einsetzen müssten. Oder Sätze mit korrekten Aussagen (z.B. Viele Flüsse fliessen ins Meer) von Sätzen mit falschen Aussagen (z.B. Kieselsteine sind grösser als Berge) unterscheiden, immer mit einem ihren Möglichkeiten angepassten Wortschatz. Oder von 5 Nomen (z.B. Rose – Apfelbaum – Igel – Löwenzahn – Gras) herausfinden, welches von ihnen nicht zu den anderen vier passt. Wahrscheinlich würden sie auch dann nicht alles korrekt lösen können, aber mindestens hätten sie eine echte Chance auf eine gute Note, und das würde ihr Selbstvertrauen stärken, welches ja die wichtigste Voraussetzung ist für erfolgreiches Lernen. Mir ist völlig klar, dass es eine grosse Herausforderung für die Lehrkräfte wäre, für anderssprachige Kinder andere Prüfungen zu machen. Aber ich denke, es würde sich lohnen. Um das Selbstvertrauen dieser Kinder zu fördern, sie auf ihrem individuellen Weg des Lernens, auf dem sie nun einmal unmöglich gleich weit sein können wie ihre Mitschülerinnen und Mitschüler, welche in die deutsche Sprache von klein auf hineinwachsen konnten, zu unterstützen und zu begleiten, damit sie auf ihrem „Leiterchen“ ebenso erfolgreich in die Höhe klettern wie die anderen auf ihren „Leiterchen“. Es versteht sich von selber, dass Sie allein als einzelne Lehrerin diese Herausforderung nicht stemmen können. Aber es wäre vielleicht ein Thema im Lehrerkollegium oder anlässlich einer Weiterbildung.”)

“Neue Autorität”: Ein neuer Begriff geistert durch die pädagogische Landschaft – doch was steckt dahinter?

Voll des Lobes ist Thomas Minder, Präsident des Verbands der schweizerischen Schulleiterinnen und Schulleiter, in einem im Elternmagazin “Fritz und Fränzi” vom 17. April 2024 veröffentlichten Artikel über die sogenannte “Neue Autorität”, mit der sich, wie es der Titel des Artikels besagt, Eltern, Lehrkräfte und ganz allgemein Erziehungspersonen wieder “Respekt” verschaffen können, ohne sich deswegen dem Vorwurf ausgesetzt zu sehen, “autoritär” zu sein. Die “Neue Autorität” ist ein pädagogisches Konzept, das in den 1980er Jahren vom israelischen Psychologen Haim Omer entwickelt wurde und sich seither in der pädagogischen Fachwelt und bei zahlreichen Erziehungspersonen grosser Beliebtheit erfreut. Ein Konzept, auf das wohl all jene, die schon seit Jahren bedauern, Erwachsene verfügten, im Gegensatz zu früher, nicht mehr über genügend Wirksamkeit, um sich gegen rebellische, widerspenstige oder sonstwie “schwierige” Kinder und Jugendliche durchzusetzen, lange schon sehnlichst gewartet hatten. Doch je näher man sich mit den Hintergründen dieser Theorie auseinandersetzt, umso erstaunter muss man feststellen, dass sich dahinter uralte, längst überholte Muster im Umgang von Erwachsenen mit Kindern und Jugendlichen verbergen und bloss, in ein “modernes” Kleid verpackt, dadurch etwas harmloser erscheinen sollen. Alter Wein in neuen Schläuchen…

“Oft ist zu hören, dass Kinder den Erwachsenen nicht den nötigen Respekt zollen”, so ist im ersten Abschnitt des Artikels zu lesen. Und damit ist von Anfang an schon die falsche Spur gelegt und man wird wieder gedanklich in frühere, angeblich bessere Zeiten zurück katapultiert, als die Welt eben noch in “Ordnung” war und Erwachsene über genügend Respekt verfügten, um ihre Vorstellungen von Moral und “richtigem” Verhalten bei ihren Kindern bzw. Schülerinnen und Schülern durchzusetzen. Doch müsste es eigentlich schon längst allgemeines Gedankengut sein, dass man so etwas wie Respekt nur erwarten darf, wenn man ihn gegenüber anderen ebenso konsequent an den Tag legt. Respekt darf nie etwas Einseitiges sein, und schon gar nicht so etwas wie ein “Recht”, über das ältere Menschen gegenüber jüngeren verfügen, bloss weil sie älter sind. Es gibt keinen einsichtigen Grund dafür, dass Erwachsene Kindern und Jugendlichen nicht genau den gleichen Respekt entgegen bringen sollten, den sie auch von diesen gegenüber ihnen erwarten. Im Gegenteil: Etwas glaubwürdig vertreten kann man nur, wenn man es mit dem eigenen Beispiel vorlebt. Nicht nur Kinder und Jugendliche können von Erwachsenen etwas lernen, genau so vieles und genau so Wichtiges können auch Erwachsene von Kindern und Jugendlichen lernen. Wo immer der Altersunterschied zwischen Kindern und Erwachsenen dazu missbraucht wird, dass die einen über die anderen Macht ausüben, dadurch besondere Privilegien geniessen und im Zweifelsfall immer Recht haben, ist es eine Verletzung elementarer Menschenrechte. Nähme man das ernst, müsste kein Mensch mehr von “neuer Autorität” sprechen, man könnte sich diesen ganzen Artikel ersparen und auch die gesamte dahinter steckende Theorie.

“Man kann nur auf Menschen einwirken”, so ist im Weiteren zu lesen, “mit denen man eine Beziehung pflegt.” Darum sei es so schwierig, einer unbekannten Person, die sich im öffentlichen Raum nicht gebührend verhält, zu sagen, sie solle mit dem störenden Verhalten aufhören: “Folglich müssen wir in den Schulen stetig an der Beziehung zu unseren Schützlingen arbeiten.” Wieder wird unhinterfragt davon ausgegangen, “nicht gebührendes und störendes Verhalten” sei ausschliesslich den jüngeren Menschen, in diesem Falle den Schülerinnen und Schülern, zuzuschreiben, und es sei deshalb ausschliesslich die Pflicht der Erwachsenen bzw. der Lehrpersonen, gegen solches “Fehlverhalten” einzuschreiten. Kein Wort davon, dass auch Erwachsene und selbst Lehrpersonen durchaus in gewissen Situationen “ungebührendes und störendes” Verhalten an den Tag legen können, und zwar immer dann, wenn sie die Kinder und Jugendlichen nicht respektvoll behandeln bzw. ihre Privilegien als sozusagen öffentliche “Erziehungspersonen” in Form von Zurechtweisungen, Moralisieren oder gar irgendwelchen Strafmassnahmen missbrauchen. Und ebenfalls kein Wort davon, dass die sogenannte “Widerspenstigkeit” oder das sogenannte “Fehlverhalten” von Kindern und Jugendlichen meist nichts anderes ist als eine natürliche Reaktion auf Bevormundung, Fremdbestimmung oder Machtdemonstration seitens der Erwachsenen, gegen die sich die jungen Menschen gar nicht anders wehren können als durch “Frechheit” oder “Ungehorsam”. Trügerisch ist auch die Verknüpfung mit dem Begriff der “Beziehung”. Persönliche “Beziehung” soll also dazu dienen, dem jungen Menschen das “richtige” Verhalten beizubringen. Dabei beruhen echte menschliche Beziehungen stets auf Gegenseitigkeit und schliessen das Durchsetzen von Machtinteressen der einen gegen die andere Seite zum Vornherein aus. Ins Auge sticht auch das Wort “Schützling”, das man früher meist im Zusammenhang mit “Mündel” und “Schutzbefohlenen” verwendete und damit meinte, einzig die für sie verantwortliche Erziehungs- bzw. Autoritätsperson wisse, was für diese gut sei und was nicht.

Einen wichtigen Teil der Zielsetzungen der “Neuen Autorität” bildet die Forderung nach dem Aufbau von Netzwerken, in denen sich Lehrpersonen und Eltern verbinden und gegenseitig unterstützen sollten, um geeint auftreten und die “notwendigen Veränderungen so lange einfordern zu können, bis die Veränderung eintritt”, denn als “Einzelperson” sei man meistens überfordert. “Ein starkes Team”, so Minder, “ist hilfreich, die gemeinsame Haltung und die verbindenden Werte sind ein starkes Signal, das nach aussen wirkt, uns als Lehrerteam aber auch intern stärkt.” Kein Wort davon, dass eigentlich vor allem auch die Kinder und Jugendlichen auf Netzwerke und gegenseitige Unterstützung angewiesen wären, da ja gerade sie als “Einzelpersonen” möglichem Machtmissbrauch seitens von Erwachsenen in hohem Masse schutzlos ausgeliefert sind – man denke nur an die immer noch in vielen Schulen weit verbreiteten, oft völlig überrissenen Strafmassnahmen nur schon wegen geringster “Vergehen”, an das totale Ausgeliefertsein der Kinder und Jugendlichen an ausschliesslich von Erwachsenen vorgegebene Lehrpläne und schulische Inhalte oder, als besonders krasses Beispiel, an den schon fast als “normal” akzeptierten Machtmissbrauch seitens von Trainerinnen und Trainern im Spitzensport. Nicht nur im Zusammenhang mit der “Neuen Autorität”, sondern ganz allgemein ist gerade aus Lehrerteams immer wieder zu hören, es sei wünschbar, dass “alle am gleichen Strick ziehen.” Wenn man sich das dann aber konkret vorstellt, gibt das kein schönes Bild. Denn der “Strick”, an dem Lehr- und Erziehungspersonen gemeinsam ziehen, wird nicht selten zu einem Strick, dessen anderes Ende sich um den Hals der Kinder legt, und je fester das “Erziehungsteam” daran zieht, desto grösser ist die Gefahr, dass die Kinder dadurch in ihrer Gedanken- und Bewegungsfreiheit unnötig eingeschränkt werden. Ganz abgesehen davon, dass ein Lehrerteam, bei dem alle gleich denken und handeln, nicht gerade das adäquate Abbild einer demokratischen Gesellschaft ist, in der es nun mal ganz unterschiedliche, sich gelegentlich auch gegenseitig widersprechende Ansichten über Erziehung, Moral und Wertesysteme gibt, die man nicht unterdrücken oder gar ausschliessen, sondern vielmehr in einen gemeinsamen fruchtbaren Dialog bringen sollte.

Geradezu zynisch wird es, wenn sich die “Neue Autorität” auf den sogenannten “gewaltfreien Widerstand” und dessen berühmtesten Repräsentanten, nämlich Mahatma Gandhi, beruft. Es braucht schon ein ungeheures Mass an Geschichtsblindheit, den “Kampf” von Erziehungspersonen für das moralische “Wohlverhalten” von Kindern und Jugendlichen auch nur im Entferntesten mit dem Kampf Gandhis gegen die britische Kolonialherrschaft zu vergleichen. Als wären Kinder und Jugendliche Inbegriffe des Bösen oder geradezu Monster, die man nicht anders bezwingen kann als durch beharrliche “Befehlsverweigerung” und zivilen Ungehorsam oder, wie es im vorliegenden Artikel von Thomas Minder auf den Punkt gebracht wird: “Wir geben nicht auf, wir sind da und gehen nicht weg, selbst dann nicht, wenn es schwierig wird.” Auf diese Weise wird die Realität nicht nur ausgeblendet, sondern geradezu in ihr Gegenteil verkehrt: Der “passive Widerstand” von Lehrpersonen gegenüber Kindern dient ja nicht dazu, bestehende Machtverhältnisse zu beseitigen, sondern, im Gegenteil, dazu, sie zu verfestigen, zu zementieren und obendrein zu legitimieren, nur eben mit “moderneren” Mitteln, die in der heutigen Zeit eher akzeptiert werden als der frühere Prügelstock und die frühere Schamecke. Für die Kinder aber wird es dadurch noch schwieriger, sich gegen ungerechtfertigten Machtmissbrauch seitens der Erwachsenen zu wehren: Es ist viel einfacher, sich gegen einen Lehrer zu wehren, der Ohrfeigen verteilt, weil das Kind da nämlich in aller Regel die Eltern und sogar das Gesetz auf seiner Seite hat. Ungleich aber viel schwieriger ist es, sich gegen den Machtmissbrauch eines sanft lächelnden und scheinbar “liebevollen” Lehrers zu wehren, der seine Machtstellung auf ganz feine, subtile, geradezu unsichtbare Weise ausübt, nur schon dadurch, dass er den umfassenden Repressionsapparat des bestehenden Schulsystems nie grundsätzlich in Frage stellt und damit das pure Gegenteil dessen verkörpert, wofür Mahatma Gandhi ein Leben lang kämpfte.

Man hätte es eigentlich viel einfacher haben können als durch diesen Rückgriff auf die scheinbar “zeitgemässen” Theorien eines israelischen Psychologen, hinter denen sich nun all jene bequem verstecken können, die immer noch nicht eingesehen haben, dass “Erziehung”, auch wenn sie noch so gut gemeint ist, nie etwas zu tun haben darf mit der Durchsetzung und Aufrechterhaltung bestehender Machtverhältnisse seitens Erwachsener gegenüber Kindern und Jugendlichen, auch und gerade wenn diese noch so subtil und scheinbar “liebevoll” daherkommen. Statt Haim Omer würde man gescheiter wieder einmal den guten alten Johann Heinrich Pestalozzi lesen. Der wusste nämlich schon vor über 250 Jahren, dass nur die echte, bedingungslose und zweckfreie Liebe zählt und dass die Aufgabe der Erwachsenen nicht darin bestehen darf, die Kinder auf irgendeinen scheinbar “richtigen” Weg zu ziehen, sondern einzig und allein darin, mit ihnen gemeinsam diesen Weg zu gehen, beständig gegenseitig voneinander zu lernen und, statt “widerspenstige”, “ungehorsame” oder “freche” Kinder mit allen Mitteln anpassen und zurechtbiegen zu versuchen, gerade sie in ganz besonderem Masse als Chance zu erkennen, Seite an Seite mit ihnen die Welt jeden Tag ein bisschen neu kennenzulernen und ein bisschen besser, schöner und friedlicher zu gestalten…

18. August 2024: Viel Raum in der Sonntagspresse für die verschrobenen und altertümlichen Ideen eines Zürcher Pädagogikprofessors…

Gleich zwei Mal kommt der an der Universität Zürich lehrende Erziehungswissenschaftler Roland Reichenbach heute Sonntag, 18. August 2024, zu Wort. Einmal mit einem ganzseitigen Interview in der “Sonntagszeitung”, zum andern mit einem weiteren Interview in der “NZZ am Sonntag”, das sich über fast zwei Zeitungsseiten hinweg erstreckt. Ich frage mich, welches wohl die Beweggründe sind, weshalb dieser bisher eher unbekannte Pädagogikprofessor auf einmal eine so grosse Plattform bekommt, um seine verschrobenen und altertümlichen Ideen kundzutun.

Das Interview in der “Sonntagszeitung” steht unter dem Titel “Schule ohne Noten ist wie Kapitalismus ohne Geld. Das funktioniert nicht.” Zwar räumt Reichenbach ein, Noten seien “problematisch” und “weder objektiv noch gerecht”, um dann aber entgegenzuhalten: “Zu behaupten, dass die Leistungen nicht sinken würden, wenn man auf Noten verzichtet, ist fromm.” Hausaufgaben abzuschaffen findet er “eine schlechte Idee”, denn sie “geben die Möglichkeit, Gelerntes zu konsolidieren und Lerninhalte besser zu verstehen.” Dass “alle Lehrkräfte der Idee zunicken”, man müsse die Kinder aufgrund ihrer unterschiedlichen Leistungsfähigkeit entsprechend “unterschiedlich behandeln”, bezeichnet er als “pädagogischen Gottesdienst”, denn Lernen, so sagt er, “lässt sich nicht selbstbestimmt und individuell organisieren.”

DAZU MEIN LESERBRIEF AN DIE “SONNTAGSZEITUNG”:

Schule ohne Noten funktioniere nicht, behauptet der Erziehungswissenschaftler Roland Reichenbach. Hat er keine eigenen Kinder gehabt? Sonst müsste er nämlich wissen, wie unglaublich viel höchst Komplexes Kinder in ihren ersten Lebensjahren lernen, ohne je dafür eine Note zu bekommen. Mir wurde schon vor über 50 Jahren während meiner Ausbildung zum Sekundarlehrer an der Uni Zürich der Unterschied zwischen „intrinsischer“ und „extrinsischer“ Motivation beigebracht und dass natürliche, intrinsische Motivation aus Neugierde und echtem Interesse stets zu besseren Lernleistungen führe als all jene Formen von extrinsischer Motivation, die künstliche Anreize schaffen, von Fremdbestimmung, Druck und oft auch von Angstmacherei bestimmt sind und keinen logischen Zusammenhang aufweisen mit dem betreffenden Lerninhalt. Oder, wie es Johann Heinrich Pestalozzi schon vor über 250 Jahren ganz einfach sagte: „Lernen ohne Freude ist keinen Heller wert.“ Echtes Lernen braucht keinen Quervergleich mit anderen Kindern und daher auch keine Prüfungen und Noten. Wenn Schule davon ausgeht, dass Kinder ohne Noten nichts lernen würden, dann ist dies bloss das Eingeständnis der Schule, dass die von ihr vermittelten Lerninhalte offensichtlich viel zu wenig zu tun haben mit den echten Lern- und Lebensbedürfnissen der Kinder, zu deren Erfüllung man kein einziges von ihnen mit irgendwelchen künstlichen Mitteln „motivieren“ müsste, weil sie es nämlich noch so gerne freiwillig und ohne äusseren Druck täten.

Das Interview in der “NZZ am Sonntag” steht unter dem Titel “Viele Kinder wollen nicht mehr leisten”. Reichenbach sieht als eines der Hauptprobleme die “Krise der Autorität”, die den Lehrerberuf “im Kern” treffe: “Denn wir wissen, wie wichtig die Autoritätsanerkennung der Lehrperson durch die Schülerinnen und Schüler sowie durch deren Eltern für die Anstrengungs- und Lernbereitschaft ist.” In welcher pädagogischen Mottenkiste hat Reichenbach wohl diese “Weisheiten” entdeckt? Und wo, um Himmelswillen, ist er wohl auf folgendes Konstrukt gestossen, das man mindestens zwei Mal lesen muss, um dann immer noch nicht zu begreifen, was er damit wohl gemeint haben könnte: “Natürlich könnten manche Kinder den Schulstoff zu Hause gezielter und schneller lernen als in der Schule. Aber ohne Klassenzimmer, ohne Schulgemeinschaft und die damit verbundenen Rituale und auch individuellen Opfer, ohne die zahlreichen Erfahrungen mit den teilweise störenden Eigenarten der Lehrpersonen hätten diese Kinder am Ende sehr wenig vom Leben verstanden, also von sich und der Welt.”

DAZU MEIN LESERBRIEF AN DIE “NZZ AM SONNTAG”:

„Viele Kinder wollen nicht mehr leisten“ – schon der Titel des Interviews mit dem Erziehungswissenschaftler Roland Reichenbach ist ein Schlag ins Gesicht des Kindes, das in seinen ersten Lebensjahren so komplexe Lernleistungen vollbringt wie das Erlernen der Muttersprache, und dies ohne eine einzige Schulstunde, ohne Lehrplan, ohne Lehrer, ohne Prüfungen und ohne Noten. Wer sich mit Schulfragen beschäftigt, darf dieses zugleich so lustvolle und erfolgreiche Lernen des Kleinkindes nie aus den Augen verlieren. Dann wird nämlich schnell klar, dass fast alle der heute diskutierten Schulprobleme nicht so sehr die Probleme „schwieriger“, „verhaltensgestörter“ oder „lernunwilliger“ Kinder sind, sondern die Probleme einer Schule, die sich viel zu weit von den natürlichen Grundlagen menschlichen Lernens entfernt hat. Eine Schule kann nur in der Weise eine gute Schule sein, als es ihr gelingt, ausnahmslos jedem Kind die Möglichkeit zu bieten, seinen ihm eingeborenen, individuellen und einzigartigen „Lernplan“ zur Entfaltung zu bringen. Besser als die beste Schule wäre daher ein Abschied von der traditionellen Lehrplan- und Jahrgangsklassenschule, die Aufhebung all dessen, was Lernen und Leben voneinander trennt, und die Rückbesinnung auf die zentrale Erkenntnis, wonach die wirkungsvollste Art zu lernen jene des „Learning by Doing“ ist, Lernen durch Tun, durch Beobachten, Forschen und Experimentieren und durch das allmähliche Hineinwachsen des Kindes in die Welt der Erwachsenen.

Im Alter von acht Jahren veröffentlichte ich meine erste kleine, selbergeschriebene Zeitung. Niemand hatte sie lektoriert. Und das war gut so.

Die kleine Zeitschrift, die ich im Alter von 8 Jahren zu schreiben begann und bis zum 16. Lebensjahr einmal pro Monat herausgab, hiess zunächst „Famo-Cini“ – keine Ahnung, wie ich auf diesen Namen gekommen war. Später benannte ich sie in „Ihr Lesekameraden“ um. Da ich die Hefte bis heute aufbewahrt habe und gelegentlich mal jemandem zeige, ist mir kürzlich aufgefallen, dass ich den Titel im Alter von neun Jahren korrekt schrieb: „Ihr Lesekameraden“. Aus irgendwelchen, mir unerfindlichen Gründen hiess sie dann aber etwa ein halbes Jahr später plötzlich „Ihr Lesekamerate“. Und ein paar weitere Monate später sogar: „Ihr Lessekameratte“ – nicht wie man erwarten könnte, hatte sich in diesem Zeitraum meine Rechtschreibung verbessert, im Gegenteil, sie hatte sich massiv verschlechtert, es waren immer mehr Fehler dazu gekommen.

Es brauchte fast ein weiteres halbes Jahr, bis meine Zeitschrift dann wieder korrekt „Ihr Lesekameraden“ hiess. Seither habe ich das Wort nie mehr „falsch“ geschrieben. Natürliche Lernprozesse brauchen Zeit, aber früher oder später setzt sich das Richtige durch, wie bei den kleinen Kindern, die im Alter von zwei oder drei Jahren ein Wort zuerst tausendmal „falsch“ sagen, bis es dann eines Tages plötzlich richtig ist. So entsteht die Perfektion nach und nach auf natürliche Weise. Die erste Ausgabe meiner Zeitung im Alter von acht Jahren war voller Fehler, in der letzten Ausgabe, die ich im Alter von 16 Jahren schrieb, findet sich kein einziger Fehler mehr. Learning by Doing. Lernen durch Versuch und Irrtum. Niemand hatte jemals meine kleine Zeitschrift lektoriert, im Gegenteil, die meisten Leserinnen und Leser fanden die Fehler geradezu amüsant. Auch heute noch, wenn ich die frühen Ausgaben meiner Zeitschrift lese, sind die „Fehler“ das Lustigste, das, worüber ich am meisten schmunzeln muss – das Salz in der Suppe, die sonst fad und eintönig wäre. Fehler sollte man möglichst lange machen dürfen und nicht so früh wie möglich auszumerzen versuchen. Und schon gar nicht bekämpfen. Und erst recht nicht Kinder dafür bestrafen, wenn sie Fehler machen. Denn, wie ein uraltes afrikanisches Sprichwort sagt: „Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.“

Ich bin fast ganz sicher: Würden wir diese Geduld, diese Gelassenheit und die Zuversicht, dass es am Ende schon gut herauskommt, in genügendem Masse aufbringen, dann würde kein Erwachsener jemals auch nur noch einen einzigen Rechtschreibefehler machen, ebenso wenig, wie er auch beim Sprechen und in der mündlichen Kommunikation irgendwelche „Fehler“ macht, ganz einfach deshalb, weil er genug lange so viele Fehler wie nur möglich machen durfte, um dann eines Tages zur höchsten Perfektion zu gelangen.

Sprunghaft zunehmender Schulabsentismus: Die Schule muss nicht allzu weit gehen, um die Ursache zu finden…

Für den in den letzten Jahren sprunghaft angestiegenen Schulabsentismus – unentschuldigtes Fernbleiben von der Schule – sieht René Donzé in der “NZZ am Sonntag” vom 5. Mai 2024 vor allem zwei Ursachen: Ängste und Mobbing. Weiter werden erwähnt: Sozialphobie, Kriegsangst, Spätfolgen von Corona, Schnelllebigkeit der Gesellschaft, soziale Medien, häufiger Wohnortswechsel, Arbeitslosigkeit der Eltern, Armut, Verweichlichung. Nur am Rande ist die Rede davon, dass auch die Schule selber eine Ursache sein könnte.

Befragt man aber Kinder und Jugendliche, wird schnell deutlich, dass sie selber in erster Linie unter dem wachsenden schulischen Prüfungs- und Leistungsdruck leiden. Dazu kommt die Fremdbestimmung schulischen Lernens: Die Kinder und Jugendlichen dürfen nicht selber entscheiden, was und wie sie lernen möchten, die Lerninhalte werden ihnen weitgehend vorgeschrieben. Zudem werden sie durch das Prüfungs- und Notensystem permanent in einen gegenseitigen Konkurrenzkampf gezwungen, aus dem die einen immer wieder als vermeintliche „Gewinner“ und die anderen als „Verlierer“ hervorgehen, was bei diesen zu einer endlosen Kette von Misserfolgserlebnissen bis hin zum Verlust jeglichen Selbstvertrauens führen kann, der eigentlichen Grundvoraussetzung für erfolgreiches Lernen.

Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen mögen schwierig sein, oft auch die Familienverhältnisse, die soziale Situation, der Einfluss der sozialen Medien, möglicherweise auch die Folgen der Coronakrise. Wäre die Schule aber ein Ort des Wohlbefindens und der Lebensfreude, wo alle Kinder ausnahmslos erfahren dürften, wie wertvoll sie sind und über was für wunderbare Begabungen ein jedes von ihnen verfügt, dann würden wohl kaum so viele Kinder so ungern zur Schule gehen. Vermutlich wäre wohl eher das Gegenteil der Fall.

“Keine Schonhaltung für Schulschwänzer”, fordert René Donzé. Er spricht von einer “erodierenden psychischen Gesundheit der Jugend”, ohne die Wechselwirkung zwischen dieser “psychischen Gesundheit” und einer Schule zu erwähnen, die viel zu wenig sorgsam auf die eigentlichen Lern- und Lebensbedürfnisse der Kinder und Jugendlichen eingeht. Nicht zuletzt wirft er den Eltern vor, zu “lasch” zu reagieren – so müsse man sich nicht wundern, wenn die Absenzen weiter zunähmen. Eine “Schonhaltung” schade den Jungen bloss. Doch ist wohl zu bezweifeln, dass weniger “Schonhaltung” und mehr Härte den Schulabsentismus verhindern könnten. Viel eher wäre wohl das Gegenteil der Fall: Der Widerwillen der Kinder und Jugendlichen gegenüber der Schule würde dadurch wahrscheinlich eher noch zunehmen.

Vielleicht müsste man bei dieser Gelegenheit nur wieder einmal den guten alten Johann Heinrich Pestalozzi lesen, den eigentlichen “Vater unserer Volksschule”. Dieser sagte nämlich: Wenn etwas im Unterricht nicht funktioniere, dann müsse der Lehrer stets zuallererst die Ursache bei sich selber suchen. Und erst, wenn er sie, was höchst selten sei, nicht bei sich selber finde, könne er sich ja überlegen, wo sie vielleicht sonst noch irgendwo sein könnte…

Ein B, das Flügel bekam und sich in eine Biene verwandelte: Wie Star lesen und schreiben lernte…

Meine Enkelin Star war viereinhalb Jahre alt, als sie mir eines Tages ganz aufgeregt etwas zeigte. “Schau, Opa”, sagte sie, “das ist ein X!” Es war tatsächlich der Buchstabe X, den sie in einem Wort gefunden hatte, welches ihre sechs Jahre ältere Schwester Leonie auf ein Blatt Papier geschrieben hatte. “Und das hier kenne ich auch”, sagte sie und zeigte auf die Buchstaben N, O und A. “Aber die hier”, sie zeigte auf die anderen Buchstaben im Wort, “die weiss ich noch nicht.” Und dann bat sie mich, in ihr Zimmer zu kommen. Voller Stolz nahm sie eine kleine, bunte Blechdose von ihrem Nachttischchen und öffnete sie: “Schau, hier sind sie!” In der Blechdose lagen, in verschiedenen Farben auf kleine Zettel geschrieben, tatsächlich die Buchstaben X, N, O und A. Mila, ihre zwei Jahre ältere Schwester, hatte sie auf die Zettelchen geschrieben und ihr versprochen, jeden Tag ein weiteres mit einem neuen Buchstaben hinzuzufügen.

Doch nach sieben Tagen hatte Star genug. “Das reicht”, sagte sie. Auch während der folgenden zwei Wochen zeigte sie kein Interesse mehr an den Buchstaben. Wäre das alles zwei Jahre später geschehen, mitten in der Schule, hätte die klassische Lehrerin wahrscheinlich schon von einer Lernverzögerung oder gar von einer Lernverweigerung gesprochen. Doch Star hatte jetzt ganz einfach ihr Interesse vorübergehend auf anderes ausgerichtet, zum Beispiel auf die Farben des Regenbogens, mit denen sie verschiedene Tiere malte, oder auf eine Kartonschachtel, aus der sie eine Öffnung herausgeschnitten hatte und die sie sich nun über den Kopf stülpte, um einen Hasen zu spielen. Die nächsten Buchstaben konnten noch etwas warten…

Auch auf dem Nachttischchen ihres Zwillingsbruders Bosni lag eine kleine, bunte Blechdose. Aber die war noch leer. Dafür hatte er jetzt noch keine Zeit. Viel zu sehr war er damit beschäftigt, alles Erdenkliche, was sich auseinandernehmen liess, in seine Einzelteile zu zerlegen und dann wieder zusammenzufügen. Oder mithilfe von Google-Street die Häuser der Grosseltern, den Bahnhof oder den Migros-Supermarkt aufzusuchen, so zielsicher und in einem so horrenden Tempo, dass ich mit meinen Augen seiner Fahrt schon gar nicht mehr zu folgen vermochte. Aber die Blechdose hatte er sich trotzdem nicht nehmen lassen. Und wahrscheinlich wusste er bereits, dass auch er sie eines Tages zu füllen beginnen würde.

Kurz darauf begann Star, in Bilderbüchern jene Buchstaben zu suchen, die sie schon kannte. Dabei fiel ihr auf, dass einige Wörter mit grossen Anfangsbuchstaben geschrieben wurden und andere mit kleinen. Mila wusste auch nicht genau weshalb, aber Leonie konnte die Angelegenheit klären. Nun begann Star, zum ersten Mal selber kleine Wörter zu schreiben. Und eines Nachts sah sie im Traum vor sich den Buchstaben B. Der war plötzlich ganz gross angeschwollen und war zur Seite gekippt, so dass unten die gerade Seitenlinie lag und oben die zwei Bögen wie kleine Buckel. Diese begannen sich auf einmal in zwei Flügel zu verwandeln und plötzlich flog der zu einer Biene gewordene Buchstabe B fort, in unsichtbare Ferne. Überhaupt, die Träume. Wären sie sichtbar gewesen, dann hätten sie wahrscheinlich einem grossen See geglichen, in den oben immer wieder neue, kleine, grosse, bunte, glitzernde, bekannte und unbekannte Buchstaben hineinfielen, um sich dann, im Wasser hin und her schaukelnd, langsam auf den Grund des Sees hinab zu senken. Das waren dann wohl jene Augenblicke, in denen Star wieder etwas Neues “gelernt” hatte.

Und so ging das weiter, über Wochen und Monate, mal schneller, mal langsamer, mal gar nicht. Eine Reise voller Abenteuer und Entdeckungen. Die Blechdose füllte sich nach und nach, alles bewegte sich in Richtung Vollkommenheit, denn das ist das Wesen des Lernens: Es gibt nichts Perfektionistischeres als ein Kind. Es will ALLES und es will alles so GUT wie nur irgend möglich. Wir könnten uns untrüglich darauf verlassen: Eines Tages würde Star ebenso perfekt lesen und schreiben können, wie sie auch mündlich ihre Muttersprache so perfekt und in allen nur erdenklichen Variationen beherrschte – vorausgesetzt, es wäre stets alles von guten Gefühlen begleitet, von unbändiger Entdeckungslust, vom Triumph, plötzlich Dinge zu können, die eben noch völlig unbekannt gewesen waren. Ja, es müsste funktionieren, aber nur, wenn sich die Erwachsenen nicht zu früh in dieses wundervolle Geschehen einmischen, nicht leichtfertig die Sache der Kinder zu ihrer eigenen Sache machen und nicht auf einmal das Erlernen von Buchstaben mit schlechten Gefühlen verbinden würden, mit Ängsten, Über- oder Unterforderungen, mit übertriebenen Erwartungen, unnötigem Belehren, langweiligen Übungsblättern ohne jegliche Glücksgefühle und viel zu vielen weiteren künstlichen Eingriffen, die wie Giftpfeile das Lernen der Kinder, dieses heilige Wunder, nur zu schnell und unbedacht zu stören, zu verletzen, zu blockieren und zu zerstören drohen. Denn es ist eben ganz genau so, wie der Entwicklungspsychologe Jean Piaget einst so treffend sagte: “Alles, was den Kindern beigebracht wird, können sie selber nicht mehr lernen.”

Ein genialer Schachzug: Wie meine dreieinhalbjährige Enkelin bewiesen hat, dass die künstliche Intelligenz niemals die natürliche Intelligenz wird ersetzen können…

„Wie KI zur Kränkung der Menschheit wird“, lese ich in der „NZZ am Sonntag“ vom 24. März 2024. Und: „Jetzt ist diese Technologie dabei, unser Selbstverständnis zu zerstören.“

Ich hätte da möglicherweise eine Gegenthese. Und zwar kam das so: Unlängst wollten meine dreieinhalbjährigen Zwillingsenkelkinder, ein Bub und ein Mädchen, Schach spielen. Sie hatten es bei der älteren Schwester gesehen und wollten es nun unbedingt auch ausprobieren. Sie kannten natürlich die genauen Regeln noch nicht, wussten aber, dass man die Figuren in zwei gegnerischen Linien aufstellt und diese sich nun gegenseitig „fressen“ müssen. So führten sie die Figuren nun kreuz und quer übers Feld und warfen sich gegenseitig vom Spielfeld. Bis das Mädchen auf einmal sagte, das sei doch langweilig, sie hätte eine bessere Idee: Statt sich gegenseitig zu „fressen“, sollten sich die Figuren, sobald sie aufeinander trafen, ineinander verlieben. Der Bub war einverstanden. Und so änderte sich alles schlagartig. Die Figuren, die sich ineinander verliebt hatten, standen am Ende des Spiels friedlich paarweise am Rande des Spielfelds. Und die beiden Kinder waren überglücklich.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass KI das geschafft hätte, was die dreieinhalbjährigen Zwillinge geschafft haben, nämlich, eine seit etwa 2000 Jahren geltende Regel einfach so über Bord zu werfen. Damit, hoffe ich, ist die Frage für immer beantwortet.