1. Mai in Zürich: Demokratie mit Füssen getreten

1. Mai in Zürich: Als sich um 11 Uhr auf dem Helvetiaplatz rund 30 Personen mit Fahnen und Transparenten versammeln, um gegen die Zustände im syrischen Rojava zu demonstrieren, werden sie von der Polizei weggewiesen, und dies, obwohl gemäss Augenzeugen der Sicherheitsabstand eingehalten wurde. Eine Stunde später wiederholt sich die Szene beim Rathaus. Diesmal verhaftet die Polizei einen Mann und eine Frau, weil diese sich den Anordnungen widersetzen. “Wir weisen darauf hin”, verkündet die Polizei über Lautsprecher, “dass wir aufgrund der ausserordentlichen Lage und des allgemeinen Versammlungsverbots keine solchen Aktionen tolerieren können.” Die grösste Menschenansammlung bildet sich etwa um halb drei beim Bellevue, wo rund 100 Personen demonstrieren. Auch dort wollen sich nicht alle Demonstrantinnen und Demonstranten nach Hause schicken lassen. Es werden 40 Personen kontrolliert und eine von ihnen verhaftet, sie alle werden wegen Verstosses gegen die Covid-Verordnung angezeigt. Schliesslich halten unter strenger Einhaltung der Abstandsregeln Vertreterinnen und Vertreter der gewerkschaftlichen Basisgruppe “Zürich bleibt öffentlich” vor dem Rathaus mehrere Reden, auch diese Gruppe wird von einem Grossaufgebot der Polizei aufgelöst. “Ein Armutszeugnis, was sich die Stadtpolizei da erlaubt hat”, sagt Luca Maggi, Sprecher des 1. Mai-Komitees, “Plakate sind abgehängt und die freie Meinungsäusserung ist unterbunden worden. Sogar Personen, welche Distanz- und Hygienevorschriften einhielten, sind weggewiesen worden.”

(www.watson.ch)

 

Die Lockerungsmassnahmen, die vom Bundesrat bereits bekanntgegeben wurden und denen in den folgenden Wochen noch weitere folgen sollen, gelten offensichtlich nicht fürs Politische und für die demokratischen Grundrechte, sondern nur für all jene Bereiche, wo es ums Geldverdienen geht. Sonst würde man nicht zulassen, dass in einem Restaurant vier Personen am gleichen Tisch sitzen dürfen, während man gleichzeitig vier Personen, die in einem Demonstrationszug nebeneinander gehen, auseinandertreibt. Man würde nicht Menschenansammlungen in Supermärkten und Eisenbahnzügen zulassen, während man gleichzeitig Menschenansammlungen zu politischen Zwecken polizeilich verfolgt und kriminalisiert. Und man würde nicht Plakate, mit denen für Fruchtsäfte oder Staubsauger geworben wird, hängen lassen, während man Plakate, die auf das Schicksal der Menschen in Rojava hinweisen, zu Boden reisst. Es heisst immer, besondere Umstände würden besondere Massnahmen erfordern. Das würde aber auch bedeuten, gerade in einer so schwierigen Zeit wie der heutigen der Demokratie und den Menschenrechten ganz besonders viel Sorge zu tragen… 

 

 

 

 

 

Ein Gesundheitswesen, das davon lebt, dass möglichst viele Menschen krank sind

Weil die Schweizer Spitäler aufgrund der Coronakrise auf alle verschiebbaren Behandlungen verzichten, leiden nun die meisten Spitäler an Unterbeschäftigung. Sie sind massiv unterbelegt und kämpfen mit den daraus resultierenden wirtschaftlichen Folgen. Die Spitäler merken nicht nur die verschobenen Behandlungen, sondern auch die schwindenden Notfälle. Weil die Leute zuhause bleiben, ereignen sich weniger Unfälle. Zudem kommen weniger Leute wegen Bagatellfällen in den Notfall. Dies hat grosse Auswirkung auf die Finanzen der Spitäler. So rechnet beispielsweise die Spital Thurgau AG mit einem Verlust von einer Million Franken am Tag. Aus den anderen Regionen gebe es bisher keine Zahlen, die Grössenordnung der Defizite dürfte aber ähnlich sein.

(www.toponline.ch)

Dass der grosse Ansturm an Coronapatienten bisher ausgeblieben ist, darüber kann man gar nicht genug erleichtert sein. Dass dies nun aber im Endeffekt dazu führt, dass Spitäler infolge Unterbelegung Defizite von bis zu einer Million Franken pro Tag einfahren, wirft doch einige grundsätzliche Fragen auf. Es bedeutet nämlich im Klartext nichts anderes, als dass unser Gesundheitswesen offensichtlich davon lebt, dass möglichst viele Menschen krank sind – je mehr Menschen behandelt werden müssen, umso lukrativer das Geschäft. Und je weniger Menschen behandelt werden müssen, umso geringer die Gewinne, umso grösser das Defizit. Wären – was ja eigentlich das Ziel eines jeden am Wohl der Menschen orientierten Gesundheitswesens sein müsste – sämtliche Menschen gesund, dann würde das Gesundheitssystem infolge der damit verbundenen wirtschaftlichen Folgen kollabieren. Schon reichlich grotesk, oder nicht?

Syrische Flüchtlingskinder: Nur eine Randnotiz

Bei der Aufnahme minderjähriger Flüchtlinge von den griechischen Inseln sind die 27 EU-Staaten uneins. Nur etwa acht Länder wären bereit, Minderjährige aufzunehmen, die ohne ihre Eltern unter teilweise schwierigsten Bedingungen derzeit in Griechenland leben.

(Tages-Anzeiger, 14. März 2020)

Eine Randnotiz in meiner Tageszeitung, die ich vor seitenweisen Berichten und Kommentaren zum Corona-Virus beinahe übersehen hätte. Ist das Leben eines syrischen Waisenkindes so viel weniger wert als das Leben eines Schweizers, einer Italienerin oder eines Franzosen?

Der Hass im Internet und seine gesellschaftlichen Ursachen

“Es geht darum, dass man sich mithilfe des Cybermobbings ein Machtgefühl holt. Wer sich ohnmächtig fühlt und bei wem es im Leben nicht so richtig funktioniert, der hat nun über das anonyme Internet die Möglichkeit, seine Phantasien loszulassen gegen eine andere Person, die dann sozusagen zu seiner Projektionsfläche wird. Wer gegen einen anderen Menschen einen Shitstorm loslässt, fühlt sich nachher stark.”

(Regula Schwager, Psychotherapeutin, in “Der Club” zum Thema Cybermobbing, Schweizer Fernsehen SRF1 vom 25. Februar 2020)

Wie viele Angestellte werden von ihren Vorgesetzten schikaniert, nicht weil diese besonders “böse” Menschen wären, sondern weil auch sie von ihren eigenen Vorgesetzten wiederum schikaniert werden und alle miteinander gegenseitig unter immer grösserem Zeit- und Leistungsdruck arbeiten müssen. Wie viele Menschen fühlen sich gedemütigt, weil sie viel weniger verdienen als andere, obwohl sie mindestens so lange und so hart arbeiten. Wie viele Menschen erfahren für ihre tägliche Arbeit, die sie mit grossem Einsatz leisten, nur wenig Wertschätzung, Dankbarkeit und Anerkennung. Wie viele Menschen haben eine Riesenwut im Bauch, weil sie, nachdem sie viele Jahre treu ihrer Firma gedient haben, plötzlich von einem Tag auf den andern ihren Job verloren haben. Und wie viele Menschen empfinden es als höchst erniedrigend, auf Sozialhilfe- oder Arbeitslosengeld angewiesen zu sein. Ist es da ein Wunder, wenn sie alle, die Frustrierten und Gedemütigten, sich dann nachts an ihre Computer setzen und ihren ganzen Frust, ihre Wut, ihre Verzweiflung und ihre Minderwertigkeits- und Ohnmachtsgefühle an anderen Menschen auslassen, um damit ihr kaputtes Selbstwertgefühl aufzumöbeln? Es greift zu kurz, diese “Internettäter” als skrupellose, seelenlose Bösewichte abzustempeln. Böse sind nicht die Verbreiter von Beleidigungen und Hasstiraden im Internet. Böse ist die kapitalistische Leistungsgesellschaft, welche überhaupt erst dazu führt, dass sich so viele Menschen als nutzlos, minderwertig und ohnmächtig fühlen…

Das Corona-Virus: Wenn alle davon sprechen, braucht man von allem anderen nicht mehr zu sprechen

Selten war die Diskrepanz zwischen einem realen Ereignis und seiner medialen Präsenz so gross wie beim Corona-Virus. Wer heute die Zeitung aufschlägt oder sich die Nachrichten am Fernsehen oder im Internet anschaut, muss schon fast den Eindruck haben, es habe bald das letzte Stündchen der Menschheit geschlagen. Dabei hat das Corona-Virus bis heute gerade mal 2619 Menschenleben gefordert, rund 40 Mal weniger, als im gleichen Zeitraum an der normalen Grippe gestorben sind. Ebenfalls im gleichen Zeitraum haben weltweit rund 300’000 Menschen ihr Leben durch einen Verkehrsunfall verloren – Stimmen, die vor den tödlichen Folgen des motorisierten Privatverkehrs warnen oder gar dessen Abschaffung fordern, sucht man indessen vergebens. Und ebenfalls im gleichen Zeitraum, da das Corona-Virus 2619 Menschenleben gefordert hat, sind weltweit rund 600’000 Kinder vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahres gestorben, weil sie zu wenig zu essen hatten, kein sauberes Trinkwasser oder keine Medikamente gegen tödliche Krankheiten. Würde man noch den täglichen weltweiten CO2-Ausstoss, die Klimaerwärmung, das Schmelzen des Polareises und die Unsummen, die täglich für militärische Aufrüstung verschleudert werden, erwähnen, dann würde wohl der Corona-Virus nur noch als kleine Randnotiz der medialen Berichterstattung erscheinen. Aber vielleicht ist es ja gerade das: Wenn alle vom Corona-Virus sprechen, braucht man von allem anderen nicht mehr zu sprechen…

Ein neues Zeitalter, in dem der Mensch überflüssig geworden ist?

“Das Silicon-Valley ist fasziniert vom sogenannten Transhumanismus: Diese Ideologie, die besagt, der Mensch müsse seine Fähigkeiten – intellektuell, physisch oder psychisch – durch den Einsatz von Technik erweitern und fortentwickeln; in einer Art technisierter Evolution. Ich war letzthin an eine Diskussionsrunde eingeladen, an der ein Transhumanist darüber dozierte, dass die Menschen endlich die Fackel an die Technologie weitergeben müssen. Die Technologie trete die Nachfolge der Menschheit an, die Menschen müssten sich selbst überwinden. Als ich mich dann für den Menschen einsetzen wollte, erwiderte der Transhumanist, diese Frage würde ich nur deshalb stellen, weil ich ein Mensch sei.”

(Douglas Rushkoff, Autor und Musiker, in: Sonntagszeitung 16. Februar 2020)

Das Plädoyer für den Menschen schien den Transhumanisten zu irritieren. Offenbar wäre es ihm lieber gewesen, seinen Vortrag vor einer Gruppe von Robotern zu halten, die dann allesamt Fragen gestellt hätten, die ihm sympathischer gewesen wären. Denn genau das schwebt ihm ja vor: Eine Welt, in der sich der Mensch “überwindet” und nach und nach von der Technologie überflüssig gemacht wird. Sind wir nicht bereits auf dem besten Weg dorthin? In Japan gibt es Hotels, in denen man an der Reception nicht mehr von einem Menschen, sondern von einem Roboter empfangen wird. In den USA gibt es Schulen, wo sich ein Kind, das Probleme hat, nicht mehr an seine Lehrerin, einen Schulsozialarbeiter oder eine Schulpsychologin aus Fleisch und Blut wenden kann, sondern mit einem Roboter Vorlieb nehmen muss, der mit sämtlichen Problemen, die ein Kind in einem bestimmten Alter haben kann, gefüttert ist. In vielen Alters- und Pflegeheimen kommen bereits heute Roboter zum Einsatz, welche die Pflege- und Betreuungsarbeit übernehmen, die zuvor vom Pflegepersonal geleistet wurde. Selbst Operationen werden immer öfters von Robotern ausgeführt, der Arzt oder die Ärztin sitzt am Bildschirm, von wo aus alles gesteuert wird. Ganze Häuser werden schon nicht mehr von Maurern, Zimmerleuten und Gipsern gebaut, sondern von ferngesteuerten Robotern. Und selbst die Kunst ist für die Künstliche Intelligenz kein Tabu mehr: Roboter malen Bilder, schreiben Bücher und komponieren ganze Musikwerke. Geht die Entwicklung im gleichen Tempo weiter wie in den vergangenen zehn Jahren, dann könnten die Transhumanisten tatsächlich Recht bekommen und der Mensch wäre eines Tages gänzlich überflüssig geworden. Doch wer und was treibt diese ganze Entwicklung überhaupt an? Wer und wann und weshalb hat uns Menschen den Auftrag gegeben, uns selber überflüssig zu machen? Die Antwort ist einfach: Alles hat damit angefangen, dass es ein Ziel gibt, mit dem alle einverstanden sind, das Ziel nämlich, alle Produktions- und Arbeitsläufe permanent zu “optimieren”, das heisst: immer schneller und billiger zu machen. Und sobald auch nur eine einzelne Firma, ein einziges Unternehmen damit angefangen hat, sind alle anderen gezwungen, es ihm gleich zu tun oder noch besser: es zu überflügeln, was wiederum dazu führt, dass das erste Unternehmen, das damit angefangen hat, sich noch etwas Raffinierteres als alle anderen einfallen lassen muss, um nicht auf der Strecke zu bleiben – das kapitalistische Konkurrenzprinzip, in dem jeder der Widersacher des anderen ist, ein Karussell, das sich naturgemäss immer schneller dreht und dabei nicht bloss eine endlos wachsende Menge an zunehmend überflüssigen Produkten herstellt, sondern auch eine zunehmende Zahl an Opfern, die das immer schneller werdende Tempo nicht mehr mitzuhalten vermögen. Und weil der arbeitende Mensch der grösste Kostenfaktor ist, geht es eben darum, mit immer weniger Menschen eine immer grössere Arbeitsleistung zu schaffen bzw. immer mehr Tätigkeiten, die bisher von Menschen erbracht wurden, an Roboter, Computer und Maschinen zu delegieren. Und so geht das immer weiter: Wenn Firma A ihre Häuser nur noch mithilfe von Robotern baut, müssen auch alle anderen Firmen ihre Häuser mit der Zeit mithilfe von Robotern bauen lassen, wenn nicht, wird ihr Konkurrenznachteil früher oder später so gross, dass sie auf der Strecke bleiben. Wenn wir daher diese Entwicklung, diesen “Transhumanismus” nicht einfach widerspruchslos über uns hinwegrollen lassen und uns, als Menschen, überflüssig machen wollen, dann genügt es nicht, den Mahnfinger gegenüber dem einen oder anderen Exzess zu erheben. Es geht um etwas viel Grundlegenderes: Es geht darum, Arbeit, Produktion und Wirtschaft auf eine neue Grundlage zu stellen und das bisherige Konkurrenzprinzip, in dem jeder der Feind des anderen ist, durch das Prinzip der Kooperation und des Gemeinwohls zu ersetzen, nicht nur von Mensch zu Mensch, sondern auch von Unternehmen zu Unternehmen, von Land zu Land. Das schliesst technische Fortschritte ganz und gar nicht aus. Aber nicht in Form einer Dampfwalze, die ungefragt über uns Menschen hinwegrollt und uns in letzter Konsequenz überflüssig zu machen droht. Sondern in Form nützlicher Werkzeuge, die ein gutes Leben ermöglichen, und zwar weltweit. Um diese Transformation zu schaffen, braucht es nicht die Überwindung des Menschen, sondern, ganz im Gegenteil, seine ganze Phantasie, seine Kreativität, seine Sensibilität, seine soziale und praktische Intelligenz – genau all das, was niemals eine Maschine, ein Computer oder ein Roboter zu leisten vermögen!

Kostenloser ÖV: Keine Option für die Schweiz?

Jährlich fliessen fast zwei Milliarden Kantons- und Bundesgelder in den regionalen öffentlichen Verkehr. Auf diese Weise werden Angebote mit Bussen, Zügen, Schiffen, aber auch Seilbahnen in der ganzen Schweiz unterstützt. Das eingeschossene Geld ist bitter nötig: Von über 1400 Strecken, welche 2019 unterstützt wurden, rentieren gerade mal 18. Auf fast 500 Strecken decken die Einnahmen nicht einmal ein Drittel der Kosten. Die teilweise tiefen Kostendeckungsgrade führen nun dazu, dass der Bund 33 Verbindungen überprüft. Die Folge: Der Bund könnte aus der Finanzierung aussteigen. Im schlimmsten Fall droht gar die Einstellung von Strecken, falls Kantone das wegfallende Geld nicht selber einschiessen wollen.

(Tages-Anzeiger, 17. Februar 2020)

In Zeiten des Klimawandels und der Diskussion über die Zukunftstauglichkeit des privaten Automobils über Abstriche beim öffentlichen Verkehr nachzudenken, ist ein Anachronismus besonderer Art. Eigentlich müsste die Diskussion genau in die entgegengesetzte Richtung gehen: Die Attraktivität des öffentlichen Verkehrs müsste nicht geschmälert, sondern im Gegenteil gesteigert werden, am besten durch einen generellen Nulltarif und einen Verzicht auf jegliches Renditedenken. In Luxemburg ist die Benützung des öffentlichen Verkehrs seit diesem Jahr kostenlos. Weshalb sollte sich das, was sich Luxemburg leistet, nicht die viel reichere Schweiz nicht ebenso leisten können?

Die unsichtbaren Zimmermädchen von Ibiza: Am untersten Rand der kapitalistischen Machtpyramide

“Wir Zimmermädchen sind unsichtbar. Dagegen kämpfe ich. Als ich vor fünf Jahren von der Gastronomie in die Hotelreinigung wechselte, glaubte ich nicht, was über die Branche erzählt wurde. Die übertreiben alle, dachte ich. Doch der Alltag war noch viel schlimmer. Wir transportieren Matratzen allein auf den Schultern, manchmal trifft man auf Kot am Boden, und wenn wir ein Zimmer allein putzen, sind wir nicht vor sexuellen Übergriffen geschützt. In vielen Hotels hat man nur 15 Minuten pro Zimmer, egal in welchem Zustand man es vorfindet. Da kann man gar nicht sauber putzen. Und wenn der Hotelmanager am nächsten Morgen eine negative Bewertung auf Tripadvisor findet, fällt das auf das jeweilige Zimmermädchen zurück. Von all dem erzählten wir 2018 dem damaligen spanischen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy. Wir, das sind Las Kellys, ein Zusammenschluss spanischer Zimmermädchen, die sich für bessere Arbeitsbedingungen einsetzen. Wir verzeigen etwa Arbeitgeber, die sich nicht ans Arbeitsrecht halten, und demonstrieren vor Hotels, die die Zimmerreinigung an Reinigungsunternehmen auslagern. Am Anfang hatte ich Angst vor den Hotelmanagern, jetzt haben sie Angst vor uns. Trotzdem denke ich oft daran auszugeben. Weil es ein Stress ist, in den Medien zu sein, neben oder sogar während der Arbeit Interviews zu geben, das Telefon zwischen Kopf und Schulter eingeklemmt. Ich habe keine Zeit mehr für mich gehabt, entwickelte eine nervöse Bulimie, machte eine Scheidung durch. Woher ich die Kraft nehme, um weiterzumachen? In der Scheisse zu stecken, das gab mir Kraft. Dabei könnte es ja eine schöne Arbeit sein. Zugang zu einem total intimen Raum zu haben. Das gefällt mir. Doch irgendwann kannst du einfach nicht mehr dreissig Zimmer an einem einzigen Tag putzen.”

(Myriam Barros, Präsidentin von Las Kellys, einer Lobbygruppe spanischer Zimmermädchen, in: TAM, 1. Februar 2020)

Ob all jene Gäste, die nach einem Hotelbesuch im Internet eine negative Wertung abgeben, sich auch schon mal gefragt haben, was sie damit anrichten? Sie könnten, wenn sie mit der Sauberkeit ihres Zimmers nicht zufrieden sind, ja auch das zuständige Zimmermädchen ansprechen und würden dann vielleicht erfahren, dass dieses Zimmer auch mit dem besten Willen in der zur Verfügung stehenden Zeit nicht besser hätte gereinigt werden können. Sie würden sich dann vielleicht vom Zimmermädchen ein Putztuch geben lassen, den störenden Flecken beseitigen oder zum Hotelmanager gehen, um ihn aufzufordern, die Zeitlimiten für das Reinigen der einzelnen Zimmer heraufzusetzen. Aber nein, lieber schweigen sie, machen ein freundliches Gesicht und gehen, sobald sie zu Hause sind, ins Internet, um ihre Beanstandung loszuwerden. Genau so ist das im Kapitalismus: Statt einander zu helfen und füreinander Sorge zu tragen, drückt jeder den anderen in den Boden hinein. Vielleicht ist ja der Gast, der seine Beanstandungen übers Internet loswird, in seiner eigenen beruflichen Tätigkeit selber ebenfalls permanenter Kontrolle, grossem Stress und häufigen Beanstandungen ausgesetzt, so wie das fast in sämtlichen Berufen immer öfters der Fall ist. Was für eine Verschleuderung menschlicher Ressourcen, was für ein Unding, die eigenen Frustrationen an anderen abzuladen und damit das Ganze immer nur noch schlimmer und schlimmer zu machen. Das Fatalste daran ist, dass ausgerechnet jene Werktätigen, die mit härtester Arbeit und geringster Entlohnung am untersten Rand dieser Machtpyramide stehen, zugleich die geringste Chance haben, sich für eine Verbesserung ihrer Situation einzusetzen, weil sie, wie das Beispiel der spanischen Zimmermädchen zeigt, schlicht und einfach von ihrer Arbeit schon so erschöpft und ausgelaugt sind, dass sie gar keine Kraft mehr haben, sich politisch oder gewerkschaftlich zu betätigen. Dem Abhilfe schaffen könnte einzig und allein eine weltweite Einheitsgewerkschaft, in der sich sämtliche Berufstätigen, ob sie nun Bankangestellte, Lehrer, Gärtnerinnen oder Zimmermädchen sind, gegenseitig und füreinander solidarisieren. Gewerkschaften dagegen, die nur eine einzelne Berufsgruppe umfassen, haben mit echter Solidarität wenig zu tun und sind eigentlich nur Interessenvertreter einer bestimmten Gruppe innerhalb der kapitalistischen Machtpyramide.

Der Appell von Auschwitz und was wir daraus lernen können

Überlebende und zahlreiche Staats- und Regierungschefs haben am 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee der Opfer gedacht und zum Kampf gegen den wiederauflebenden Antisemitismus aufgerufen. In einem Zelt vor dem Eingang zum ehemaligen Todeslager Auschwitz-Birkenau erinnerte Polens Ministerpräsident Andrzej Duda vor über 200 Überlebenden und Delegationen aus 50 Ländern und rund 1,3 Millionen Ermordete, davon 1,1 Millionen Juden. “Wir verneigen uns”, so Duda, “vor mehr als 6 Millionen Juden, die in anderen Todeslagern, in Ghettos und anderen Orten ermordet wurden.” Auch die schweizerische Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga war der Einladung nach Auschwitz gefolgt. “Wie viele Menschenleben hätten gerettet werden können”, sagte sie, “wenn damals in Europa mehr Männer und Frauen Nein gesagt hätten zu Antisemitismus und Rassismus.”

(Tages-Anzeiger, 28. Januar 2020)

Keine Frage: Bei der Ermordung von rund sechs Millionen Juden und Jüdinnen durch die Nationalsozialisten handelt es sich um eines der grössten Verbrechen in der Geschichte der Menschheit. Und nur zu berechtigt ist die Forderung, so etwas dürfe sich nie mehr wiederholen. Dennoch: Gibt es in der Geschichte der Menschheit nicht auch noch andere Verbrechen, die ebenso schlimm waren, an die sich aber seltsamerweise niemand zu erinnern scheint und aus deren Anlass es auch weit und breit keine Gedenkfeiern und politische Appelle gibt, die man mit dem jüngsten Gedenkanlass von Auschwitz vergleichen könnte? Ich denke beispielsweise an die Deportation von rund 20 Millionen Menschen aus Afrika nach Amerika zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert, 20 Millionen Menschen, die von einem Tag auf den anderen ihrer Heimat entrissen, als Leibeigene verkauft, auf den endlosen Plantagen der Weissen wie Tiere behandelt und, wenn sie nicht gehorchten, zu Tode geprügelt wurden. Ich denke an den von den USA losgetretenen Vietnamkrieg, dem über fünf Millionen Menschen zum Opfer fielen. Ich denke auch an jene rund 10’000 Kinder, die noch heute weltweit Tag für Tag vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs sterben, weil sie nicht genug zu essen haben, ihnen kein sauberes Trinkwasser zur Verfügung steht oder sie infolge fehlender Medikamente tödlich erkranken. Und ich denke auch an jene Abertausenden Männer, Frauen und Kinder aus Afrika und Asien, die auf der Flucht nach Europa, voller Hoffnung auf ein neues, besseres Leben, dieses Ziel ihrer Lebensträume nie erreichten und heute namenlos irgendwo auf dem weiten Grund des Mittelmeers ihr Grab gefunden haben, wo sie nie mehr irgendwer besuchen und sich an sie erinnern wird. Die vielgehörte Forderung bei der Gedenkfeier in Auschwitz, solche Verbrechen wie die Jugendvernichtung mögen sich nie mehr wiederholen, ist ja gut und recht. Aber offensichtlich fällt es leichter, mit dem Finger auf andere zu zeigen – in diesem Falle auf die “bösen” Nationalsozialisten -, als sich bei der eigenen Nase zu nehmen und auch all jene Verbrechen anzuprangern, die im Namen jenes kapitalistischen Wirtschaftssystems begangen wurden und weiterhin werden, in dem wir hier und heute immer noch leben. Höchste Zeit, dass wir endlich auch jene Verbrechen beim Namen nennen, für die wir selber verantwortlich sind, von der unvorstellbaren und stets noch wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich über die sinnlose weltweite militärische Aufrüstung bis hin zum Klimawandel, dessen Folgen selbst die Vernichtung der Jüdinnen und Juden zur Zeit des Nationalsozialismus um ein Vielfaches in den Schatten stellen könnten. Nur so, wenn wir bei uns selber beginnen, können wir dauerhaft etwas zum Besseren bewegen. Und nur so hätten die Appelle von Auschwitz einen Sinn gehabt, der weit über jene Gedenkfeier hinausgeht, die aus Anlass des 27. Januar 1945 begangen wurde.

Tourismus in Simbabwe: ein kapitalistisches Lehrstück

Der Tourismus ist enorm wichtig für Simbabwe. Er trägt über acht Prozent zum Bruttoinlandprodukt des herabgewirtschafteten Staates im südlichen Afrika bei. Hauptattraktion sind die Victoriafälle. 150 Franken kostet ein Helikopterflug von zwölf Minuten, um aus der Luft ein gutes Foto schiessen zu können. Auch Riverrafting ist sehr beliebt: «Amazing!», schwärmt eine Amerikanerin bei Speck, Würstchen und Cornflakes. Doch nicht nur das reichhaltige Frühstücksbuffet, auch Unterkunft, Swimmingpool, Wellnessangebote und der üppige Park des Luxusresorts lassen dem verwöhnten Publikum aus Amerika und Europa keine Wünsche offen. Schliesslich will man etwas haben für die 250 Franken, welche eine Nacht hier kostet. Derweilen die Kellnerinnen, welche die internationale Gästeschar bedienen, pro Tag zehn Stunden arbeiten müssen, mit zwei Mal fünf Minuten Pause. Und das für gerade mal 20 Franken pro Monat. «Meine Beine und Füsse schmerzen», sagt die 23jährige Nokuthaba, als sie nach getaner Arbeit nach Hause kommt, um für ihre Kinder zu kochen. Die Miete ihres Häuschens kann sie nur dank dem Trinkgeld bezahlen, der Monatslohn würde dafür nicht ausreichen.

(www.srf.ch)

Brutaler könnten die reiche Welt des Nordens und die arme Welt des Südens nicht aufeinanderprallen. Die beiden Kehrseiten der gleichen kapitalistischen Medaille, auf deren einer Seite der wohlgenährte Tourist aus den USA oder Europa seine Füsse im Hotelpool baumeln lässt, neben sich eine Platte erlesenster Köstlichkeiten, bevor er sich zur Ganzkörpermassage begibt und anschliessend zu einem opulenten Festmahl. Während die junge Frau, die ihn zehn Stunden lang bedient hat, hungrig und mit schmerzenden Füssen voller Blasen nach Hause humpelt. Doch während die kapitalistischen Ausbeutungsketten in den meisten Fällen weltweit weit auseinandergerissen sind – der Käufer eines Handys irgendwo in Europa ist nie konfrontiert mit den chinesischen Arbeiterinnen, welche das Handy hergestellt haben -, treffen im Tourismus Täter und Opfer unmittelbar aufeinander. Man meint, der Gast aus dem Norden würde es nicht aushalten, sich von einer einheimischen Frau bedienen zu lassen, welche in einem ganzen Monat zwölf Mal weniger verdient, als er für eine einzige Nacht im Hotel zu zahlen bereit ist. Man meint, er müsste aus seiner Rolle ausbrechen, der Frau sein halbes Reisegeld überlassen oder auf einen Helikopterflug verzichten, um der Frau das gesparte Geld zu geben. Man meint, er müsste sich beim Hotelbesitzer über die unsäglichen Arbeitszeiten und die skandalösen Hungerlöhne der Angestellten beschweren, zum Revolutionär werden oder zumindest zu einem fortan überaus kritischen Zeitgenossen, der sich überall und jederzeit für soziale Gerechtigkeit und gegen Ausbeutung einsetzen wird. Doch weit gefehlt. Nichts dergleichen geschieht. So tief hat sich der Kapitalismus in unser Denken eingegraben und das Verrückte zum Normalen gemacht, dass wir das alles wissen, uns an allem beteiligen – und dennoch ruhig und mit gutem Gewissen schlafen können…