Nähereien in England: Zustände wie in Bangladesh

Mit flinken Händen, so berichtet die „NZZ am Sonntag“ vom 12. Juli 2020, schieben sie die Stoffe durch die ratternden Nähmaschinen. Ein gebeugter Rücken reiht sich an den andern. Der Notausgang am Ende der stickigen Halle ist verbarrikadiert. Viele der gut hundert Frauen, die hier arbeiten, sehen müde aus. Gerade jetzt in Zeiten von Corona müssen sie Überstunden leisten. Selbst wer krank ist und sich mit Covid-19 infiziert hat, muss weiter schuften. Niemand lehnt sich auf, vielmehr droht jeder Arbeiterin, die sich beklagt, die Kündigung. Da viele von ihnen illegal beschäftigt sind, sind sie ihrem Arbeitgeber schutzlos ausgeliefert. Zudem gibt es weder Masken noch Abstandsregeln. Solche Szenen spielen sich nicht etwa in einer Nähfabrik in Bangladesh ab, sondern in den Sweatshops in der Stadt Leicester mitten in England. Die Frauen nähen hier für einen Hungerlohn, der nicht einmal der Hälfte des britischen Mindestlohns entspricht. Viele der tausend zum Teil illegalen Nähereien hielten auch während des landesweiten Corona-Lockdown den Betrieb aufrecht, um für Grosskunden wie die britische Textilmarke Boohoo produzieren zu können. Die tiefen Preise, mit denen Boohoo vor allem bei Teenagern Werbung macht, verlangen nach möglichst tiefen Kosten. Die Lieferanten von Boohoo treffen sich wöchentlich am Hauptsitz des Konzerns in Manchester, wo die Aufträge an die Nähfabriken vergeben werden. Den Zuschlag erhält jeweils die Näherei, die etwa einen Minijupe für 4 statt für 5 Pfund (4 Franken 75 statt 5 Franken 95) produzieren kann. Im Jargon heisst dies: die Suche nach der „billigsten Nadel“. Das sei wie auf dem Viehmarkt, hatte ein Händler einer parlamentarischen Untersuchungskommission erklärt, die ihren Bericht zu den Zuständen in der Branche Anfang vergangenen Jahres veröffentlichte.

Ob die Schlachthöfe von Tönnies in Deutschland, die Erdbeerplantagen in Spanien oder eben die Textilfabriken in England: Wer sich immer noch eingebildet hat, ausbeuterische Arbeitsverhältnisse gäbe es nur in Billiglohnländern wie Indien, Vietnam oder Brasilien, dem müssten spätestens jetzt die Augen aufgehen: Längst verlaufen die Grenzen zwischen Arm und Reich, zwischen Ausbeutern und Ausbeuteten nicht mehr zwischen Ländern und Kontinenten. Sie gehen mitten durch jedes kapitalistische Land hindurch und teilen in jedem dieser Länder in mehr oder weniger drastischem Ausmass die Menschen in Gewinner und Verlierer – und der Graben zwischen ihnen wird gar von Tag zu Tag noch tiefer. Glücklicherweise – und das ist das Gute daran – wird dieses unvorstellbare, grenzenlose Leiden nicht zuletzt infolge der Coronakrise offensichtlich einer immer breiteren Öffentlichkeit zunehmend bewusst. So hat eine unlängst in Grossbritannien durchgeführte Umfrage ergeben, dass 54 Prozent der Bevölkerung der Meinung sind, dass es nach der Coronakrise nicht mehr so weitergehen dürfte wie bisher, es bräuchte eine andere, gerechtere Wirtschaftsordnung und mehr Respekt gegenüber der Natur. Umfragen in Deutschland haben ein ähnliches Resultat ergeben. Darf man also, trotz all der Schreckensmeldungen, mit denen wir täglich konfrontiert sind, vielleicht doch noch ein klein wenig Hoffnung schöpfen?

Eine Stunde schneller von Zürich nach München – und dann?

Ab dem kommenden Fahrplanwechsel im Dezember wird die Bahnreise von Zürich nach München nur noch vier statt wie bisher fünf Stunden betragen. Damit sagen SBB und DB ihrer Konkurrenz in der Luft und auf der Strasse den Kampf an. Wählen heute noch 5’000 Reisende pro Woche für diese Strecke den Fernbus, 3’900 die Bahn und 3’700 das Flugzeug, soll die Bahn zukünftig die unbestrittene Nummer eins sein. Doch das hat seinen Preis: 500 Millionen Euro gibt Deutschland aus, um die Strecke zwischen Lindau und München zu elektrifizieren, 50 Millionen steuert die Schweiz bei. Unzählige Signale, Weichen, Stellwerke und Bahnübergänge werden ersetzt, in Lindau entsteht nach zweijähriger Bauzeit ein neuer Durchgangsbahnhof und eine 5300 Tonnen schwere Brücke, die um 13 Meter in ihre Endposition verschoben werden muss, wird gebaut. Allein die zu errichtenden Lärmschutzwände verschlingen ein Fünftel der gesamten Bausumme. Und dies alles, um die Strecke zwischen Zürich und München um eine Stunde schneller zu machen.

Wird das alles genügen, um die Konkurrenten auf der Strasse und in der Luft zu bezwingen?  Werden die Fernbusse und die Luftfahrtgesellschaften nicht alles daran setzen, durch möglichst tiefe Preise so viele Passagiere wieder von der Schiene wegzulocken auf die Strasse und in die Luft? Und was werden sich SBB und DB hernach einfallen lassen, um trotz alledem wieder von neuem die Nummer eins zu sein? Werden sie eine Brücke über den Bodensee bauen oder an all jenen Stellen, wo infolge von Kurven nur langsam gefahren werden kann, Tunnels bauen lassen? Das alles mag absurd klingen, wäre aber nichts anderes als die logische Folge dessen, was vor 50 Jahren auch noch nicht denkbar gewesen wäre, heute aber so normal erscheint, als hätte es nie etwas anderes gegeben. Doch so kann es nicht endlos weitergehen. Früher oder später werden wir uns von der Vorstellung lösen müssen, das Verkehrssystem sei eine Art Supermarkt, aus dem man stets das billigste und bequemste Produkt frei auswählen könne. Wir brauchen nicht drei oder vier Varianten, um von Zürich nach München reisen zu können, es genügt eine einzige Variante, und diese soll, im Vergleich mit allen anderen, über die beste wirtschaftliche, soziale und ökologische Gesamtbilanz verfügen, egal, ob diese Reise dann vier, fünf oder sechs Stunden dauert. Das bedrohe aber die individuelle Freiheit des Einzelnen, werden Gegner eines solchen integralen Verkehrssystems einwenden. Nun gut, aber soll die Freiheit des Einzelnen tatsächlich so weit führen, dass wir ganze Landschaften zubetonieren, Rohstoffe masslos ausbeuten, die Klimaerwärmung immer noch mehr und noch mehr anheizen und in letzter Konsequenz die Natur und den ganzen Planeten, auf dem wir leben, zerstören?

Die Diskussion rund um den Mohrenkopf und wie sie weitergehen müsste…

Die Diskussion, ob der Mohrenkopf weiterhin Mohrenkopf heissen soll, mag ja durchaus ihre Berechtigung haben. Doch der wirkliche Skandal ist ja nicht, dass der Mohrenkopf Mohrenkopf heisst. Der wirkliche Skandal besteht darin, dass auch heute noch die Pflückerinnen und Pflücker der Kakaobohnen, aus denen die Schokolade hergestellt wird, nur einen winzigen Bruchteil dessen verdienen, was die in der Schweiz ansässigen Fabrikanten, Händler und Verkäufer der Schokolade an Gewinn einheimsen.

Und das ist nur eines von zahllosen Beispielen, wie sich die Ausbeutung und das Elend des Südens in den Luxus und in das Gold des Nordens verwandeln: die beiden Kehrseiten der kapitalistischen Münze, welche die einen, obwohl sie immer härter arbeiten, dennoch immer ärmer macht, während sie die anderen, obwohl sie sich gar nicht so sehr anzustrengen brauchen, dennoch immer reicher werden lässt. Es ist gut, wenn man dem Mohrenkopf einen neuen Namen gibt. Und es ist auch gut, wenn man darüber diskutiert, ob die Statuen und Denkmäler früherer Sklavenhändler weiterhin öffentlich ausgestellt bleiben sollen. Aber noch viel wichtiger wäre es, die Geschichte von 500 Jahren kolonialer Ausbeutung bis in unsere Gegenwart hier und heute aufzuarbeiten. Und noch wichtiger wäre es, eine zukünftige Wirtschaftsordnung aufzubauen, die nicht mehr auf Ausbeutung und der himmelschreienden Ungleichheit zwischen Arm und Reich aufbaut, sondern auf fairen Tausch- und Handelsbeziehungen und dem elementaren Recht auf ein gutes Leben nicht für eine wohlhabende Minderheit der Weltbevölkerung, sondern für alle Bewohner und Bewohnerinnen der Erde hier, heute und in Zukunft…

1. Mai in Zürich: Demokratie mit Füssen getreten

1. Mai in Zürich: Als sich um 11 Uhr auf dem Helvetiaplatz rund 30 Personen mit Fahnen und Transparenten versammeln, um gegen die Zustände im syrischen Rojava zu demonstrieren, werden sie von der Polizei weggewiesen, und dies, obwohl gemäss Augenzeugen der Sicherheitsabstand eingehalten wurde. Eine Stunde später wiederholt sich die Szene beim Rathaus. Diesmal verhaftet die Polizei einen Mann und eine Frau, weil diese sich den Anordnungen widersetzen. „Wir weisen darauf hin“, verkündet die Polizei über Lautsprecher, „dass wir aufgrund der ausserordentlichen Lage und des allgemeinen Versammlungsverbots keine solchen Aktionen tolerieren können.“ Die grösste Menschenansammlung bildet sich etwa um halb drei beim Bellevue, wo rund 100 Personen demonstrieren. Auch dort wollen sich nicht alle Demonstrantinnen und Demonstranten nach Hause schicken lassen. Es werden 40 Personen kontrolliert und eine von ihnen verhaftet, sie alle werden wegen Verstosses gegen die Covid-Verordnung angezeigt. Schliesslich halten unter strenger Einhaltung der Abstandsregeln Vertreterinnen und Vertreter der gewerkschaftlichen Basisgruppe „Zürich bleibt öffentlich“ vor dem Rathaus mehrere Reden, auch diese Gruppe wird von einem Grossaufgebot der Polizei aufgelöst. „Ein Armutszeugnis, was sich die Stadtpolizei da erlaubt hat“, sagt Luca Maggi, Sprecher des 1. Mai-Komitees, „Plakate sind abgehängt und die freie Meinungsäusserung ist unterbunden worden. Sogar Personen, welche Distanz- und Hygienevorschriften einhielten, sind weggewiesen worden.“

(www.watson.ch)

 

Die Lockerungsmassnahmen, die vom Bundesrat bereits bekanntgegeben wurden und denen in den folgenden Wochen noch weitere folgen sollen, gelten offensichtlich nicht fürs Politische und für die demokratischen Grundrechte, sondern nur für all jene Bereiche, wo es ums Geldverdienen geht. Sonst würde man nicht zulassen, dass in einem Restaurant vier Personen am gleichen Tisch sitzen dürfen, während man gleichzeitig vier Personen, die in einem Demonstrationszug nebeneinander gehen, auseinandertreibt. Man würde nicht Menschenansammlungen in Supermärkten und Eisenbahnzügen zulassen, während man gleichzeitig Menschenansammlungen zu politischen Zwecken polizeilich verfolgt und kriminalisiert. Und man würde nicht Plakate, mit denen für Fruchtsäfte oder Staubsauger geworben wird, hängen lassen, während man Plakate, die auf das Schicksal der Menschen in Rojava hinweisen, zu Boden reisst. Es heisst immer, besondere Umstände würden besondere Massnahmen erfordern. Das würde aber auch bedeuten, gerade in einer so schwierigen Zeit wie der heutigen der Demokratie und den Menschenrechten ganz besonders viel Sorge zu tragen… 

 

 

 

 

 

Ein Gesundheitswesen, das davon lebt, dass möglichst viele Menschen krank sind

Weil die Schweizer Spitäler aufgrund der Coronakrise auf alle verschiebbaren Behandlungen verzichten, leiden nun die meisten Spitäler an Unterbeschäftigung. Sie sind massiv unterbelegt und kämpfen mit den daraus resultierenden wirtschaftlichen Folgen. Die Spitäler merken nicht nur die verschobenen Behandlungen, sondern auch die schwindenden Notfälle. Weil die Leute zuhause bleiben, ereignen sich weniger Unfälle. Zudem kommen weniger Leute wegen Bagatellfällen in den Notfall. Dies hat grosse Auswirkung auf die Finanzen der Spitäler. So rechnet beispielsweise die Spital Thurgau AG mit einem Verlust von einer Million Franken am Tag. Aus den anderen Regionen gebe es bisher keine Zahlen, die Grössenordnung der Defizite dürfte aber ähnlich sein.

(www.toponline.ch)

Dass der grosse Ansturm an Coronapatienten bisher ausgeblieben ist, darüber kann man gar nicht genug erleichtert sein. Dass dies nun aber im Endeffekt dazu führt, dass Spitäler infolge Unterbelegung Defizite von bis zu einer Million Franken pro Tag einfahren, wirft doch einige grundsätzliche Fragen auf. Es bedeutet nämlich im Klartext nichts anderes, als dass unser Gesundheitswesen offensichtlich davon lebt, dass möglichst viele Menschen krank sind – je mehr Menschen behandelt werden müssen, umso lukrativer das Geschäft. Und je weniger Menschen behandelt werden müssen, umso geringer die Gewinne, umso grösser das Defizit. Wären – was ja eigentlich das Ziel eines jeden am Wohl der Menschen orientierten Gesundheitswesens sein müsste – sämtliche Menschen gesund, dann würde das Gesundheitssystem infolge der damit verbundenen wirtschaftlichen Folgen kollabieren. Schon reichlich grotesk, oder nicht?

Syrische Flüchtlingskinder: Nur eine Randnotiz

Bei der Aufnahme minderjähriger Flüchtlinge von den griechischen Inseln sind die 27 EU-Staaten uneins. Nur etwa acht Länder wären bereit, Minderjährige aufzunehmen, die ohne ihre Eltern unter teilweise schwierigsten Bedingungen derzeit in Griechenland leben.

(Tages-Anzeiger, 14. März 2020)

Eine Randnotiz in meiner Tageszeitung, die ich vor seitenweisen Berichten und Kommentaren zum Corona-Virus beinahe übersehen hätte. Ist das Leben eines syrischen Waisenkindes so viel weniger wert als das Leben eines Schweizers, einer Italienerin oder eines Franzosen?

Der Hass im Internet und seine gesellschaftlichen Ursachen

„Es geht darum“, so die Psychotherapeutin Regula Schwager im „Club“ vom 25. Februar 2020 auf SRF 1, „dass man sich mithilfe des Cybermobbings ein Machtgefühl holt. Wer sich ohnmächtig fühlt und bei wem es im Leben nicht so richtig funktioniert, der hat nun über das anonyme Internet die Möglichkeit, seine Phantasien loszulassen gegen eine andere Person, die dann sozusagen zu seiner Projektionsfläche wird. Wer gegen einen anderen Menschen einen Shitstorm loslässt, fühlt sich nachher stark.“

Wie viele Angestellte werden von ihren Vorgesetzten schikaniert, nicht weil diese besonders „böse“ Menschen wären, sondern weil auch sie von ihren eigenen Vorgesetzten wiederum schikaniert werden und alle miteinander gegenseitig unter immer grösserem Zeit- und Leistungsdruck arbeiten müssen. Wie viele Menschen fühlen sich gedemütigt, weil sie viel weniger verdienen als andere, obwohl sie mindestens so lange und so hart arbeiten. Wie viele Menschen erfahren für ihre tägliche Arbeit, die sie mit grossem Einsatz leisten, nur wenig Wertschätzung, Dankbarkeit und Anerkennung. Wie viele Menschen haben eine Riesenwut im Bauch, weil sie, nachdem sie viele Jahre treu ihrer Firma gedient haben, plötzlich von einem Tag auf den andern ihren Job verloren haben. Und wie viele Menschen empfinden es als höchst erniedrigend, auf Sozialhilfe- oder Arbeitslosengeld angewiesen zu sein. Ist es da ein Wunder, wenn sie alle, die Frustrierten und Gedemütigten, sich dann nachts an ihre Computer setzen und ihren ganzen Frust, ihre Wut, ihre Verzweiflung und ihre Minderwertigkeits- und Ohnmachtsgefühle an anderen Menschen auslassen, um damit ihr kaputtes Selbstwertgefühl aufzumöbeln? Es greift zu kurz, diese „Internettäter“ als skrupellose, seelenlose Bösewichte abzustempeln. Böse sind nicht die Verbreiter von Beleidigungen und Hasstiraden im Internet. Böse ist die kapitalistische Leistungsgesellschaft, welche überhaupt erst dazu führt, dass sich so viele Menschen als nutzlos, minderwertig und ohnmächtig fühlen…

Das Corona-Virus: Wenn alle davon sprechen, braucht man von allem anderen nicht mehr zu sprechen

Selten war die Diskrepanz zwischen einem realen Ereignis und seiner medialen Präsenz so gross wie beim Corona-Virus. Wer heute die Zeitung aufschlägt oder sich die Nachrichten am Fernsehen oder im Internet anschaut, muss schon fast den Eindruck haben, es habe bald das letzte Stündchen der Menschheit geschlagen. Dabei hat das Corona-Virus bis heute gerade mal 2619 Menschenleben gefordert, rund 40 Mal weniger, als im gleichen Zeitraum an der normalen Grippe gestorben sind. Ebenfalls im gleichen Zeitraum haben weltweit rund 300’000 Menschen ihr Leben durch einen Verkehrsunfall verloren – Stimmen, die vor den tödlichen Folgen des motorisierten Privatverkehrs warnen oder gar dessen Abschaffung fordern, sucht man indessen vergebens. Und ebenfalls im gleichen Zeitraum, da das Corona-Virus 2619 Menschenleben gefordert hat, sind weltweit rund 600’000 Kinder vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahres gestorben, weil sie zu wenig zu essen hatten, kein sauberes Trinkwasser oder keine Medikamente gegen tödliche Krankheiten. Würde man noch den täglichen weltweiten CO2-Ausstoss, die Klimaerwärmung, das Schmelzen des Polareises und die Unsummen, die täglich für militärische Aufrüstung verschleudert werden, erwähnen, dann würde wohl der Corona-Virus nur noch als kleine Randnotiz der medialen Berichterstattung erscheinen. Aber vielleicht ist es ja gerade das: Wenn alle vom Corona-Virus sprechen, braucht man von allem anderen nicht mehr zu sprechen…

Ein neues Zeitalter, in dem der Mensch überflüssig geworden ist?

„Das Silicon-Valley ist fasziniert vom sogenannten Transhumanismus: Diese Ideologie, die besagt, der Mensch müsse seine Fähigkeiten – intellektuell, physisch oder psychisch – durch den Einsatz von Technik erweitern und fortentwickeln; in einer Art technisierter Evolution. Ich war letzthin an eine Diskussionsrunde eingeladen, an der ein Transhumanist darüber dozierte, dass die Menschen endlich die Fackel an die Technologie weitergeben müssen. Die Technologie trete die Nachfolge der Menschheit an, die Menschen müssten sich selbst überwinden. Als ich mich dann für den Menschen einsetzen wollte, erwiderte der Transhumanist, diese Frage würde ich nur deshalb stellen, weil ich ein Mensch sei.“

(Douglas Rushkoff, Autor und Musiker, in: Sonntagszeitung 16. Februar 2020)

Das Plädoyer für den Menschen schien den Transhumanisten zu irritieren. Offenbar wäre es ihm lieber gewesen, seinen Vortrag vor einer Gruppe von Robotern zu halten, die dann allesamt Fragen gestellt hätten, die ihm sympathischer gewesen wären. Denn genau das schwebt ihm ja vor: Eine Welt, in der sich der Mensch „überwindet“ und nach und nach von der Technologie überflüssig gemacht wird. Sind wir nicht bereits auf dem besten Weg dorthin? In Japan gibt es Hotels, in denen man an der Reception nicht mehr von einem Menschen, sondern von einem Roboter empfangen wird. In den USA gibt es Schulen, wo sich ein Kind, das Probleme hat, nicht mehr an seine Lehrerin, einen Schulsozialarbeiter oder eine Schulpsychologin aus Fleisch und Blut wenden kann, sondern mit einem Roboter Vorlieb nehmen muss, der mit sämtlichen Problemen, die ein Kind in einem bestimmten Alter haben kann, gefüttert ist. In vielen Alters- und Pflegeheimen kommen bereits heute Roboter zum Einsatz, welche die Pflege- und Betreuungsarbeit übernehmen, die zuvor vom Pflegepersonal geleistet wurde. Selbst Operationen werden immer öfters von Robotern ausgeführt, der Arzt oder die Ärztin sitzt am Bildschirm, von wo aus alles gesteuert wird. Ganze Häuser werden schon nicht mehr von Maurern, Zimmerleuten und Gipsern gebaut, sondern von ferngesteuerten Robotern. Und selbst die Kunst ist für die Künstliche Intelligenz kein Tabu mehr: Roboter malen Bilder, schreiben Bücher und komponieren ganze Musikwerke. Geht die Entwicklung im gleichen Tempo weiter wie in den vergangenen zehn Jahren, dann könnten die Transhumanisten tatsächlich Recht bekommen und der Mensch wäre eines Tages gänzlich überflüssig geworden. Doch wer und was treibt diese ganze Entwicklung überhaupt an? Wer und wann und weshalb hat uns Menschen den Auftrag gegeben, uns selber überflüssig zu machen? Die Antwort ist einfach: Alles hat damit angefangen, dass es ein Ziel gibt, mit dem alle einverstanden sind, das Ziel nämlich, alle Produktions- und Arbeitsläufe permanent zu „optimieren“, das heisst: immer schneller und billiger zu machen. Und sobald auch nur eine einzelne Firma, ein einziges Unternehmen damit angefangen hat, sind alle anderen gezwungen, es ihm gleich zu tun oder noch besser: es zu überflügeln, was wiederum dazu führt, dass das erste Unternehmen, das damit angefangen hat, sich noch etwas Raffinierteres als alle anderen einfallen lassen muss, um nicht auf der Strecke zu bleiben – das kapitalistische Konkurrenzprinzip, in dem jeder der Widersacher des anderen ist, ein Karussell, das sich naturgemäss immer schneller dreht und dabei nicht bloss eine endlos wachsende Menge an zunehmend überflüssigen Produkten herstellt, sondern auch eine zunehmende Zahl an Opfern, die das immer schneller werdende Tempo nicht mehr mitzuhalten vermögen. Und weil der arbeitende Mensch der grösste Kostenfaktor ist, geht es eben darum, mit immer weniger Menschen eine immer grössere Arbeitsleistung zu schaffen bzw. immer mehr Tätigkeiten, die bisher von Menschen erbracht wurden, an Roboter, Computer und Maschinen zu delegieren. Und so geht das immer weiter: Wenn Firma A ihre Häuser nur noch mithilfe von Robotern baut, müssen auch alle anderen Firmen ihre Häuser mit der Zeit mithilfe von Robotern bauen lassen, wenn nicht, wird ihr Konkurrenznachteil früher oder später so gross, dass sie auf der Strecke bleiben. Wenn wir daher diese Entwicklung, diesen „Transhumanismus“ nicht einfach widerspruchslos über uns hinwegrollen lassen und uns, als Menschen, überflüssig machen wollen, dann genügt es nicht, den Mahnfinger gegenüber dem einen oder anderen Exzess zu erheben. Es geht um etwas viel Grundlegenderes: Es geht darum, Arbeit, Produktion und Wirtschaft auf eine neue Grundlage zu stellen und das bisherige Konkurrenzprinzip, in dem jeder der Feind des anderen ist, durch das Prinzip der Kooperation und des Gemeinwohls zu ersetzen, nicht nur von Mensch zu Mensch, sondern auch von Unternehmen zu Unternehmen, von Land zu Land. Das schliesst technische Fortschritte ganz und gar nicht aus. Aber nicht in Form einer Dampfwalze, die ungefragt über uns Menschen hinwegrollt und uns in letzter Konsequenz überflüssig zu machen droht. Sondern in Form nützlicher Werkzeuge, die ein gutes Leben ermöglichen, und zwar weltweit. Um diese Transformation zu schaffen, braucht es nicht die Überwindung des Menschen, sondern, ganz im Gegenteil, seine ganze Phantasie, seine Kreativität, seine Sensibilität, seine soziale und praktische Intelligenz – genau all das, was niemals eine Maschine, ein Computer oder ein Roboter zu leisten vermögen!

Kostenloser ÖV: Keine Option für die Schweiz?

Jährlich fliessen fast zwei Milliarden Kantons- und Bundesgelder in den regionalen öffentlichen Verkehr. Auf diese Weise werden Angebote mit Bussen, Zügen, Schiffen, aber auch Seilbahnen in der ganzen Schweiz unterstützt. Das eingeschossene Geld ist bitter nötig: Von über 1400 Strecken, welche 2019 unterstützt wurden, rentieren gerade mal 18. Auf fast 500 Strecken decken die Einnahmen nicht einmal ein Drittel der Kosten. Die teilweise tiefen Kostendeckungsgrade führen nun dazu, dass der Bund 33 Verbindungen überprüft. Die Folge: Der Bund könnte aus der Finanzierung aussteigen. Im schlimmsten Fall droht gar die Einstellung von Strecken, falls Kantone das wegfallende Geld nicht selber einschiessen wollen.

(Tages-Anzeiger, 17. Februar 2020)

In Zeiten des Klimawandels und der Diskussion über die Zukunftstauglichkeit des privaten Automobils über Abstriche beim öffentlichen Verkehr nachzudenken, ist ein Anachronismus besonderer Art. Eigentlich müsste die Diskussion genau in die entgegengesetzte Richtung gehen: Die Attraktivität des öffentlichen Verkehrs müsste nicht geschmälert, sondern im Gegenteil gesteigert werden, am besten durch einen generellen Nulltarif und einen Verzicht auf jegliches Renditedenken. In Luxemburg ist die Benützung des öffentlichen Verkehrs seit diesem Jahr kostenlos. Weshalb sollte sich das, was sich Luxemburg leistet, nicht die viel reichere Schweiz nicht ebenso leisten können?